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Im Traum war sie allein. Die anderen waren weit weg; waren von einer mächtigen Kraft, die sie von ihnen getrennt hatte, in alle Himmelsrichtungen gewirbelt worden. Ihre Eltern, Rose, Bo. Das Universum hatte sie wie in einer großen kosmischen Wehe in alle Richtungen gespuckt und nur sie zurückgelassen. Festgezurrt auf ein Holzfloß aus Einsamkeit segelte sie im Rhythmus der Wellen davon.

Dicte wachte schweißgebadet auf, das Laken verheddert um ihre Beine. Die Vögel zwitscherten gutgelaunt, und die Sonne schien wie jeden Tag in diesem Sommer durch das offene Fenster. Sie hätte sich um ein Rollo kümmern müssen. Sie hätte sich um so vieles kümmern müssen, dachte sie, während sie noch kurz liegen blieb, den Alptraum abzustreifen versuchte und das Licht in sich aufnahm. Sie befreite sich aus dem Laken und drehte sich zu Bo um, der leise schnarchend und ganz ruhig dalag, als wäre alles in bester Ordnung. So hatte er jede Nacht geschlafen, seit er sich zu der Irak-Tour entschlossen hatte. Wie ein sorgloses Kleinkind.

Sie stützte sich auf den Ellenbogen und beobachtete den Mann, den zu verstehen sie nie gelernt hatte. Er schien aus einem anderen Stoff gemacht als die meisten Menschen. Als wäre allein die Aussicht auf Unruhe und Instabilität für ihn eine beruhigende und freudige Vorstellung. Er trug etwas in sich, das hin und wieder Luft brauchte, das wusste sie. Etwas, das er nicht ignorieren konnte, das in ihm arbeitete und dem er Aufmerksamkeit schenken musste. Eine Art Drang, genauer konnte sie es nicht benennen. Nicht unähnlich ihrem eigenen Drang, sich genau in die Fälle zu vertiefen, die sie mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontierten. Doch Bos Drang war nicht morbide, wie ihr eigener das bisweilen sein konnte; er ließ ihn nicht selbstkritisch und voller Schuldgefühle zurück, sondern machte ihn konzentriert, aufmerksam und schlichtweg froh. Am treffendsten schien ihr der Vergleich mit einem zahmen Tier, dessen wirkliche Natur von Zeit zu Zeit zum Vorschein kam. Ein Hund, der eine Katze jagte. Eine Katze, die eine lebendige Maus fraß. Reiner Instinkt. In jeder Faser und jedem Muskel.

Sie schmiegte sich an ihn, wie immer eifrig darauf bedacht, ihm das zu stehlen, was er ihr hin und wieder zu geben vergaß. Er hatte schließlich noch ein Leben neben ihrem gemeinsamen, das durfte sie nicht vergessen. Da waren die Kinder, die ihn so sehr beschäftigten, und da war die Karriere, auch wenn er das nie so ausdrücken würde. Aber seine Arbeit fesselte ihn, mehr als sie selbst ihn zu fesseln vermochte.

»Hmm.«

Sie sah das kleine Lächeln, als die Augen hinter den Lidern zu zucken begannen. Sie stützte sich ab und küsste sie, erst das eine und dann das andere. Lange Wimpern flatterten gegen ihre Lippen. Hände griffen nach ihren Hüften.

»Hmm – hmmm.«

Der Laut aus seiner Kehle klang wie das Schnurren eines Motors. Sie küsste seine Lippen und schmeckte die salzige Hitze der Nacht. Seine Hände wanderten über ihren Körper. Seine Arme umschlangen sie.

»Ich will dich«, flüsterte sie.

»Was du nicht sagst«, murmelte er ihr schläfrig durch das Haar ins Ohr. »Habe ich eine Wahl, wenn ich fragen darf?«

»Auf jeden Fall. Du kannst zwischen sanft und weniger sanft wählen. Sehr viel weniger sanft«, fügte sie hinzu.

Er lag eine Weile still da, und sie dachte schon, er sei wieder eingeschlafen. Dann griff eine Hand in ihr Haar und zog ihren Kopf nach hinten. Er entblößte die Zähne, und seine Bauchmuskeln spannten sich unter ihr an, als er sie auf sich zog. Ihr ganzer Körper öffnete sich.

»Ich denke, wir probieren Letzteres. Der Abwechslung halber«, fügte er hinzu.

Und dann kamen die Stöße und nahmen sie mit im Rhythmus ihres Traums, doch sie war nicht mehr allein.

»Glaubst du, sie halten etwas zurück?«, fragte Bo mit vollem Mund, als sie später beim Frühstück in der Küche saßen und Rose längst mit dem Bus zur Schule gefahren war.

»Sie halten immer etwas zurück. Aus Rücksicht auf die Ermittlungen«, fügte sie hinzu.

Sie schnitt eine Scheibe mageren Käse ab und belegte damit ihr Roggenbrot. Ohne Butter. Annes Gesundheitspredigten schienen doch Wirkung zu zeigen, stellte sie fest und spülte einen Bissen mit Kaffee hinunter. Sie versuchte zu erraten, was die Polizei eventuell zurückhielt, aber es konnte genauso gut sein, dass sie überhaupt keine Spur hatten, der sie nachgehen konnten. Natürlich war da die Decke, in die die Frau gewickelt war. Sie war so blutdurchtränkt, dass man kaum etwas hatte erkennen können, doch möglicherweise waren die Techniker über die Hunde- und Menschenhaare, die Wagner erwähnt hatte, auf etwas gestoßen, und natürlich konnte es darüber hinaus noch andere Spuren geben: Fasern auf dem Körper der Frau, in ihrem Mund oder unter ihren Nägeln. Der Mageninhalt konnte viel verraten, ebenso wie die Konzentration an Rauschgift und Alkohol oder Medikamenten im Blut. Es existierte jedoch nichts Offensichtliches, das Anlass zu Vermutungen gab. Und solange die Polizei nicht mit neuen Informationen herausrückte, hatten die Journalisten nichts, dem sie nachgehen konnten. Vielleicht sollte sie sich um eine Audienz bei Wagner bemühen. In der Regel sprang bei diesen Treffen auch etwas für ihn heraus, doch im Moment hatte sie nichts zum Handeln.

»Und? Was willst du machen?«, fragte Bo, der sie gut genug kannte. »Gibt es nicht irgendeine Perspektive, die du als Ausgangspunkt für einen Artikel nehmen kannst?«

Er wusste genauso gut wie sie, dass die Avisen und nicht zuletzt Kaiser unersättlich waren und erwarteten, dass sie die Story auswrang wie einen Putzlappen. Und natürlich sah sie die offensichtliche Thematik, aber sie hatte keine Lust darauf. Sie warf einen bösen Blick auf ihr Roggenbrot, als wäre alles seine Schuld.

»Die Einwanderer«, murmelte sie. »Die gesamten Medien werden sich auf sie stürzen. Inklusive uns. Ich garantiere dir, dass Holger bereits dabei ist, diese Vergewaltigungssache auszugraben, bei der ein dreizehnjähriges dänisches Mädchen von einer ganzen Gruppe geschändet worden ist.«

Bo schlürfte seinen Kaffee.

»Was ist mit dem Kaiserschnitt? Sie haben doch gesagt, dass den ein Profi durchgeführt haben muss.«

Sie zuckte mit den Schultern. Wie schwer mochte es sein, einen Unterleib aufzuschneiden? Sie hatte Geschichten von Frauen gehört, die an sich selbst einen Kaiserschnitt vorgenommen hatten. Solche Bagatellen würden die Presse nicht daran hindern, sich wie üblich über den mangelnden Respekt der muslimischen Jungen gegenüber den dänischen Mädchen auszulassen. Die Logik dabei mochte sein, dass der Weg nicht weit war von einer Vergewaltigung bis zum Aufschneiden einer schwangeren Frau, die man anschließend im Hafen entsorgte. Und war nicht etwas Wahres dran, so ungern sie sich auch mit diesem Aspekt des Falls befasste?

»Wie professionell ist es, eine Frau verbluten zu lassen und hinter einen Abfallcontainer zu werfen?«, sagte sie. »Die Geschichte wird mit der ganzen Einwandererproblematik vermischt und so lange durchgerührt werden, bis keiner mehr weiß, wo hinten und wo vorne ist.«

Bo schenkte ihnen beiden Kaffee nach.

»Kannst du dich noch an die Mutter erinnern, die uns den Stinkefinger gezeigt hat?«, fragte er mit sehnsüchtiger Stimme, bestimmt weil er immer in Bildern dachte und gerade diese Szene mehr gesagt hatte als tausend Worte.

Sie erinnerte sich nur allzu gut. Nicht zuletzt an ihre eigene Reaktion. Der Sohn jener Frau war gerade verurteilt worden, bei der Vergewaltigung des dänischen Mädchens mitgemacht zu haben, und die Kopftuch tragende Mutter hatte der gesamten Presse trotzig den Stinkefinger gezeigt, als sie aus dem Gerichtsgebäude kam. Das Foto war auf allen Titelseiten gelandet und fungierte seitdem als Reklame für die Liberalen. Man war entrüstet gewesen, sowohl über das Verhalten der Mutter als auch über die Verwendung des Fotos von Seiten der Presse und der Politiker.

Sie selbst hatte zu ihrer eigenen Überraschung äußerst unprofessionell reagiert. Auch Bo erinnerte sich daran und äffte sie auf lustige Weise nach.

»Warum zum Teufel geht sie nicht dahin zurück, wo sie herkommt?«, mokierte er sich mit hoher Dicte-Stimme.

Dicte rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her und spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Es stimmte. Das hatte sie gesagt, als Bo zusammen mit den anderen Fotografen das berüchtigte Bild geschossen hatte. Sie wusste nicht, woher die Worte gekommen waren. Im Normalfall versuchte sie wirklich, die Einwandererthematik differenzierter zu sehen, doch irgendetwas an der grotesken Situation hatte einen Schalter bei ihr umgelegt. Gefühle waren an die Oberfläche gekommen und hatten urplötzlich herausgewollt. Gefühle, die sie sich sonst nicht zugestand, auch jetzt nicht. Aber sie waren da gewesen. Der Wunsch, der Frau das Kopftuch herunterzureißen, war ebenso da gewesen wie der Wunsch, sie zu schütteln und zu fragen, was für ein Frauenbild sie ihrem Jungen vermittelt hatte.

Dicte fröstelte. Sie mochte sich nicht daran erinnern. Einst hatte sie sich einmal eines gewissen Verständnisses gegenüber fremden Kulturen rühmen können. Vielleicht war das nur ein Schritt auf dem Weg zu der Erkenntnis, dass die moslemische Kultur in Dänemark Seiten hatte, die sie ganz einfach nicht verstand und auch nicht verstehen wollte.

Sie erinnerte sich an die Antwort, die Bo ihr gegeben hatte, als er mit der um den Hals hängenden Kamera neben ihr gestanden hatte.

»Vielleicht weil sie von hier kommt«, hatte er lakonisch gesagt. »Aus Dänemark.«

Dicte schob den Rest des trockenen Roggenbrots an den Rand des Tellers und holte sich stattdessen einen Naturjoghurt aus dem Kühlschrank. Das Müsli war in der untersten Küchenschublade.

»Ich habe keine Lust, über die Einwanderer zu schreiben.«

»Warum nicht?«, fragte Bo unschuldig.

Sie drehte sich mit dem Joghurtbecher in der Hand zu ihm um.

»Zum Ersten, weil ich ein Feigling bin«, räumte sie ein. »Das Thema ist einfach zu brisant und zu kompliziert. Und zum Zweiten, weil ich in meinem tiefsten Inneren glaube, dass die Antwort woanders liegt.«

»Und zum Dritten«, fuhr Bo fort und begann die Tassen abzuräumen, »weil deine Tochter einen pakistanischen Freund hat und du nicht länger weißt, was in der ganzen Problematik richtig und was falsch ist.«

Sie sah ihn verblüfft an. Rose und Aziz hatte sie fast ganz vergessen, aber Bo hatte natürlich Recht. Auch das Wissen um diese Beziehung spielte eine Rolle bei ihrem Unmut. Es nützte nichts, es zu leugnen.

»Ich hätte es selbst nicht besser ausdrücken können«, räumte sie ein.

Sie gab etwas Joghurt in eine Schale und stellte den Becher auf den Tisch. Bo nahm ihn und stopfte ihn in das im Kühlschrank übliche Durcheinander aus Essensresten, halb leeren Weinflaschen und Milchkartons.

»Vielleicht solltest du gerade deshalb darüber schreiben«, sagte er ernst. »Wer sonst könnte das so differenziert und einfühlsam?«

»Differenzierungen sind nicht gerade das, was Kaiser will.«

Es war so schwer. Sie wollte unbedingt das Richtige tun und das Richtige schreiben. Hin und wieder musste man sich einfach seinen Zweifeln stellen und die altbekannte Tatsache am eigenen Leib erfahren, nach der es leicht war, etwas für einen anderen zu behaupten. Viel schwerer war es dagegen, wenn man selbst mit dem Problem konfrontiert wurde.

»Anne spielt mit dem Gedanken, ihre Eltern aufzusuchen«, sagte sie plötzlich in dem Versuch, ihn abzulenken. »In Korea.«

Bo pfiff leise. Ihr wurde schlagartig bewusst, dass sie unbeabsichtigt von einem unerwünschten Thema zu einem anderen gekommen war, als er sie eingehend ansah und im Handumdrehen auch diese Geschichte auf sie bezog.

»Und das hat bei dir etwas in Gang gesetzt«, vermutete er.

»Wenn es Anne gelingt, ihre Familie zu finden, gelingt es dir vielleicht auch? Ist das so?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Absolut nicht.«

»Aber der Gedanke hat dich gestreift«, insistierte er.

»Der Gedanke streift mich täglich. Ich habe irgendwo einen Sohn, natürlich denke ich an ihn.«

»Und warum unternimmst du dann nichts?«

Sie fühlte, wie das Unbehagen sich anschlich, als ihr bewusst wurde, dass die Antwort die gleiche war wie eben.

»Weil ich ein Feigling bin.« Sie brauchte Luft, und sie musste alleine sein – ohne jemanden, der Fragen nach ihrem Mut und ihren Motiven aufwarf.

Aus diesem Grund hatte sie auch nicht die geringste Lust, Bo in die Redaktion in der Frederiksgade zu begleiten. Stattdessen fuhr sie zum Hafen hinunter, wo die Polizei inzwischen die Absperrung aufgehoben hatte.

Sie parkte, stieg aus und ging zum Showboat hinüber, das wie ein großer, weißer Wal am Kai lag. Auf Deck sah sie einen Mann arbeiten. Ihre Ohren vernahmen das Geräusch seiner Schritte, aber sie konnte nicht sehen, was er machte. Sie ließ den Blick schweifen. Noch immer sah sie die Löcher in der Straße, wo die Jugendlichen Pflastersteine herausgerissen hatten, um damit die Polizei zu bewerfen, doch nichts erinnerte mehr an die Leiche. Sie nahm an, dass die Polizei auch den Container mit Küchenabfall geleert und nach möglichen Spuren durchsucht hatte. Sie drehte eine Runde und starrte auf den Asphalt, doch der Ort schien wie leergefegt. Nicht einmal ein Stückchen Eispapier oder ein Zigarettenstummel waren mehr da.

Sie schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, wie die Frau hier gelandet war. In einem Auto, dachte sie. Wer immer sie hier zurückgelassen hatte, musste mit einem Wagen gekommen sein. Vielleicht hatte jemand etwas gesehen. Vielleicht gab es irgendwo einen Zeugen.

Vielleicht, vielleicht, vielleicht, dachte sie, drehte sich um und ging zum Rand des Hafenbeckens. Sie atmete gierig die frische Luft ein, während sie in das graugrüne Wasser starrte. Irgendjemand hatte etwas Essbares ins Wasser geworfen. Eine Gruppe Möwen hatte sich darum versammelt, sie stießen gellende Schreie aus, die sich mit dem Knirschen des Tauwerks mischten, das das schaukelnde Diskoschiff auf dem Wasser erzeugte.

Etwas weiter entfernt saß ein Angler auf einem kleinen Klappstuhl. Seine Rute hing schlapp ins Wasser, und es sah nicht so aus, als erwartete er, wirklich etwas zu fangen. Neben ihm standen ein weißer Eimer und eine Tasche mit Geräten. Weiter entfernt lag ein Frachtschiff am Kai.

So sollte es sein, dachte Dicte. Ein stiller, friedlicher Sommermorgen, an dem die Sonne noch nicht so stark brannte und man die Angel ausgeworfen hatte und sich auf nichts anderes konzentrierte, während man dasaß und über das Wasser blickte.

Sie versuchte, sich in den Angler hineinzuversetzen; sich von dem Schwappen der Wellen hypnotisieren zu lassen und die Angst zu dämpfen, die irgendwo in ihr lauerte. Ihr Leben war so ganz anders, Ruhe und Frieden waren so weit weg. Rote Wellen stiegen vor ihrem inneren Auge auf, und für einen Augenblick sah sie den blutigen Unterleib vor sich, während eine grausame Vorahnung sich ihr aufdrängte. Sie würde in diesen ganzen Morast aus Wut und Aggressionen hineingezogen werden. Was immer es war, sie würde Teil davon werden, und es würde sie dort treffen, wo es ihr am allerwenigsten gefiel.

»Feigling.«

Ihre Lippen formten das Wort, und eine Brise schien mit ihm zu spielen und es mitzunehmen, dass es über den Hafen schwebte. Sie ging zurück zum Auto und fuhr in die Redaktion.

Blutzoll: Skandinavien-Krimi

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