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Die Wärme stand drückend im Raum. Man hatte den Eindruck, als wolle der Sommer nie enden, dachte Wagner, zog seine Jacke aus und hängte sie über die Stuhllehne. Er entledigte sich auch der Krawatte und legte sie vor sich auf den Tisch. Obwohl die Fenster nach der Pressekonferenz geöffnet worden waren, war die Luft im Konferenzsaal noch immer drückend, und die Feuchtigkeit näherte sich der hundert-Prozent-Marke.

Er wartete geduldig, während das Team sich nach und nach einfand. Ivar K und Eriksen brachten Thermoskannen mit Kaffee mit, Jan Hansen Teilchen und eine Tüte mit Himbeerschnitten. Petersen holte Geschirr aus der Kantine. Der junge Kristian Hvidt legte die Mappe mit dem Bericht der Technik vor Wagner auf den Tisch. Er begann langsam darin zu blättern, während das Team Tische und Stühle zurechtrückte und die Plätze um den Haupttisch einnahm.

Fotos der toten Frau, sowohl aus dem Hafen als auch auf dem Stahltisch der Pathologie, sprangen ihm von den in Plastikhüllen steckenden Seiten entgegen. Er blendete die Geräusche der Kollegen aus und konzentrierte sich auf die Tote, auch wenn etwas in ihm sich dagegen wehrte. Wieder häuften sich die Fragen in seinem Kopf, wie sie das seit Samstagnacht ständig taten. Sie war so jung, vielleicht nicht älter als achtzehn Jahre. Ein Mensch, der noch das ganze Leben vor sich hatte. Wie hieß sie? Wo war sie aufgewachsen, wo hatte sie ihre Kindheit und ihre kurze Jugend verbracht? Wer war der Vater ihres Kindes? An den fülligen Lippen sah man, dass sie gerne gelacht hatte, glaubte er zu erkennen. Wie hatte ihr Lachen geklungen? Schön und melodisch? Oder hart und leicht verbittert, vielleicht weil ihr Leben kein Zuckerschlecken gewesen war?

Wagner nahm eine Tasse mit Kaffee entgegen und trank widerwillig den ersten Schluck, als wäre es eine bittere Medizin.

Er kannte das Procedere in- und auswendig, und vielleicht fiel es ihm deshalb jedes Mal schwerer. Um die Ermittlungsarbeit gut zu machen, musste er den Toten einen Weg in sein Inneres finden lassen, wo er den Verlust und die Tragödie spüren konnte und wo das Rätsel des Todes ihn vereinnahmen würde, Tag und Nacht. Es tat weh, und Ida Marie würde wieder einmal an die Peripherie seines Lebens geschleudert werden. Sie wusste das und hatte sich stets damit abgefunden. Würde sie das auch diesmal tun?

Er zwang sich erneut, die Bilder zu betrachten. Bei einem Foto handelte es sich um eine Ausschnittsvergrößerung des Unterleibs der Frau und des quer verlaufenden Schnitts. Fremde Hände hatten sich an ihr zu schaffen gemacht und einen Säugling aus ihrem Körper geholt. War sie bei dem Kaiserschnitt bei Bewusstsein gewesen? Hatte sie ihr Kind noch gesehen? Hatte sie gewusst, dass sie sterben musste?

Ivar Ks Stimme rief ihn gnädigerweise ins Hier und Jetzt zurück.

»Wie ist es gelaufen mit den Raubtieren?«

Wagner zuckte leicht mit den Schultern.

»Ganz gut. Jetzt bleibt uns nur abzuwarten, was bei der Veröffentlichung des Fotos herauskommt.«

Hansen griff nach einer Himbeerschnitte und schwenkte sie in der Hand.

»Stellt euch einmal vor, man sieht jemanden, den man kennt, so in der Zeitung. Das muss furchtbar sein.«

Hansen war empfindsamer, als der kräftige Körper mit den Bodybuildermuskeln und der glatt rasierte Schädel vermuten ließen, dachte Wagner wie schon so oft und wusste, was jetzt kommen würde. Ivar K, Hansens ewiger Gegenspieler im Team, kratzte sich die Bartstoppeln und starrte den Kollegen an.

»Feinfühligkeit hilft uns nicht weiter.«

Wagner sah Hansens verletzte Miene und entschloss sich einzugreifen. Sie durften um alles in der Welt die Ermittlungen nicht mit irgendeinem dummen, unter der Oberfläche schwelenden Konflikt vergiften.

»Es dürfte doch sehr unwahrscheinlich sein, dass ein dänisches Elternpaar die Zeitung aufschlägt und das Bild sieht. Wie alle wissen, haben wir Gott und die Welt kontaktiert, und niemand Passender ist vermisst gemeldet. Wir haben uns auch in allen Krankenhäusern und Privatkliniken des Landes umgehört. Dieser Kaiserschnitt wurde in keiner Klinik vorgenommen.«

»Wo zum Teufel dann?«, fragte Ivar K und nahm Witterung auf, als schwebte die Antwort irgendwo in den Staubpartikeln. »Wo lässt man einen Kaiserschnitt vornehmen, ohne registriert zu werden? Ihr sagt doch, dass sie nicht aus dem Ausland gekommen sein kann.«

Petersen schüttelte den Kopf.

»Nicht laut der Gerichtsmedizin. Das dürfte nahezu unmöglich sein, wenn man den Todeszeitpunkt bedenkt.«

Während Eriksen Kringel auf seinen Block zeichnete, fügte er hinzu:

»In diesem Fall hätte man sie unmittelbar nach ihrem Tod hierhergebracht haben müssen, zum Beispiel aus Deutschland. Das ist ziemlich unwahrscheinlich. Der Sicherheit halber sollten wir jedoch Kontakt zu den deutschen Krankenhäusern direkt hinter der Grenze aufnehmen. Und zu denen in Schweden.«

Wagner nickte und fragte sich, ob Eriksen auch Verwandte bei der Polizei in Deutschland und Schweden hatte. Seine Familie war so groß, dass er sowohl bei der Dienststelle in Ringkøbing, als auch in Århus und Kopenhagen Brüder und Vettern hatte.

»Was ist überhaupt wahrscheinlich?«, fragte Ivar K und streckte die langen Beine aus, während er wie immer mit dem Stuhl in einem gefährlichen Winkel nach hinten kippte.

Die Frage war wichtig. Sie berührte etwas, das Wagner nicht gerne zugab, doch hin und wieder musste man auf die gängigen Vorurteile zurückgreifen, um eine Antwort zu finden. Dieser Gedanke ging ihm durch den Kopf, während er sich zum hundertsten Mal gelobte, nie mehr den Kaffee aus der Kantine zu trinken, der ihm immer auf den Magen schlug.

»Ich schätze mal, dass wir es hier nicht mit Herrn oder Frau Jensens Tochter zu tun haben, die zufällig hinter dem Abfallcontainer gelandet ist.«

Er schob die Kaffeetasse mit einer Grimasse zur Seite und ließ seinen Blick über die Versammlung schweifen. Er hatte ihre volle Aufmerksamkeit. Selbst Ivar K hatte aufgehört zu kippeln und saß in Zuhörposition da, die Arme auf den Tisch gestützt.

»Ich denke, wir sollten nach einem Mädchen mit Verbindung zum Untergrundmilieu suchen«, sagte Wagner. »Wenn niemand sie gekannt haben will, gibt es sie hier im Land vielleicht gar nicht. Ich meine offiziell, in den Archiven oder im Computer.«

»Das heißt, sie hat sich illegal hier aufgehalten?«, schlug Petersen vor. »Vom Aussehen her könnte man auf ein östliches Land tippen.«

»Eine Hure?«, fragte Ivar K, der die Dinge immer direkt beim Namen nannte. »Ein Massagemädchen aus Weißrussland? Von denen gibt es so viele, dass man die Schweine mit ihnen füttern kann«, fügte er mit Kennermiene hinzu.

»Werden Huren schwanger?«, fragte Kristian Hvidt unschuldig und beeilte sich fortzufahren, als er sah, wie Ivar K die Augenbrauen hochzog und zu einer sarkastischen Antwort ansetzte. »Das gehört natürlich zum Berufsrisiko, aber die treffen doch Vorkehrungen oder lassen eine Abtreibung vornehmen?«

»Vielleicht«, sagte Wagner vorsichtig. »Da gibt es viele Möglichkeiten.«

Es gab überhaupt viel zu viele Möglichkeiten, und das wurmte ihn vielleicht am meisten. Die Frau konnte alles sein, angefangen bei einem illegalen Flüchtling bis hin zu einer Touristin. Sie konnte irgendwo im Land gearbeitet haben oder auf der Durchreise gewesen sein, aber wer reiste schon hochschwanger?

Während sie die Arbeitsteilung und die anstehenden Aufgaben durchgingen, fragte er sich, welche Konsequenzen der Fundort der Leiche für die Stadt haben würde. Er hatte schon auf der Pressekonferenz bemerkt, dass die Journalisten immer wieder auf die Einwandererthematik zurückgekommen waren.

Selbst Dicte Svendsen hatte sich auf den Zusammenhang zwischen der Disko, die als sozialer Brennpunkt bekannt war, und dem Fundort der Leiche konzentriert.

Er schloss die Augen, und das Bild von Ida Maries Freundin drängte sich in den Vordergrund, wie sie in einer der unteren Reihen gesessen und wie ein Schulmädchen mit der Hand aufgezeigt hatte. Ihre Fragen, die immer direkt zum Kern der Sache kamen, hatten jedoch nichts von der Zurückhaltung eines braven Schulmädchens.

»Welche Bedeutung hat die Frauenleiche für die Handhabung der Einwandererproblematik seitens der Polizei? Ist es nicht naheliegend, in diesem Fall mit Fokus auf das Einwanderermilieu zu ermitteln?«

Die Stimme war freundlich wie immer, besaß jedoch den unterschwelligen Biss, der ihre Art zu fragen kennzeichnete.

Er hatte ausweichend geantwortet, was hätte er sonst auch tun sollen? Seine Befürchtung war die, dass die Spirale der Gewalt in Gjellerup noch weiter nach oben schnellte, wenn die Presse die Einwandererthematik aufbauschte, und das war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. In nur achtundvierzig Stunden war es bereits viermal zu gewaltsamen Konfrontationen zwischen Jugendlichen mit einem ausländischen Hintergrund und der Polizei gekommen. Zwei Polizisten waren mit Füßen getreten worden, als sie versucht hatten, einen jungen Mann anzuhalten, um sich sein Moped näher anzusehen, und eine Gruppe Jugendlicher hatte versucht, einen Geldtransport in Hasle zu überfallen. Auch in Braband war es zu Krawallen gekommen, als eine Gruppe Jugendlicher Pflastersteine von einer Brücke, die über den Edwin Rahrsvej führte, auf zwei Streifenwagen geworfen hatte. Die Fronten hatten sich verhärtet, und die Hitze und der Leichenfund konnten sich genau als der Brennstoff erweisen, der das Ganze zur Explosion brachte.

Er hatte etwas anderes von Dicte Svendsen erwartet; er hatte damit gerechnet, dass sie sich mehr auf die Ermordete und den Kaiserschnitt konzentrieren würde. Erst nachdem die Pressekonferenz schon einige Minuten lief, war ihm der Zusammenhang klar geworden. Sie war persönlich betroffen. Der Fund der Leiche im Hafen und die Information über den Kaiserschnitt hatte etwas aus ihrer eigenen Vergangenheit berührt. Er wusste von Ida Marie, dass sie als Teenager ein Kind zur Adoption freigegeben hatte und nie darüber hinweggekommen war. Vielleicht war das die Erklärung dafür, dass sie so lange gebraucht hatte, um die logische Frage zu stellen:

»Was ist mit dem Kind?«, wollte Dicte schließlich wissen, und ihre Stimme hatte sich über die Unruhe im Saal erhoben. Sie klang, als gehörte sie einer anderen. »Wo ist das Kind? Lebt es?«

Er war nicht im Stande gewesen, ihr eine Antwort zu geben.

»Haben wir überhaupt eine Spur? Etwas, das auf das Einwanderermilieu hinweist?«

Die Frage kam von Ivar K, während er ohne zu fragen an Hansen vorbeigriff und sich die Zuckerdose nahm.

Wagner schob zur Antwort den Bericht der Techniker quer über den Tisch.

Hansen und Ivar K blätterten langsam darin. Die anderen machten lange Hälse.

»Die Decke«, meinte Wagner schließlich, »in die die Frau gewickelt war. Im Hafen war es schwer zu erkennen, aber sieh dir das mal an«, fuhr er an Hansen gewandt fort.

Hansen war in der Vergangenheit Streifenpolizist in der City Vest gewesen, und Wagner wusste, dass er die Örtlichkeiten gut kannte. Durch großes Engagement war er zur Kriminalpolizei gekommen, wo er bei dem Fall mit dem toten Säugling auf dem Århus-Fluss positiv aufgefallen war. Wagner hatte nicht bereut, bei der Leitung durchgesetzt zu haben, dass Jan Hansen ins feste Team aufgenommen wurde.

Hansen pfiff leise, während er sich das Foto ansah. Das war eine mögliche neue Spur. Auf der ausgebreiteten Decke sah man deutlich das Bild einer Moschee.

»Entzückend«, sagte er leise. »Das sieht ganz nach dem Plunder aus, den sie im Bazar Vest verkaufen.«

Blutzoll: Skandinavien-Krimi

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