Читать книгу Der Gartenpavillon - Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 16

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Das Geräusch von Messern und Gabeln, die gegen Porzellan schlugen, verwob sich zu einem anonymen Teppich.

Die Kantine des Krankenhauses war genauso unpersönlich, wie es solche Kantinen immer waren. Sterile Umgebung mit funktionellen Möbeln; Linoleumboden und Kunst an den Wänden, die nichts von den Personen dahinter preisgab, nicht mehr war als strategisch platzierte Farbkleckse auf weißen Rechtecken. Das Essen war genauso. Nicht schlecht und auch nicht gut.

»Er war wach«, sagte Kit und biss in ihr Käsebrot. »Aber er hat nichts gesagt. Nur dagelegen und in die Luft gestarrt.«

Karen-Lis trank aus dem Glas mit dem Saft. Kit beobachtete sie. Und spürte, wie es sie ein wenig erleichterte, ein paar Worte zu reden. Ihn zu erwähnen.

»Wie ging es ihm sonst? Ich meine, bevor das passiert ist?«

Über Karen-Lis’ Wesen lag heute eine gewisse Vorsicht, notierte sich Kit im Stillen. »Schlecht. Du bist lange weg gewesen.« Sie suchte. Ihr fehlten die richtigen Worte und sie musste sich mit einem Ersatz begnügen. »Er und Mutter haben nichts gesagt. Du kennst sie ja. Aber da war ein Loch. Vater hat jeden Tag die Zeitung von vorne bis hinten gelesen und nach deinen Artikeln gesucht. Sie manchmal auch ausgeschnitten. Er hat sie sogar in ein Buch geklebt! Stell dir das mal vor.«

Karen-Lis ließ nicht im Geringsten erkennen, dass sie sich etwas vorstellte. Aber sie nickte. »Dann muss er wirklich verzweifelt gewesen sein«, sagte sie.

Kit meinte eine Weichheit in der Stimme zu erahnen. Sie schob das Käsebrot weg, holte ein Taschentuch aus der Tasche und schaffte es gerade noch vor dem Nieser. »Elterliche Loyalität ist offenbar grenzenlos«, schniefte sie.

»Mit Schwestern ist das womöglich anders«, sagte Karen-Lis.

Jetzt lag etwas Ängstliches in ihrem Blick. Gegen ihren Willen spürte Kit, wie das Gefühl von Liebe sich in ihr ausbreitete.

Geschwisterliebe, die sich ihrer Kontrolle entzog. Konnte man denn nichts in diesem Leben selbst bestimmen?

»Was ist passiert? Warum bist du plötzlich aus unserem Leben verschwunden, als wir dich am meisten gebraucht haben? Wie konntest du ihnen das antun?«

Sie wollte ihr keine Vorwürfe machen. Wünschte, es lassen zu können.

Karen-Lis stellte leise eine Gegenfrage: »Und dir, oder? Warum fragst du mich nicht danach? Hasst du mich?«

Kit wurde von einer Woge aus Gefühlen überrollt, einer Mischung aus Trauer und Verlust und der Erinnerung daran, wie sie sich früher gegenseitig gestützt hatten. Aber vielleicht war es in Wirklichkeit sie, die am meisten gestützt worden war.

»Du bist meine große Schwester. Wir sollten immer aufeinander aufpassen. Wir sollten immer die Verantwortung teilen und da sein, wenn es schwer war. Nach Großmutters Tod hättest du anders handeln können, was ich nicht konnte. Sie waren immer mit dir beschäftigt. Nach dir haben sie sich immer gesehnt.«

Karen-Lis legte vorsichtig ihre Hand auf Kits. So hätte es sein sollen. Eine Hand, die sich über Unterschiede und Zeit und Orte hinweg ausstreckt. Sie hätte da sein sollen, um sie festzuhalten, als nach Großmutters Tod die Trauer von ihnen Besitz ergriff; als ihr Vater den ersten Herzanfall hatte; als er anfing, in Zirkeln um sich selbst zu kreisen und Einklebebücher anzufertigen; als er seine älteste Tochter nie mit vielen Worten erwähnte, weil er Angst vor den Tränen hatte, für die er sich schämte. Was brachte es, eine Tochter zu haben, wenn sie nicht da war?

»Warum vergisst du dich die ganze Zeit?«, fragte Karen-Lis.

Kit zuckte mit den Schultern. »Ich vergesse nichts und niemanden. Aber ich habe vor allem an sie gedacht. Ich habe gesehen, wie sie jeden Tag kleiner und kleiner geworden sind. Hast du gesehen, wie dünn Mutter geworden ist?«

Sie spürte die Stimme, die zu den PH-Lampen hinaufstieg. »Hast du gesehen, dass Vater ganz grau geworden ist? Siehst du überhaupt etwas anderes als dich?«

Karen-Lis zog ihre Hand zurück. Kit sah, wie das Licht auf ihrer Haut und mit ihren Gesichtszügen spielte. Sie sah den feinen Winkel der Nase und wie die Kurven des Kinns leicht kantig geworden waren; wie die Lippen sich spitzten, als sie von dem Saft trank. In den Falten um die Mundwinkel erkannte sie die beharrlichen Züge ihres Vaters.

»Ich bin nicht so wie du«, sagte Karen-Lis schließlich. »Ich habe niemandem etwas Böses gewollt. Es war meine Art, mir einen Inhalt zu schaffen. Ich musste für eine lange Zeit weg. Und mich fern halten.«

»Das war also Absicht.«

»Natürlich war das Absicht. Aber ich konnte nicht anders. Ich war dabei, von euren Erwartungen und euren Forderungen nach Verantwortung und der Familie hier und der Familie da erstickt zu werden. Zum Schluss habe ich mich selbst nicht mehr gespürt.«

Kit lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie hörte die Worte, aber sie verstand sie nicht. »Geht es wirklich darum? Sich selbst zu spüren? Und ich habe geglaubt, es ginge um die Liebe zu den anderen und darum, das Seine im Leben zu tun.«

Karen-Lis lächelte schwach, »Vielleicht habe ich gehofft, beides kombinieren zu können. Aber offenbar hat das nicht funktioniert.«

»Egoismus. So nennt man das wohl.«

Karen-Lis schien zu überlegen, ob sie empört sein oder sich dafür entscheiden sollte, es humorvoll zu nehmen. Schließlich lächelte sie quer über den Tisch.

»Manchmal ist das der einzige Weg nach vorn.«

Ein Klirren ertönte, als einer Dame an einem anderen Tisch die Gabel auf den Boden fiel. Das Geräusch schien sie aufzurütteln. Kit dachte an ihren Vater und an die rote Karte. Die Worte kamen, ohne dass sie es eigentlich wollte.

»Ich glaube, dass es jemand auf Vater abgesehen hat. Jemand, der ihm Böses will. Ich versuche herauszufinden, was vor sich geht.«

Einen Moment saß Karen-Lis ganz still da. Das Lächeln war verschwunden, abgelöst von Sorge. Sie beugte sich wieder vor und begegnete Kits Blick. Plötzlich begriff Kit, dass die Sorge ihr galt.

»Lass das, Schwester«, sagte Karen-Lis langsam, und Kit hatte das Gefühl, plötzlich wieder sechs Jahre alt zu sein und nach einem weiteren bösen Traum von dem mit Spiegeln verkleideten Pavillon Trost bei ihrer Schwester zu suchen.

»Lass es sein. Du machst dich nur unglücklich.«

Sie dachte an die letzten Worte ihrer Schwester, als sie auf der Autobahn zurück nach Nyborg und zu ihrer Verabredung fuhr. Fragte sich, was Karen-Lis gemeint hatte, tat es dann jedoch als unwichtig ab. Das war typisch Karen-Lis, plötzlich hereingeschneit zu kommen und alles bestimmen zu wollen, obwohl sie kein Teil der Familie mehr war. Denn das war sie nicht. Nicht richtig. Sie hatte kein Gespür für das, was vor sich ging, wusste nicht mehr, wie sie dachten. Konnte sich nicht in ihrer Welt und ihren Alltag versetzen. Sie war zu Besuch, nichts anderes. Es nützte nichts, sich zu öffnen und die alte Vertrautheit zuzulassen. Sie würde schwuppdiwupp wieder aus ihrem Leben verschwunden sein, und man selbst blieb mit abgeschnittenen Nerven und Gefühlen, die in ihrer Nacktheit herumbaumelten, zurück.

Ein kräftiger Windstoß rüttelte an der Karosserie. Kit hielt das Lenkrad von Großmutters altem Volkswagen fest, als sie Richtung Innenstadt abbog. Es war noch immer mit ihrem Lammfell bezogen, das da, wo die Hände zugepackt hatten, bis auf die Haut hinunter abgenutzt war. Sie vermisste diese Hände. Erinnerte sich an jeden einzelnen gebogenen Finger und an den Saphirring, der an der rechten Hand glitzerte. Sie musste daran denken, das Fell einmal umzudrehen, damit man wieder weiche Wolle anfasste.

Es schneite jetzt stark. Millionen von Flocken schienen beschlossen zu haben, zum Angriff auf sie überzugehen, und sie überlebte nur durch den Panzer der Frontscheibe. Sie parkte auf dem Markt in der Mitte der Stadt, hängte sich die Tasche über die Schulter und ging schaudernd durch den Schnee, der auf dem Asphalt zu Pfützen schmolz oder auf Treppen und Hausvorsprünge geweht wurde.

Sie zog sich den Hut extra tief über die Ohren und hielt ihn fest. Vielleicht war es doch gut, dass Karen-Lis sie gewarnt hatte. Sonst hätte sie vielleicht weitergemacht. Hätte vielleicht die Karte mit den chinesischen Schriftzeichen aus der Tasche gezogen und sie eingeweiht. Und sie hatte das Gefühl, dass es zu früh war. Karen-Lis verdiente die Vertrautheit nicht. Sie hatte sich selbst ins Abseits manövriert.

Die Frau in dem chinesischen Restaurant hatte am Telefon zuerst ein wenig misstrauisch geklungen. Als glaubte sie, zum Narren gehalten zu werden. Aber es passierte natürlich auch nicht jeden Tag, dass jemand sie bat, einen chinesischen Text zu übersetzen, sodass Kit schließlich einen Tisch reserviert hatte. Sie hatte Henrik gefragt, ob er mitkommen wolle, aber er hatte ihr mitgeteilt, er sei heute beschäftigt.

Kurz wie ein Windstoß durchfuhr sie Panik. Vielleicht zog er sich bereits wieder zurück. Vielleicht hatte er das Gefühl, seine Pflicht getan zu haben, jetzt, wo ihr Vater stabil und Karen-Lis nach Hause gekommen war. Vielleicht hätte sie ihn nicht drängen sollen. Hätte den Bruch nicht wieder erwähnen sollen.

Während sie ging, drückte sie die Tasche an sich. Das Recht war auf seiner Seite. Er hatte sein eigenes Leben, wie er selbst gesagt hatte. Warum ihn in etwas hineinziehen, worin er lieber nicht hineingezogen werden wollte? Sie fischte ein Taschentuch aus der Tiefe ihrer Manteltasche hervor. Musste stehen bleiben, während sie nieste. Verdamm, warum war sie so sensibel. Zum Teufel mit der Abhängigkeit. Wenn sie sich doch befreien könnte wie Karen-Lis. Wenn sie sich doch damit begnügen könnte, ihr eigenes Leben zu leben und nicht das der anderen, dann würde sie vielleicht auch nicht so abschreckend wirken. Denn aus diesem Grund hatte sie ihn doch verloren. Das wusste sie genau. Weil sie die Tochter ihres Vaters war. Weil die Familie sie mehr brauchte als Henrik. Weil sie auf den Pausenknopf drücken konnte, wenn es um ihn ging. Aber nicht, wenn es um die Familie ging.

Das chinesische Restaurant war wie so viele seiner Art. Rote Lampen aus Reispapier mit ebenso roten Seidenfransen hingen von der Decke herunter; die Wände schmückten Paneele mit Feuer spuckenden Drachen und angreifenden Löwen, und auf den schwarzen Lacktischen lagen rote Tischdecken mit ähnlichen Motiven. Das Tagesgericht war ein Mittagsbüfett für 69 Kronen.

Sie bestellte scharfsaure Suppe und Schweinefilet in schwarzer Bohnensauce aus der Menükarte. Als die Bedienung mit der Suppe kam, fragte sie nach der Besitzerin, die kurz darauf aus dem hinteren Teil des Restaurants auftauchte.

Die Frau war in den mittleren Jahren, hatte aber die Figur eines Kindes. Vorsichtig näherte sie sich Kits Tisch. »Sie haben angerufen?«

Kit lächelte. Stand auf und gab ihr die Hand. »Kit Bennett.«

Sie zeigte auf die dampfende Schale auf dem Tisch. »Leckere Suppe.«

Die Frau lächelte zurück. Feine Runzeln überzogen ihr Gesicht. »Die meisten nehmen das Büfett.«

Kit zog ihr einen Stuhl vor und nahm selbst wieder Platz. Sie griff nach der Tasche und holte die Karte heraus. Öffnete sie und reichte sie der chinesischen Frau, die zuerst verwirrt auf die Zeichen guckte. Dann schien ihr Gesicht plötzlich aufzuleuchten.

»Goldener Drache«, sagte sie entzückt. »Wie mein Onkel.«

»Ihr Onkel? Ich verstehe nicht.«

Die Chinesin schwenkte die Karte in der Luft. »Mein Onkel ist ein Goldener Drache«, sagte sie und wiederholte die Worte auf Chinesisch.

»Ein Goldener Drache«, sagte Kit. »Ist das auf Kantonesisch oder Mandarin-Chinesisch geschrieben?

Wieder schien die Frau sie nicht zu verstehen. Sie schüttelte den Kopf. »Alles Chinesisch ist quasi gleich. Wenn man es schreibt.«

Ihr Vater hätte das natürlich gewusst. Sie selbst hatte alles über chinesische Schrift vergessen. Einmal hatte sie die Sprache gesprochen; jedenfalls so, dass sie mit den anderen Kindern spielen konnte. Sie wusste, dass die meisten Hongkong-Chinesen Kantonesisch sprachen.

Kit lächelte. »Was bedeutet das? Goldener Drache ... Wie Ihr Onkel, sagen Sie?«

»Der Drache ist ein sehr glückliches Zeichen. Das glücklichste Zeichen ist der Goldene Drache. Es gibt fünf verschiedene Drachen und zwölf Monate im Jahr. Fünf mal zwölf sind sechzig. Immer wenn sechzig Jahre vergangen sind, wird ein Goldener Drache geboren. Dieses Jahr ist so ein Jahr.«

»Jetzt? Das Jahr 2000?«

Die Chinesin nickte. Kit begann zu verstehen. Und ärgerte sich, dass sie den chinesischen Kalender aus der Frauenzeitschrift fortgeworfen hatte, weil sie sich nicht für Sternzeichen interessierte, da sie solche Sachen für Zeitverschwendung hielt.

»Ihr Onkel wird dieses Jahr sechzig Jahre alt?«

Die Frau lächelte. »Großes Fest.«

»Goldener Drache«, wiederholte Kit leise. Das konnte nichts mit ihrem Vater zu tun haben, der einundsechzig war. Es musste etwas anderes bedeuten. Eine andere Person betreffen.

Die Bedienung kam mit dem dampfenden Hauptgericht, und die Frau erhob sich und verneigte sich leicht.

»Tausend Dank«, sagte Kit. »Sie waren mir eine große Hilfe.«

Sie ließ die Bedienung die leere Suppenschale mitnehmen.

Als sie wenig später auf dem Weg zurück zu ihrem Auto war, fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, auf die Toilette zu gehen. Sie entschloss sich, in einem nahen Café einen Tee zu trinken. Es wehte noch immer, aber der Schneefall hatte aufgehört, sodass nur noch vereinzelte Flocken auf den Boden fielen.

Im Inneren des Cafés roch es nach nassen Mänteln und vielen Menschen. Es war der dritte Weihnachtstag, und die Leute hatten offenbar genug vom Familienleben und waren in die Stadt gegangen. Tüten mit Geschenken standen gegen die Tische gelehnt und zeugten davon, dass sie in einen großen Umtauschtag geraten war.

Sie hatte sich gerade an den Tresen gelehnt und einen Tee bestellt, als sie eine wohl bekannte Stimme über den Lärm hinweg erreichte. Sie drehte sich um. Henrik saß an einem der kleinen runden Tische, zu einer blonden Frau hingebeugt, die sich an seinen Arm klammerte. Jetzt sah er auf. Sie wollte wegblicken, konnte aber nicht. Ihre Augen begegneten sich irgendwo mitten im Raum, und sie spürte, wie sie unter dem Mantel zu schwitzen begann. Sie brauchte Luft.

»Bitte. Sechzehn Kronen.«

Der Barkeeper setzte ihr den Tee vor die Nase. Mit zitternden Händen zog sie das Portemonnaie aus der Tasche. Sie gab ihm zwanzig Kronen und stürzte aus der Tür.

Der Gartenpavillon - Skandinavien-Krimi

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