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Anne streckte die Hand nach der Thermoskanne aus und goss sich schwarzen Kaffee in die Tasse. Ihr Körper schmerzte nach dem Training, doch wie immer danach fühlte sie sich frisch und klar im Kopf.

»Anne?«

Die Chefhebamme Vibeke Termansen zeigte auf die Platte mit Plunderteilchen, die am anderen Ende des Tisches stand. Anne schüttelte den Kopf.

»Ich habe gerade etwas für meine Gesundheit getan, das will ich nicht gleich wieder kaputtmachen«, sagte sie und bemerkte, dass sie leicht zickig klang.

Die Krankenschwester Henriette Baunehøj rollte die Augen, nahm ein Stück Gebäck von der Platte und biss in die zuckrige Glasur.

»Sei nicht päpstlicher als der Papst«, kam es zwischen den einzelnen Bissen. »Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich brauche meine Dosis Zucker.«

Anne pflegte ihren Heiligenschein und trank von dem zuckerfreien Kaffee, der furchtbar schmeckte. Sollten sie sich ruhig über sie lustig machen, sie hatte gelernt, damit zu leben. Seit der Operation hatte sie ihre Ernährungsgewohnheiten umgestellt, um zumindest das Gefühl von Einfluss darauf zu haben, ob der Krebs wiederkam oder nicht.

»Habt ihr die Story über den Mord im Hafen gelesen?«, murmelte Henriette und schüttelte den Kopf, dass die Krumen flogen. »Das ist schon unheimlich, was? Mitten in dem ganzen Chaos – und niemand hat etwas bemerkt.«

Vibeke Termansen legte den Kopf schief, um den Artikel besser sehen zu können. Sie zeigte auf das Verfasserkürzel.

»Ist der nicht von deiner Freundin? Dicte Svendsen?«

Anne nickte.

»Sie ist wirklich vielseitig«, konstatierte die Chefhebamme.

Während die anderen sich darüber ausließen, wer die tote Frau im Hafen entsorgt haben könnte, dachte Anne kurz an Dicte. Wer hätte gedacht, dass aus der stillen, in sich gekehrten Gymnasiastin eine dynamische Journalistin werden würde? Sie waren nahezu vom ersten Augenblick an Freundinnen gewesen, verbunden durch die Umstände, die sie wie zwei Flüchtlinge in einem fremden Land hatten zueinander finden lassen. Jede hatte ihr Päckchen zu tragen gehabt, oberflächlich glichen sich ihre Geschichten nicht, doch im Kern waren sie gleich. Unsicher was ihre Identität und die Liebe eines Elternteils – in Dictes Fall beider – anging, hatten sie einander gestützt. Sie waren in guten und in schlechten Zeiten füreinander dagewesen. Waren es noch immer.

Anne trank einen Schluck Kaffee und atmete den warmen Dampf ein.

Jedenfalls hatten sie sich immer umeinander Sorgen gemacht. Anne hatte das von Dictes Seite erlebt, als sie krank geworden war, und jetzt war es umgekehrt. Jetzt sorgte sie sich um Dicte. Ihr wurde ganz kalt, wenn sie daran dachte, was Dicte im letzten halben Jahr alles durchgemacht hatte und wie sie noch immer gegen ihre Angst ankämpfte. In diesem Licht betrachtet war die Frauenleiche im Hafen auf mehr als eine Weise beunruhigend.

»Was glaubst du? Hat Dicte dir etwas gesagt? Verfolgt die Polizei eine Spur?«

Anne schüttelte den Kopf.

»Ich habe nichts gehört. Ich glaube, sie hat etwas von einer Pressekonferenz gesagt, die heute stattfinden soll. Vielleicht weiß man nach der Obduktion mehr.«

Vibeke Termansen sah sich den Artikel noch einmal an. Sie schien gleichzeitig zu lesen und zu sprechen.

»Das arme Mädchen. Wer tut so etwas?«

»Was glaubst du?«, fragte die Hebammenanwärterin Susanne Rasmussen, die in diesem Augenblick zur Tür hereinkam und sich auf einen Stuhl fallen ließ. »Es ist wohl kein Zufall, dass man sie unten bei der Diskothek gefunden hat, wo die ganzen Einwanderer hingehen.«

Anne konnte sich nicht beherrschen.

»Natürlich ist das kein Zufall. Jemand kann sie dahin gelegt haben, damit man genau diese Schlussfolgerung zieht.«

Vibeke Termansen mischte sich ein, bevor das Gespräch in eine zu erregte Diskussion ausartete.

»Es ist jedenfalls schrecklich. Hoffen wir, dass die Polizei bald etwas herausfindet.«

Anne beruhigte sich langsam. Susanne Rasmussen gab zwei Teelöffel Zucker in ihren Kaffee und rührte energisch um.

»Ich kann sie einfach nicht ausstehen«, brach es aus ihr heraus. »Sie sind so verdammt ... «

Sie ballte die Hand zur Faust. Vibeke Termansen drückte Susanne die Hand, während diese sich eine Träne fortwischte.

»Was ist los?«

Es war nicht schwer zu erraten. Sie alle hatten das schon erlebt, und heute war Susanne an der Reihe.

»Fatima auf Zimmer sieben«, sagte sie leise. »Sie hat ein kleines, süßes Mädchen bekommen. Und dann ist die ganze Familie aufmarschiert, der Vater und der Mann vorneweg.«

Sie sah sich in der Runde um.

»Und da war die Freude vorbei, richtig?«

»Hat sie bereits Mädchen?«, wollte Henriette wissen.

»Drei«, sagte Susanne. »Ein viertes war absolut unerwünscht. Die arme Fatima, sie war ganz außer sich. Ich musste zwei Krankenpfleger rufen, um alle hinauszubefördern, damit sie sich ausruhen konnte.«

»Wie alt ist sie?«, fragte Vibeke.

»Vierundzwanzig. Sie ist mit einem Vetter aus der Türkei verheiratet, der kaum ein Wort Dänisch spricht.«

»Hat sie etwas gesagt?«, wollte Anne wissen. Es kam vor, dass junge schwangere Frauen auf der Entbindungsstation um Hilfe baten, um aus ihren Zwangsehen herauszukommen. Es kam auch vor, dass hochschwangere Frauen mit blauen Flecken am ganzen Körper erschienen, doch gerechterweise musste man sagen, dass häusliche Gewalt nicht auf die Einwandererfrauen beschränkt war.

»Was glaubst du?«, fragte Susanne resigniert und stand auf.

»Ich muss. Ich habe eine Zwillingsgeburt.«

Als sie noch eine Weile zusammengesessen hatten, schlich Anne sich den Gang hinunter in das Zimmer, in dem Fatima mit ihrer kleinen Tochter lag. Sie kannte die türkische Frau von den Schwangerschaftsuntersuchungen. Jetzt lag sie müde und mit fahler Haut in ihrem Bett. Das Kopftuch verdeckte komplett, was verdeckt werden musste, und die Hände lagen auf der Bettdecke. Große, schöne Augen begegneten Annes, aber sie lächelten nicht einmal ansatzweise.

»Herzlichen Glückwunsch, Fatima. Darf ich sie einmal sehen?«

Fatima zeigte gleichgültig auf die Babytragetasche, die dicht neben dem Bett stand. Anne beugte sich hinunter. Das Kind war wirklich schön. Langes schwarzes Haar umrahmte ein wohlgeformtes Gesicht, die Haut des Mädchens schimmerte hell und rosig.

»Sie ist wirklich schön. Wie soll sie heißen?«

Fatima lag stumm da und starrte ins Leere. Anne beugte sich über die Babytragetasche und nahm das Kind auf den Arm. Dann setzte sie sich auf das Bett, und Fatimas Blick richtete sich auf das kleine Mädchen.

»Aisha«, antwortete Fatima leise. Und während sie das sagte, fuchtelte das kleine Wesen mit den Armen, und Fatima streckte die ihren zärtlich nach dem Kind aus.

»Leben«, sagte Anne und überließ das Baby seiner Mutter. Sie war bei weitem keine Islam-Expertin, aber immerhin wusste sie doch, dass Aisha die bekannteste Frau des Propheten Mohammed war und dass der Name Leben bedeutete. »Das ist ein sehr schöner Name.«

Sie stand auf. Vorsichtig streckte sie die Hand aus und streichelte das seidenweiche Haar des Babys.

»Ich weiß, dass Sie alles tun werden, damit Aisha ein gutes und glückliches Leben hat, Fatima.«

Die junge Frau im Bett lächelte nur halbherzig, und während Anne das Zimmer verließ und den Gang hinunterging, fragte sie sich, wie Aishas Leben einmal aussehen würde. Würde sie selbst ihren Mann wählen dürfen, oder würde das Oberhaupt der Familie seinen Einfluss geltend machen? Würde es in zwanzig Jahren in Dänemark noch immer Zwangsehen geben? Oder würden die Sitten und Gebräuche sich der dänischen Gesellschaft angepasst haben? Niemand konnte das Vorhersagen, aber sie hoffte, dass Aisha ihren Platz fand.

Sie verrichtete ihre Arbeit in der Regel mit voller Aufmerksamkeit. Doch in den folgenden Stunden kreisten ihre Gedanken um das kleine türkische Mädchen, während sie zwei Geburten vorbereitete und eine dritte einleitete. Sie wusste genau, warum. Es war der Gedanke an ihre eigene Geburt in Korea, der in ihrem Kopf herumspukte. War auch sie als Neugeborenes eine Enttäuschung für ihre Eltern gewesen? Hatten sie sich so sehr einen Sohn gewünscht, dass sie sich entschlossen hatten, ihre neugeborene Tochter zur Adoption freizugeben, weil sie nur ein weiterer Mund war, der gestopft werden musste, ein weiterer Kostenfaktor?

In der letzten Zeit war es ihr immer wichtiger geworden, darauf eine Antwort zu bekommen. Seit ihre Mutter ins Krankenhaus gekommen war und immer weiter fort in ihre eigene dunkle Welt glitt, hatte ein Wunsch Gestalt angenommen, von dem sie selbst wusste, dass er absurd war. Vielleicht hatte sie irgendwo eine Familie. Vielleicht konnte sie irgendwann einmal durch den Kontakt zu ihren Geschwistern, die sie nie gehabt hatte, und den Eltern, die sie weggegeben hatten, der Einsamkeit entkommen. Vielleicht war sie doch zu exotisch, um ohne die Liebe und Unterstützung ihrer Mutter in Dänemark zu leben.

Anne stieß die Tür zum Kreißsaal auf.

Man musste vorsichtig sein mit zu großen Wünschen. Diese Erfahrung hatte sie gemacht. Ihre Erfüllung konnte leicht den Menschen Schaden zufügen, die man liebte.

Sie schüttelte den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben, und fasste den Entschluss, ihre Mutter behutsam zu fragen, wenn es ihr nach der Hirnblutung noch gelingen sollte, zu ihrem Verstand durchzudringen.

Dann wurde die Luft vom Schrei der gebärenden Frau zerrissen, und die Gegenwart schlug wieder zu.

Blutzoll: Skandinavien-Krimi

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