Читать книгу Der Gartenpavillon - Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 5
Prolog
ОглавлениеDie Bilder kamen nachts. Und mit ihnen die Geräusche und der Geruch. Nie würde sie diesen Geruch vergessen. Wurde der Traum erst einmal lebendig, schien der süße, klebrige Geruch überall zu sein. Schien er die Luft zu durchdringen, wie so viele andere Gerüche damals. Nach in der Wärme faulenden Früchten, nach verbrannten Kräutern aus den Straßenküchen oder nach Fisch auf dem Markt, der zu lange in der Verkaufstheke gelegen hatte.
Denn sie waren nahezu das Einzige, woran sie sich erinnerte. Die Gerüche. Und die flüchtigen Gesichter. Ihr Vater und ihre Mutter. Karen-Lis und andere, ihr unbekannte Personen, die miteinander verschmolzen und in neuer Gestalt wieder auftauchten, mit schrägen Augen, hohen Jochbeinen und platten Nasen. Und natürlich Agnes Ling.
Im Traum waren sie zusammen. Sie war fünf und Agnes sechs. Sie waren gleich groß und sahen sich auf gewisse Weise ähnlich mit ihrem dunklen Haar, ihren dünnen Armen und Beinen und ihren ovalen Gesichtern. Punkt, Punkt, Komma, Strich. Sie sah sie beide wie durch die Linse der Schmalfilmkamera, die im Gras zwischen ihnen lag. Sie gehörte ihrem Vater, und sie hatten sie sich ohne Erlaubnis ausgeliehen; besser gesagt, Agnes hatte das. Schnell wie eine Schlange hatte sie sie vom Regal genommen, als sie drinnen im Haus spielten. Sie wollten einen Film machen, verkündete Agnes und hatte sie mit dem Ausdruck angesehn, der sie immer gespannt und unruhig zugleich werden ließ, weil sie wusste, dass es kein Entrinnen gab.
Wie es irgendwo zwischen Traum und Wachzustand passieren kann, gewann das Wissen der Erwachsenen die Oberhand. Sicher, sie sahen sich ähnlich, doch es gab einen Unterschied. Sie spürte ihn, als sie in der Dämmerung im Garten ihrer Eltern saßen und mit Glaskugeln spielten, vergessen von den Erwachsenen und von der Ama, dem chinesischen Kindermädchen, das bestimmt mit dem Koch und dem Gärtner in der Küche saß und Mah-Jongg spielte.
Es waren nicht nur die Augen; Agnes’ schräge Schlitze im Gegensatz zu ihren eigenen weit offenen blauen Löchern. Es war auch nicht die Haut, denn im Licht der untergehenden Sonne schien auch ihre Haut einen gelblichen Schimmer angenommen zu haben. Es war etwas anderes. Etwas, das in die Vergangenheit zurück, aber auch in die Zukunft hineinreichte. Eine Art Bewusstheit über die eigene Bedeutung und die der Familie im großen Zusammenhang. Ein Wissen um die Wichtigkeit der Erinnerung durch die Generationen hindurch.
»Chinesen vergessen nie«, wie Vater immer sagte – und sie war sicher, dass er Recht hatte. Vater hatte immer Recht. Auf ihn konnte man sich verlassen. Er war wie ein großer warmer Punkt mitten in ihrem Leben, in dem das Gefährliche in jeder Ecke lauerte und sich in allen Schatten und im hereinbrechenden Dunkel versteckte. Vater war das Licht, und ohne ihn war alles schwarz. Ohne ihn gab es keine Kit.
Agnes stand auf, sie war der Glaskugeln müde, und Kit folgte ihr. Sie folgte Agnes immer. Das Haus lag in Sai Kung in den New Territories mit Aussicht über Berge und Bucht, und der Garten war ein Paradies aus Blumen und Bäumen, die in der feuchten Wärme gediehen. Ihr Vater hatte das Haus billig von einem Chinesen gekauft, dem es Unglück gebracht hatte. Das hatte er ihnen erzählt, genau wie er ihnen verboten hatte, zu dem Pavillon am Ende des Gartens hinunterzugehen, wo der Chinese auf Anraten eines Feng-Shui-Experten Spiegel an den Mauern angebracht hatte, um die bösen Geister des Hauses fortzulocken. Auch in dem Pavillon wohnte ein böser Geist, sagte ihr Vater immer. Hinter den mit Spiegeln verkleideten Mauern. Dort sollte er bleiben, und niemand durfte ihn hinauslassen, da sonst das Unglück über sie hereinbrechen würde. Kit hatte nie gesehen, dass jemand den Pavillon betrat oder sich ihm auch nur näherte. Nur Vater. Denn Vater wagte alles.
Agnes’ Mutter war Dänin. Die beiden Familien waren Nachbarn, und ihre Väter waren Geschäftspartner. Agnes war nur zur Hälfte Chinesin, aber Kit wusste, dass sie nie etwas vergaß, genau wie Vater gesagt hatte. Wenn jemand ihr etwas versprochen hatte, tat er gut daran, es zu halten, da er sonst ihren Ärger zu spüren bekam und sie lange nicht mit einem sprach. Und auch nicht mit einem spielte.
Agnes zog sie am Ärmel. Gebot ihr zu schweigen, als sie nachgab. »Komm mit. Es ist nicht gefährlich. Wir sagen es nur niemandem. Schwörst du?«
»Ich schwöre«, sagte Kit atemlos vor Spannung und hoffte, dass sie ihr Versprechen halten konnte. Sie wusste nur zu gut, wo die Freundin hin wollte, denn sie hatten darüber gesprochen, und Agnes platzte fast vor Neugier.
Agnes zog sie den ganzen Weg durch den großen Ziergarten der Familie, in dem Obstbäume ihre Arme wie Schatten gen Himmel streckten und Gardenien und Kamelien die Luft mit ihren Düften würzten. Jetzt konnte sie den kleinen Pavillon sehen, der unten am See lag, in dem, wie sie wusste, die Goldfische wohnten und wo es eine Brücke gab, auf der man stehen und sie herumschwimmen sehen konnte. Wenn man sich in die Nähe des bösen Geistes wagte.
Ein schwaches Licht strömte aus den unter dem Pagodendach gelegenen Fenstern des Pavillons. Die Spiegel an der Mauer warfen einen blanken Schein über das Wasser des Sees. Die Fenster standen offen bei der Wärme, sie konnte das Murmeln von Stimmen hören. Ein großer Stein und einige kleinere lagen als Dekoration davor. Agnes stellte sich auf den großen Stein und guckte durch das Fenster. So blieb sie einen Moment lang stehen. Dann führte sie die Kamera zum Auge, und Kit hörte den schnurrenden Laut, als sie zu laufen begann.
Bereits da schien der Duft aus dem Pavillon zu strömen, und Kit spürte eine Angst, die sie bisher nicht gekannt hatte. Als würde jemand einen Arm von drinnen herausstrecken und sie mit einer kalten Hand mit starken Fingern zu erdrosseln versuchen. Und genau da, in dem Augenblick, schwenkte die Kamera zu ihr hin und eine kurze Sekunde stand sie ganz still, starrte in ihr gefühlloses Auge und spürte die sich ausbreitende Kälte.
Agnes stieg von dem Stein hinunter und machte Kit ein Zeichen, dass sie an der Reihe war. Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht.
»Angsthase«, meinte Agnes spöttisch. »Komm schon.«
Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen. Wunderte sich jedoch über die Angst und versuchte erfolglos sich zu beruhigen. Es war doch nur ein Pavillon, nichts anderes. Ein Pavillon, in dem Spiegel die letzten Strahlen der Sonne einfingen und aus dem ein süßer, klebriger Duft gemischt mit leisen Stimmen ohne Worte strömte.
Sie machte einen Schritt auf den Stein zu. Schaffte es gerade noch, die Augen zu schließen, als könnte sie sich auf diese Weise schützen.
Agnes puffte sie in die Seite. »So. Guck endlich.«
Sie öffnete die Augen. Es brauchte eine Weile, bis sie sich an das dunkle Licht dort drinnen gewöhnt hatte. Aber dann war alles plötzlich lebendig und klar, und das Herz stand still, dessen war sie sich sicher, als der Anblick sie traf und sich zusammen mit dem Duft einen Weg bis dort hineinschnitt, wo nichts und niemand je zuvor gewesen war.
In dem Moment wusste sie, dass sie es getan hatte.
Sie hatte das Böse entfesselt.