Читать книгу Der Gartenpavillon - Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 6

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»Nun mach schon ein frohes Gesicht. Wir haben schließlich Weihnachten, verdammt noch mal.«

Ihr Vater zeigte auf den Stuhl ihm gegenüber. Kit setzte sich. Dachte, dass ihr nur Block und Plisseerock fehlten, um einer Sekretärin in einem amerikanischen Film zu gleichen. Einer von denen, die effektiv und diskret die Geschicke ihres Chefs lenken, ohne dass er es weiß, und die dafür sorgen, dass Probleme gelöst werden, lange bevor sie auf seinem Tisch landen.

Bei dem Gedanken musste sie beinahe lächeln. Als würde sie auch nur die kleinste Kleinigkeit lenken, wenn es um ihren Vater ging. Als würde sie seine Probleme lösen können. Sie, die nicht einmal mit ihren eigenen zurechtkam. Wie mit dem verdammten Traum, der immer noch irgendwo saß und an ihr nagte. Wie ein Schuh, der drückte.

Der Vater trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Eine seiner vielen rastlosen Angewohnheiten. Ständig schien er voller Energie, selbst nach dem Herzanfall, der ihn fast umgebracht hatte.

Er ließ sich nicht so einfach aus dem Weg räumen. Aber sie sah ihm die Müdigkeit an, und das war nicht verwunderlich. Es zermürbte jeden, wenn man im Stich gelassen wurde.

»Was ist los?«, blaffte er wie ein Polizist. »Hat es mit ihm zu tun, mit diesem Typen?«

»Du meinst Henrik.«

Er machte eine ausladende Armbewegung, wie um zu sagen, dass der Name gleichgültig war. Dass er ihn beinahe vergessen hatte. Aber sie kannte ihn besser. Wusste, wie weh es getan hatte, auch ihm.

»Das ist doch schon eine Weile her«, sagte sie abwehrend. »Es geht sehr gut ohne ihn.«

Ihr Vater warf ihr einen zweifelnden Blick zu. Eine Viertelstunde sah sie die Gebrechlichkeit darin, und sie wusste, dass sich der Zweifel nicht nur gegen sie richtete. Er versuchte, es zu verbergen, aber in diesem Blick lag so viel Enttäuschung. Er glaubte nicht, dass man es sehen konnte. Vielleicht war auch nur sie dazu in der Lage. Immer hatte sie seine Stimmung wie ein Seismograph messen können. Besser als ihre Mutter. Auch besser als Karen-Lis.

»Haben wir diese Versicherung bezahlt?«

Sein Ton war geschäftsmäßig geworden. Jetzt war sie nicht mehr die Tochter, die Liebeskummer hatte. Jetzt war sie die Mitarbeiterin, die Befehle auszuführen hatte. Sie war an solch plötzliche Identitätswechsel gewöhnt.

»Der Scheck ist gestern herausgegangen. Carsten hat ihn zur Post gebracht.«

»Carsten«, brummte er. »Gut. Ein bisschen wenig Fantasie, aber okay.«

Sie lächelte in sich hinein. »Wenig Fantasie« war in den Augen ihres Vaters die schlimmste Todsünde, sie kam direkt hinter Autoritätsgläubigkeit und Unwissenheit über die feineren Nuancen des Schachspielens. Das Gegenteil davon waren ein paar der Gründe, warum er Henrik gemocht hatte.

Sein Blick wanderte durch das Zimmer. Sie hatte sein Büro zu Hause heimlich dekoriert. Über dem Fenster hingen ein paar Weihnachtsmänner, im Fenster standen ein Weihnachtsstern und zwei Hyazinthen, und auf dem Tisch thronte ein von ihr selbst entworfenes Gesteck.

Sie öffnete die Schreibtischtür. Holte die Flasche mit dem Portwein und zwei Gläser heraus. Das war ihr Ritual. Immer vor Weihnachten, am letzten Tag in der Firma, saßen sie wie zwei Verschworene zusammen und genehmigten sich einen Drink.

Sein Blick blieb an Karen-Lis’ Bild hängen, das in einem Rahmen auf seinem Tisch stand. Sie wusste, was er nun dachte. Dass es Karen-Lis wäre, die jetzt hier sitzen würde, wäre sie im Lande. Ihm gegenüber, im vertrauten Gespräch. Zumindest so vertraut, wie ein Gespräch sein konnte, wenn man Erik Bennett hieß und tausend andere Dinge im Kopf hatte.

»Ich vermisse sie auch«, sagte sie.

Er zuckte leicht mit den Schultern. »Scheiße. Hauptsache sie ist glücklich, dort wo sie ist«, sagte er ohne Überzeugung.

Sie wünschte, ihn trösten zu können. Ihm die Freude zurückgeben zu können. Sie musste gegen den Drang ankämpfen, ihm die Arme um den Hals zu legen und ihm zu erzählen, dass er doch sie hatte.

Aber das ging nicht. Er wäre nur irritiert und würde sich ihr entziehen. Genauso wie er sie abfertigte, wenn sie ihm von dem Traum erzählte. »Du hast wirklich eine lebhafte Fantasie«, pflegte er zu sagen, und in dieser Verbindung war Fantasie offenbar keine wünschenswerte Eigenschaft. »Vergiss es, lass dich nicht von einem Traum tyrannisieren.«

Aber das tat sie. Sie ließ sich tyrannisieren. Denn sie war keine Karen-Lis und kein Henrik. Sie war Kit. Und die Angst vor etwas, von dem sie nicht wusste, was es war, ging ihr bis ins Mark.

Sie tat ihr Bestes, um zu vergessen. Aber der immer wiederkehrende Traum hatte eine beunruhigende Wirkung auf sie. Brachte sie für ein oder zwei Tage vom Kurs ab. Eigentlich hatte sie geglaubt, dass er verschwunden war. Dass er sich einfach aufgebraucht hatte. Aber er kam wieder, immer wieder. Manchmal nach langen Pausen, wie ein Virus, das im Körper kursierte und mit dem sie nicht fertig wurde.

Nach dem Gespräch mit ihrem Vater ging sie in ihr Atelier, das sie sich im Haus ihrer Großmutter eingerichtet hatte, nachdem sie ihr Studium an den Nagel gehängt hatte, um in der Firma ihres Vaters Geld zu verdienen. Sie nahm die Skulptur, die auf dem Tisch stand, kritisch in Augenschein, griff nach dem Ton und baute langsam die Form des Gesichts auf.

Von da, wo sie stand, konnte sie in den Garten der Großmutter sehen. Merkwürdig, dachte sie. Großmutter war seit fünf Jahren tot, aber der Garten, der das Haus der Familie in Nyborg umgab, war noch immer ihrer. Es hieß Großmutters Haus und Großmutters Garten, obwohl ihre Eltern jetzt alleine hier wohnten, seit sie und Karen-Lis von zu Hause ausgezogen waren.

Kit lächelte ein wenig bitter und musste sich korrigieren. Ausgezogen ist nicht gleich ausgezogen. Sie selbst war, um es kurz anzumerken, im Alter von dreiunddreißig Jahren gerade wieder eingezogen. Nur bis sie ihr Leben wieder im Griff hatte. Bis sie wieder ihren Weg gefunden hatte.

Jetzt konnte sie zumindest in Großmutters Garten sehen, anstatt in den Hof mit dem Spielplatz, auf den man aus Henriks kleiner Wohnung in dem Wohnblock sah. Sie guckte aus dem Fenster. Der Weihnachtssturm hatte sie überrascht und den verwilderten Garten mit seinen durcheinander stehenden Baumstümpfen, wild wachsenden Ästen und Luftwurzeln mit eisigem Regen durchpeitscht. Alles war durchweicht und farblos wie auf einem Schwarzweißfoto. Selbst das Gras hatte sich schlafen gelegt. Im letzten Sommer hatte Henrik es mit dem handbetriebenen Rasenmäher gemäht, der alt war und wie eine Nähmaschine klang. Er hatte auch Großmutters alten blauen VW repariert, der noch immer in der Garage stand und noch immer nach ihr und den Katzen roch.

Das Auto und das Gras. Das waren wohl seine letzten Dienste für die Familie gewesen, bevor er aus ihrem Leben verschwunden war.

Ihre Bewegungen waren schneller geworden. Heftiger. Geduldig ließ sich der Ton klatschen, formen und in die Gestalt ihrer Wut pressen, die bis in ihre Finger gesickert war.

Henrik hatte sie im Stich gelassen. Sowohl sie selbst als auch ihren Vater. Hatte der Familie, die ihn aufgenommen hatte, den Rücken zugekehrt. »Wie ein Sohn«, hatte ihr Vater immer gesagt, bevor Probleme aufgetaucht waren und Henrik sich immer weiter zurückzog. »Er ist für mich wie ein Sohn. Und irgendwann wird er wohl auch mein Schwiegersohn.« Mit zufriedenem Blick hatte er das gesagt. Und sie hatte das Gefühl gehabt, plötzlich zehn Zentimeter in der Sekunde zu wachsen.

Aber es hatte nicht gedauert. Nichts war von Dauer, hatte sie mit der Zeit gelernt. Alle verschwanden früher oder später. Henrik. Karen-Lis. Großmutter. Sie waren nicht mehr hier. Waren nicht mehr Teil ihres Lebens.

Ärgerlich entfernte sie etwas von dem Ton. Es war zu viel. Wirkte falsch. Könnte man nur Gedanken und Gefühle so leicht formen, wie man Ton modellieren konnte. Hier etwas hinzufügen und da etwas wegnehmen, bis das Ergebnis genau passte.

Aber noch konnte sie ihre Gedanken nicht steuern. Und in dem Moment kam der ketzerischste von allen angeflogen und bohrte sich in ihr Gehirn.

Ihr Vater war geschwächt, das war nicht zu übersehen. Die Probleme setzten ihm zu; sowohl Karen-Lis als auch Henrik und bestimmt noch etwas in der Firma, das sich ihrer Kenntnis entzog. Die Enttäuschung in seinem Blick, in seiner gesamten Haltung, war das Schlimmste daran. Das, was zu sehen, am meisten wehtat.

Der Gedanke bohrte sich beharrlich fest. Genau wie die Angst, plötzlich und unerwartet jemanden zu verlieren, Panik hervorpeitschen konnte. Vielleicht war es ein Naturgesetz, dass alle einen früher oder später im Stich ließen. Vielleicht war es Teil des Mensenseins, dass Liebe plötzlich vergehen und verschwinden konnte, sich verändern konnte, wie wenn sie einen Mund oder eine Nase umgestaltete und das vorher bekannte und geliebte Gesicht fremd und beunruhigend wurde.

Sie wollte sich zusammenreißen und glitt dann doch ab ins Selbstmitleid, sie war sich dessen bewusst. Sie wünschte, dass es anders wäre. Dass sie stärker wäre. Aber ihr fehlte die Kraft, und sie wusste nicht, woher sie sie nehmen sollten.

Er schenkte sich noch einen Portwein ein. Das konnte nicht schaden.

Erik stieß heftig den Stuhl zurück. Dachte einen Augenblick an die Jahre in Hongkong und das Büro im St. George-Gebäude. Die Zeiten waren vorbei, als er nur die Beine auf den Tisch schwingen musste und die Welt allein dadurch steuern konnte, dass er aus dem Fenster sah und die Ideen aufmarschieren ließ. Sie einließ, wenn sie Schlange standen. Genau das hatten sie getan. Waren nahezu auf ihn eingestürmt, dass er Schwierigkeiten hatte eine Wahl zu treffen.

Aber das war vorbei. Heute würde er viel für eine einzige brauchbare Idee geben, an wen er sich jetzt wenden sollte.

Er seufzte. Beugte sich mühevoll hinunter und hob das Schachspiel auf. Das elektronische, das Kit ihm geschenkt hatte, als Henrik die Familie verlassen hatte. Weil er ihr Leid getan hatte, das wusste er, und es irritierte ihn. Lieber sollte sie ihre ganze Nervosität über Bord werfen und anfangen, ihr Leben zu leben. Aber so war sie nun einmal, Kit. Kaum zu glauben, dass sie seine Tochter war, aber er liebte sie so sehr. Kit war vorsichtig und nervös veranlagt wie ihre Mutter, hatte jedoch sein dunkles Aussehen. Karen-Lis war es, die sein Draufgängertum geerbt hatte. Seinen Mut. Kit hingegen konnte manchmal Angst vor ihrem eigenen Schatten haben, und für Stress und Druck war sie vollkommen ungeeignet. Aber das hatte er immer gewusst. Und darauf Rücksicht genommen, nicht zu vergessen. Manchmal vielleicht zu sehr.

Er stellte das Spiel auf. Warum auch nicht. Wenn niemand anderer da war, musste man eben gegen einen Computer spielen. Wenn es kein Gesicht gab, auf dem man lesen, keinen Feind, den man studieren konnte, musste man sich mit dem Nächstbesten begnügen.

Das Wort Feind ging ihm im Kopf herum, während er seinen Zug überlegte. Genau das war das Schwierige an dieser verdammten Situation. Der Feind hatte kein Gesicht. Der Feind war feige und versteckte sich hinter der Maske der Anonymität. Genau wie der Computer, weiß Gott.

Er hatte das Spiel ein paar Tage stehen gelassen. Konnte nur ein paar Züge durchführen, bevor es ihn zu langweilen begann. Er musste einräumen, dass er das Gesicht vermisste. Henrik vermisste, warum den Gedanken nicht denken. Aber trotzdem war er nicht wie Kit, die sich im Stich gelassen fühlte und sich in sich selbst zurückzog. Das war nicht seine Art. Wäre da nicht das Alter, hätte er die Schultern gezuckt. Herrgott noch mal, man verliert jemanden, und man gewinnt jemanden. So war das Spiel. Aber das Alter schien ihn zu verändern. Schien ihn auf den verkehrten Weg zu ziehen und weich zu machen. Er musste aufpassen. Bevor er sich versah, würde er womöglich noch seine Sünden bereuen. Gott bewahre! Vor solchen Menschen hatte er nie Respekt gehabt. Man sollte mit den Stiefeln an den Füßen sterben, hatte er immer gesagt. Mit Reue hatte er sich nie abgegeben. Er hatte damit gerechnet, die ganze Strecke durchzuhalten, auch wenn das Alter herannahte. Was es ja rein faktisch bereits getan hatte. Aber er hatte überlebt, als das Herz ihn gewarnt hatte.

Er machte seinen Zug mit einem der Läufer. Trank von dem Portwein und dachte ärgerlich, dass es eigentlich egal war. Nicht wie damals, als er über Kraft und Schnelligkeit verfügte. In Wirklichkeit war das hier nicht er. Es war eine Hülse von ihm, die hier saß und mit einem verdammten Computer Schach spielte.

Eine Weile dachte er über die Reue nach. Vielleicht gab es doch etwas, das er gerne aus dem inneren Strafregister gelöscht hätte. Nur eine einzige Sache. Keine schlechte Bilanz für ein ganzes Leben. Aber es war unmöglich, und er war Manns genug, damit zu leben.

Der Computer piepte und machte seinen Zug. Wie vorauszusehen, bewegte er den Turm auf seinen Läufer zu. Vielleicht hatte er doch eine Chance.

Er richtete sich auf. Noch war nicht alles verloren. Es war lange her, und seitdem hatte er nichts mehr gehört. Lange her, dass die Drohung aufgetaucht war, sein Leben zu zerstören und ihn schachmatt zu setzen. Vielleicht war es jetzt vorbei. Vielleicht war alles nur eine Täuschung, oder vielleicht konnte er sich freikaufen, das war auch eine Möglichkeit. Wenn er den Feind nur sehen könnte.

Er dachte eine Weile nach. Versuchte in die Zukunft zu denken. Drei Züge oder weiter. Aber er war nicht wie in den alten Tagen, vor drei Monaten, als Henrik und er stundenlang vor Zimmermanns antikem chinesischem Schachspiel mit den geschnitzten Figuren aus Elfenbein und Ebenholz sitzen konnten. Damals hatte er geglaubt, auf dem Gesicht seines Gegners lesen zu können.

Nun ja, vielleicht hatte er Henrik beim Schach besiegt. Aber er musste zugeben, dass Henrik zuletzt auf seinem Gesicht besser lesen zu können schien als er auf Henriks. Als wüsste er etwas, das ihm nicht zustand.

Erik Bennett seufzte. Versuchte noch einmal, nach vorn zu schauen. Drei Züge voraus zu sein. Aber vor seiner Nase schien eine Mauer zu stehen. Und hinter der Mauer lauerte der Feind.

Er packte das Spiel zusammen und leerte sein Glas.

Der Gartenpavillon - Skandinavien-Krimi

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