Читать книгу Blutzoll: Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 5
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ОглавлениеWagner war froh über die Dunkelheit, als Ida Maries Stimme sich mit der wohlbekannten Mischung aus Süße und Beharrlichkeit einen Weg in seinen Gehörgang bahnte.
»Es gibt auch noch andere Möglichkeiten.«
Sie lehnte sich auf seine Bettseite hinüber. Diesmal antwortete sein Körper ihr mit Müdigkeit.
»Andere Möglichkeiten«, murmelte er und wollte sie absichtlich nicht verstehen. »Meines Wissens gibt es nur eine, und zwar die, die wir gerade praktiziert haben.«
Sie lag eine Weile still neben ihm. Dann stützte sie sich auf den Ellenbogen, und er konnte die weiche, weiße Kurve ihrer Brust wie eine schöne Frucht direkt vor seiner Nase erahnen.
»Du weißt genau, was ich meine.«
Natürlich wusste er das, doch die Worte verhedderten sich in seinem Kopf, und er hatte Schwierigkeiten, sie auszusprechen. Sie tat es für ihn:
»Adoption oder künstliche Befruchtung.«
Das Telefon klingelte und beendete ihr Gespräch. Sie protestierte nicht, als er den Hörer abhob.
»Wagner.«
»Bereitschaft, Kasper Grundtvig. Entschuldigen Sie, dass ich Ihren Nachtschlaf störe. Wir haben eine Leiche im Hafen.«
Wagner wollte sagen, dass er nicht geschlafen hatte. Dass er nicht schlafen konnte, weil sein und Ida Maries Leben sich zu einem harten Klumpen aus gutem Willen und weniger guten Resultaten verfilzt hatte. Er begnügte sich mit einem Grunzen.
»Was ist passiert?«
»Bei dem Diskoschiff hat es Krawalle gegeben. Man hat eine Frauenleiche gefunden.«
Er hörte sich stöhnen. Das Adrenalin begann auf wohlbekannte Weise durch seinen Körper zu strömen.
»Wieder Probleme mit den Einwanderern?«
»Das kann man so sagen. Wir wissen aber nicht, ob die etwas mit der Toten zu tun haben«, sagte Kasper Grundtvig zögernd. »Es ist bereits jemand von der Presse da.«
»Wer?«
Er hörte ein Murmeln im Hintergrund, und dann kam die Antwort.
»Eine Dicte Svendsen.«
Aus irgendeinem Grund war er nicht überrascht. Trotzdem klang seine Stimme feindselig, als er fragte:
»Was macht sie um diese Zeit im Hafen?«
Der Dienst habende Beamte ließ die Frage einen Augenblick in der Luft hängen, bevor er antwortete. Wieder hörte Wagner Lärm und Stimmen im Hintergrund, als wäre die ganze Stadt wach und um halb drei in der Nacht zum Hafen gepilgert.
»Sie wollte ihre Tochter von der Disko abholen.«
Wagner war bereits aus dem Bett und zog sich an, das Telefon unter das Kinn geklemmt.
»Ich bin in zwanzig Minuten da.«
Er beendete das Gespräch.
»Ich muss los«, sagte er, während er sein Hemd zuknöpfte.
»Was ist passiert?«
Er erzählte das Wenige, das er wusste. Er sah die Enttäuschung in Ida Maries Gesicht und wünschte, er könnte sie glücklich machen, doch dazu gehörte mehr, als dass er bei ihr zu Hause blieb.
Dann rief er einen schlaftrunkenen Jan Hansen an und holte den Kollegen mit der Anordnung aus den Federn, ein paar Mann zusammenzutrommeln und so schnell wie möglich zum Hafen zu kommen. Er erreichte auch die kriminaltechnische Abteilung der Polizei und weckte seinen guten Freund, den Rechtsmediziner Poul Gormsen.
»Willst du mit in die Disko?«
Gormsen klang schläfrig, aber interessiert.
»Hast du was zu feiern?«
»Leider nein. Der Anlass ist weniger erfreulich.«
»Ein Mord?«, fragte der Rechtsmediziner und fuhr fort. »Lass mich raten. Irgendjemandem ist ein Messer ausgerutscht?«
Wagner fischte unter dem Bett nach seinen Schuhen und setzte sich auf die Bettkante, um sie anzuziehen. Ida Marie lag schweigend da. Er spürte ihren Blick im Nacken.
»Sie haben eine Frauenleiche beim Showboat gefunden.«
Gormsen sagte etwas zu seiner Frau, dann war er wieder da. Jegliche Munterkeit war aus seiner Stimme verschwunden.
»Wir sehen uns am Tatort.«
Wagner fuhr mit offenen Fenstern durch die Sommernacht und versuchte, in der frischen Luft wach zu werden, die nach warmem Asphalt und gemähtem Rasen duftete. Später, als er sich der Stadtmitte näherte, wurde der Grasduft von dem penetranten Geruch der ehemaligen Ölmühle abgelöst – vielleicht um ihm zu versichern, dass er nicht den falschen Weg eingeschlagen hatte und sich noch immer in Århus befand. Man sagte zwar, dass man den Gestank mit Hilfe von teuren Filtern endlich unter Kontrolle bekommen hatte, aber einige Nasen waren offenbar sensibler als andere, schlussfolgerte er.
Das Bild von Dicte Svendsen tauchte in seinen Gedanken auf, untermalt von leiser Musik aus dem Radio. Er sah das mittelblonde Wuschelhaar vor sich, die kleine Narbe am Mund und die intensiven Augen, die zu viel verbargen, um als schön bezeichnet werden zu können. Er seufzte in die Nacht. An einem frischen Tatort in der Nacht zum Sonntag hätte er gut auf die Presse verzichten können und vor allem auf Dicte, doch das lag nicht in seiner Macht.
Er wusste, dass es ihr nicht gut gegangen war, seit vor ein paar Monaten ein Serientäter ihr Leben bedroht hatte. Hin und wieder erzählte Ida Marie von ihrer Journalistenfreundin, die sie häufig im Fitnessstudio oder zum Mittagessen in der Stadt traf, und was sie erzählte, war nicht gerade ermutigend. Trotzdem, dachte er, als er sich der Ringgade-Ausfahrt zum Silkeborgvej näherte. Ida Marie machte sich Sorgen, aber er hatte das Gefühl, dass Dicte Svendsen robuster war, als sie aussah.
Schon von weitem spürte er die angespannte Atmosphäre am Hafen. Gruppen junger Diskothekenbesucher liefen den Bürgersteig an der Nørreallee entlang, offensichtlich wollten sie aus dem Hafengebiet und von dem Showboat fort. Sie machten sich auf dem Weg breit, fingen plötzlich an zu drängeln, hielten dann wieder im Laufen inne und schubsten oder traten einander. Er hörte ihre erregten Stimmen in der Nacht. Schwelende Wut brandete von Zeit zu Zeit hoch und drohte sich auf die ganze Stadt auszubreiten.
Das Gebiet um das Showboat war abgesperrt. Ein Ring von Bediensteten und rotweißes Absperrband hielten die Neugierigen vom Tatort fern. Die Techniker waren offenbar schon eingetroffen, da grelle Scheinwerfer die Dunkelheit erhellten. Er musste einem jungen Beamten seine Dienstmarke zeigen, um hinter die Absperrung gelassen zu werden. Aus irgendeinem Grund steckte ihn die Aggressivität an, und er erteilte dem Kollegen einen Rüffel.
»Machen Sie doch die Augen auf, Mann. Dann sehen Sie, dass ich kein Randalierer bin«, hörte er sich sagen.
Der Beamte machte einen langen Hals und sah sich seine Dienstmarke an.
»Entschuldigung«, sagte er, klang aber trotzdem so übereifrig, dass Wagner ihm eine hätte langen können. »Ich habe meine Anordnungen.«
»Das haben die Nazifunktionäre damals auch gesagt«, murmelte Wagner und bereute es sofort.
»Entschuldigung, wie bitte?«
»Vergessen Sie es.«
Poul Gormsen, der in Risskov wohnte, hatte bestimmt den Kystvej genommen. Wagner sah ihn in seinem weißen Overall. Seine Stirnlocke wehte in der nächtlichen Brise. Aus dem Augenwinkel sah er auch Dicte Svendsen, die die Augenbraue ihres Lebensgefährten abtupfte. Irgendjemand hatte ihm einen Faustschlag verpasst, und Wagner nahm an, dass diesem jemand die Kamera nicht gefallen hatte, die an einem Riemen um Bos Hals hing.
Gormsen sprach mit einem Mann in Uniform, in dem er den Dienst habenden Beamten Kasper Grundtvig erkannte. Beide nickten zur Begrüßung, als er sich näherte.
»Wie sieht es aus?«
Grundtvig nahm die Dienstmütze ab und wischte sich mit der Handrückseite den Schweiß von der Stirn. Auch Wagner fühlte sich klamm und dachte für den Bruchteil einer Sekunde, dass jetzt lange genug Sommer gewesen war. Århus glich einem heißen, entzündeten Geschwür, das jeden Augenblick aufgehen konnte. Sie brauchten Wasser. Ein ordentlicher kalter Schauer, der die Gemüter in der Stadt dämpfte, dürfte Wunder wirken. Grundtvig schüttelte den Kopf, bevor er die Dienstmütze wieder aufsetzte. Er nickte zu dem Bündel hin, das hinter einem kleinen blauen Container lag.
»Ein Typ aus Gjellerup hat sie gefunden, als er hinter dem Container pinkeln wollte.«
»Wie alt?« Wagner sah Gormsen an.
»Ein junges Mädchen«, sagte der Rechtsmediziner, »um die achtzehn, denke ich. Es ist zu früh, um etwas zu sagen, aber es sieht nach einem Blutbad aus.«
»Wie lange ist sie schon tot?«
Gormsen zuckte mit den Schultern.
»Nicht lange. Nicht bei der Hitze.«
Zusammen gingen sie zu der Leiche. Die Techniker waren bereits dabei, sie im Licht der Scheinwerfer aus allen Winkeln zu fotografieren. Wagner atmete die klamme Hafenluft ein, und während er das Bündel anstarrte, wurde er von einem seltsamen Durst überfallen, der seinen Gaumen austrocknete. Er hatte sich nie an die Verletzlichkeit gewöhnt, die mit dem Tod einherging, doch bei dieser jungen Frau war das Gefühl der Exponiertheit extrem. Ihrer Schönheit haftete etwas Madonnenhaftes an, wie sie mit dem hellen, offenen Haar dalag, das die Porzellanhaut des Gesichts freigab, die nicht eine Schramme hatte. Die Augen waren geschlossen, der Hals lang, die Finger schlank. Der Mund stand leicht offen; irgendjemand musste nach dem Eintritt des Todes versucht haben, ihn zu schließen. Kein Schmuck, dachte Wagner; weder ein Ring noch eine Halskette.
»Sie hat nichts bei sich«, sagte einer der Techniker, der ihm zur Begrüßung zunickte. »Keine Papiere, keinen Personalausweis, nichts. Sie scheint clean.«
Clean. Sauber. Eine junge Frau ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Wagners Kehle schnürte sich zusammen.
»Und sonst?«, fragte er den Einsatzleiter. »Wie viele haben sie gesehen? Wie viele sind heute Abend hier herumgelaufen?«
»Viele«, sagte Kasper Grundtvig. Er klang plötzlich unendlich müde. »Das Ganze ist völlig außer Kontrolle geraten. Wir mussten Verstärkung aus der gesamten Region anfordern.«
Wagner wusste, was das bedeutete. Polizisten mit Hundestaffeln waren sowohl von Horsens als auch von Silkeborg, Odder, Randers und Viborg gekommen.
»Wir mussten das Hafengebiet räumen«, erklärte Kasper Grundtvig gequält.
Wagner nickte, während die Probleme sich in seinem Gehirn summierten. Eine Menschenhorde war vor kurzem in der Nähe des Tatorts herumgetrampelt. Wahrscheinlich konnten sie es gleich aufgeben, nach brauchbaren Spuren zu suchen. Wenn man eine Leiche loswerden wollte, konnte man sich so gesehen keinen besser geeigneten Ort aussuchen.
Als er eine Zeit lang vor der Leiche gehockt, dem Tod direkt ins Gesicht gestarrt und nach einer Antwort gesucht hatte, die nicht gekommen war, stand er auf und ging zu der Gruppe hinüber, in der Dicte Svendsen stand.
»Das sieht übel aus«, sagte er mit Blick auf Bos blutende Augenbraue. »Hast du ein paar Bilder gemacht?«
Bo schaffte es zu nicken und fast gleichzeitig den Kopf zu schütteln. Halblanges, blondes Haar wippte im Dunkeln, doch Wagner sah, dass der zottige Bart gestutzt war. Ja, ja, dachte Wagner. Wenn man den Mann schon nicht zähmen kann, dann wenigstens den Bart.
»Sie haben mir meinen Speicherchip abgenommen und weggeworfen«, sagte Bo ärgerlich.
»Wo?«, fragte Wagner.
Bo drehte den Kopf Richtung Parkplatz.
»Da drüben irgendwo. Vor einer halben Stunde hat es hier vor Menschen gewimmelt. Es ist ziemlich hoch hergegangen.«
Im gleichen Moment sah Wagner Jan Hansens muskulöse Gestalt, die sich an den Bediensteten vorbeischob und auf sie zukam. Der Schädel rasiert, der Schnurrbart gepflegt. Sanftmütig und mit einer ausgeprägten Begabung, Befehlen Folge zu leisten. Hier kam ein Mann, den seine Frau im Griff hatte.
Schnell weihte er Hansen in das Geschehen ein.
»Wir müssen diesen Chip finden. Sprich mit Kasper Grundtvig und nimm ein paar Leute mit.«
Er nickte Bo zu.
»Brauchst du einen Arzt?«
Bo schüttelte den Kopf.
»Aber der Speicherchip gehört mir«, beharrte er eigensinnig. »Den kann ich euch nicht so ohne weiteres überlassen.«
Innerlich verfluchte Wagner die Presse und ihre heiligen Prinzipien.
»Darüber reden wir später.«
Bo riss sich los, presste ein Taschentuch gegen die Augenbraue und machte sich mit Hansen auf die Suche nach dem Speicherchip. Wenn sie Glück hatten, war etwas darauf, das die Polizei brauchen konnte, dachte Wagner. Falls sie den Fotografen überreden konnten, ihnen den Chip zu überlassen. Wenn sie Pech hatten, schwamm der Chip irgendwo im Hafenbecken und Bo Skytte konnte seine Prinzipien vergessen.
Er wandte sich an Dicte Svendsen. In der halben Sekunde bis einer von ihnen etwas sagte, gingen ihm tausend Gedanken durch den Kopf, und er begriff, warum er so gereizt war. Es lag nicht allein an der Hitze, dem fehlenden Nachtschlaf und dem Tumult, den die Leiche einer jungen Frau im Hafen von Århus mit sich brachte. Es lag auch an der Tatsache, dass Dicte und Ida Marie Freundinnen waren und er nicht wusste, wie viel Ida Marie ihr erzählt hatte. Frauen erzählten sich alles, sagte ihm die Erfahrung. Für sie war es genauso wichtig, sich einander anzuvertrauen, wie es für Männer wichtig war, ihre geheimsten Gedanken für sich zu behalten. Dicte wusste bestimmt Bescheid über ihren Versuch, die Familie um noch ein Kind zu vergrößern, und das irritierte ihn über alle Maßen.
»Und ihr wart zufällig in der Nähe?«
Er sah, wie sie unter seinem barschen Ton zusammenzuckte.
»Wir waren in einem Restaurant im Graven, als Rose anrief.«
Sie sagte das mit einem Blick zu ihrer Tochter hinüber, die dicht neben einem jungen Einwanderer stand. Wagner begriff plötzlich, dass Dicte ihre eigenen Probleme hatte.
»Das heißt, dass sie und ihr Freund schon eine ganze Zeit hier waren, bevor ihr gekommen seid?«
Sie nickte.
»Dann müssen wir die beiden als mögliche Zeugen befragen.«
Er sah die kleine Narbe am Mund nach oben zucken und wusste in etwa, was jetzt kommen würde.
»Wie ungefähr einhundertsiebzehn andere Diskobesucher und die geballte Polizeigewalt von fünf Landkreisen«, sagte sie auch sofort, während ihr Blick ihn anfunkelte. »Und wenn du schon einmal dabei bist, kannst du auch gleich ein paar Polizeihunde verhören.«
Er wartete einen Augenblick, bis sich die Wogen geglättet hatten. Vielleicht sah sie ein bisschen müde aus, aber ihre Worte hatten Biss. Wenn er Ida Marie wäre, würde er sich nicht so viele Gedanken um sie machen.
»Wie geht es sonst?«, fragte er seidenweich.
Sie sah ihn verblüfft an, bevor sie antwortete, gnadenlos ehrlich wie immer.
»Furchtbar.«
Geduldig wartete er, dass sie diese Aussage vertiefte, und hörte sie mit einem tiefen Atemzug Anlauf nehmen.
»Bo fliegt in einer Woche in den Irak, Rose hat einen neuen Freund, und mir tut das Kreuz weh.«
»Neid?«, fragte er mit einem Blick auf Rose und ihren schönen Einwanderer.
»Ischias. Ich habe mir einen Nerv eingeklemmt«, erklärte Dicte und lächelte zum ersten Mal in dieser Nacht.