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Das Fitnessstudio lag im Frichspark, wo früher die alte Frichsfabrik gestanden hatte. Statt von Gastarbeitern in blauen Overalls wurde das Gebiet jetzt von Anwälten, Wirtschaftsprüfern, Angestellten des Zollamts und Schülern der kommunalen Fortbildung bevölkert, die in den neu errichteten Gebäuden untergebracht war. Es gab auch eine Firma für Büromöbel und einen Weingroßhandel mit Lagerverkauf.

Dicte parkte in einer der ausgewiesenen Parkbuchten und stellte die Parkscheibe ein. Sie stieg aus, warf sich die Sporttasche über die Schulter und ging eilig zu Norsk Sekvenstraening hinüber, ihrem Fitnessstudio, das neben der Fortbildungsstätte lag. Ein Blick durch die Fenster zeigte fleißige Mitglieder, die sich an diesem Montagvormittag an den Geräten abmühten, und sie fragte sich nicht zum ersten Mal, was sie wohl taten, wenn sie keine Gewichte stemmten, an den Geräten trainierten oder auf den Matten lagen und sich nach einer Stunde freiwilligen Masochismus entspannten. Wie sagte sie immer zu Anne: »Das können doch nicht alles Journalisten oder Hebammen sein.«

Anne hatte ihren Nachtdienst, sie ihre nächtlichen Termine an diversen Tatorten und ihre Artikel mit kurzer Deadline und den Überstunden, die sich dadurch anhäuften. Was taten die anderen? Was für ein Leben ließen sie zu Hause oder am Arbeitsplatz hinter sich, wenn sie sich mehrmals die Woche abmeldeten, die Uniform aus- und ihre Trainingsklamotten anzogen?

Anne war der Meinung, dass sie zu neugierig war. Als sie die Tür aufstieß, dachte sie, dass sie das von Anne unterschied, die immer die Diskretion in Person war: das ewige Fragen. Die Neugier, die ihr Leben beeinflusst hatte und die sie oft weit weg wünschte, weil ohne sie alles viel einfacher wäre. Wie jetzt dieser Mord im Hafen. Was ging es sie eigentlich an, wer diese Frau war und wie sie dort gelandet war? Wäre es nicht viel einfacher, Holger Søborg diese Geschichte zu überlassen?

»Hei. Wovon träumst du denn?«

Anne schwitzte, nachdem sie auf dem Ergometer trainiert hatte. Dictes Hand fühlte bei der obligatorischen Umarmung das klamme T-Shirt.

»Von der Frau im Hafen?«, fuhr Anne fort, die Psychologin hätte werden sollen. »Kann das nicht ein anderer machen?«

Dicte warf ihre Tasche über die Schulter und betrat barfuß den Trainingsraum mit Anne im Gefolge.

»Da ist kein anderer«, sagte sie über die Schulter. »Niemand Kompetentes. Wir haben Ferien«, erklärte sie.

»Ferien«, wiederholte Anne und blieb neben ihr stehen, als Dicte ihre Karteikarte aus dem Kasten auf der Theke nahm und sich zum heutigen Training eintrug. »Ich wünschte, die Leute hätten daran gedacht, als sie in den Weihnachtsferien neue Kinder produziert haben.«

»Woran?«

Anne, die aus Korea kam und adoptiert worden war, sah sie mit einem Lächeln in den schrägen Augen an. Feine Lachfältchen zogen sich die hohen Wangenknochen entlang.

»Daran, dass Hebammen auch gerne im Sommer Ferien machen.«

»Habt ihr sehr viel zu tun?«

Sie wusste genau, dass diese Frage überflüssig war. Die kleinen Krankenhäuser hatten ihre Entbindungsstationen geschlossen, sodass alle werdenden Mütter in den Einzugsbereich des Krankenhauses in Skejby wallfahrteten, wo Anne arbeitete.

Die Freundin zog die schmalen Augenbrauen bis hoch unter den Pony.

»Viel zu tun ist eine Untertreibung. Megaviel ist passender. Die Kleinen stehen in den Gebärmüttern Schlange, und am liebsten kommen sie nachts.«

Dicte suchte nach Anzeichen von Müdigkeit bei Anne, die oft Nachtdienst hatte und deren Mutter darüber hinaus nach einer Hirnblutung im Krankenhaus lag. Aber sie sah genauso frisch und alterslos aus wie immer.

»Soll ich das als Klage über den Job verstehen?«

Anne lächelte breit.

»Nie und nimmer.«

»Wie geht es deiner Mutter?«

Das Lächeln wurde zu einem Zucken um die Mundwinkel, und einen Moment lang bereute Dicte ihre Frage. Aber sie kannten einander so gut, und die Trauer brauchte auch ihren Platz.

»Die Ärzte drucksen herum. Sie wagen nicht, freiheraus zu reden.«

»So schlimm?«

Anne nickte. Dicte streckte die Hand aus, und für einen Moment standen sie da wie eine Skulptur zweier sich umarmender Menschen. Dann befreite sich Anne.

»Mist«, sagte Dicte und griff nach ihrer Tasche.

Anne ging an die Geräte, während Dicte sich umzog und auf dem Ergometer aufwärmte. Sie sah den Mann den Raum betreten, während sie auf dem Rad saß und leicht gelangweilt in die Pedale trat. Zuerst fiel ihr seine Größe auf. Er war groß und breit, füllte den Raum aber auch noch auf eine andere, weniger greifbare Weise aus. Er hatte eine flaschengrüne Sporttasche über der Schulter und trug Jeans und ein schwarzes, kurzärmliges Polohemd. Kurz gesagt war er ganz unauffällig und doch wieder nicht. Sie dachte an Bo und seine magere, sehnige Gestalt; an das zottige, lange Haar und den Bart, den zu stutzen sie ihn immer erinnern musste, damit er nicht wie ein albanischer Flüchtling aussah. Sie dachte an seine ewige Rastlosigkeit, durch die sich die Nervosität im ganzen Haus ausbreitete. Und voller Scham sehnte sie sich plötzlich nach Ruhe und Sicherheit und der Umarmung eines großen Mannes mit einer Stimme, die dunkel wie Mahagoni klang. Sie stellte in der Regel keine Vergleiche an, doch diesmal tat sie es. Und dieser Vergleich fiel nicht zu Bos Vorteil aus.

Der Mann checkte ein, wie sie selbst es zuvor getan hatte. Als er sich umdrehte, um die Treppe hinauf in die Umkleide zu gehen, sah er sie direkt an, und sie spürte, wie ihr das Blut bis in die Haarwurzeln schoss. Vielleicht weil sie ihn so intensiv anstarrte, nickte er ihr zu, als wären sie alte Bekannte, und sie nickte zurück.

»Wer ist das?«, fragte sie Anne, als sie später nebeneinander an den Geräten trainierten, während der Mann sich auf dem Ergometer aufwärmte. »Hast du ihn schon einmal hier gesehen?«

Anne streckte den Arm aus, zog energisch an der Eisenstange und absolvierte ihre Wiederholungen.

»Warum?«

Bos Nachricht vom Vorabend schob sich ihr in den Kopf. In den Irak. Leicht widerwillig erzählte sie Anne davon, die immer die Meinung vertreten hatte, dass Bo zu einem normalen Zusammenleben nicht taugte, das auf Ruhe und Regelmäßigkeit basierte.

»Ich kenne ihn nicht persönlich«, schnaufte Anne leise. »Aber er heißt Jeppe Vrå und ist Arzt draußen in Marselisborg.«

»Ich dachte, sie hätten das Krankenhaus geschlossen.«

»Das haben sie auch, aber die Hautklinik und die Veneria-Klinik gibt es noch.«

»Die für Geschlechtskrankheiten?«

»Für HIV und Aids unter anderem.«

»Ist er HIV-Arzt?«

Anne nickte.

»Soweit ich weiß, ein Experte.«

»Okay.«

»Okay was?«

Dicte erwog diverse Möglichkeiten. Sie konnte leicht einen Artikel vorbereiten, für den sie ein Interview mit einem HIV-Experten aus Århus brauchte.

»Dicte?«

Annes Stimme drang durch den Lärm der Geräte.

»Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.«

Der Stoß traf ihre Magenregion hart und gründlich, und ein Gefühl der Scham stellte sich ein. Sie standen auf und nahmen ihre Handtücher zum nächsten Gerät mit.

Anne stöhnte und rang sich zu der ersten der üblichen fünfzehn Wiederholungen durch, die alle Muskeln beanspruchten.

»Aber das muss ja kein Hindernis sein«, fügte sie endlich mit einem Kichern hinzu.

Dicte entschloss sich, die Bemerkung zu überhören, auch wenn sie hätte einwenden können, dass Bo von seiner Ehe bereits genug gehabt hatte, bevor sie sich zum ersten Mal begegnet waren, und dass seine Exfrau eine unsympathische, hysterische Ziege war. Ein schlechtes Gewissen? Sie?

Sie absolvierte ihre Bauchübungen, während Anne aufgab und ein Glas Wasser trinken ging. Sie hatte nie Gewissensbisse gehabt, dass Bo sich zu der Trennung entschlossen hatte, auch wenn Ninka und Tobias dadurch zu Scheidungskindern geworden waren.

Es konnte gut sein, dass sie auf dem Holzweg war, doch ihrer Meinung nach war eine Scheidung nicht immer das Schlechteste. Nichts im Leben war so einfach, dass man die Antwort in einem Nachschlagewerk finden konnte.

»Was glaubst du eigentlich, wer ich bin?«, fragte Anne leise, nachdem sie geduscht hatten und sie nackt mit der Narbe von der Brustkrebsoperation dastand, die wie eine hellrote Laterne in all der Schönheit leuchtete.

»Ich habe mir in letzter Zeit so meine Gedanken gemacht.«

Es sah Anne nicht ähnlich, philosophisch zu werden.

»Wie meinst du das?«, fragte Dicte. »Eher im Sinne von wer sind wir und wo kommen wir her und wo gehen wir hin oder konkreter?«

Anne lächelte. Sie stand abwechselnd erst auf dem einen und dann auf dem anderen Bein und zog ihren Slip an. Tropfen aus ihrem nassen Haar flogen durch die Luft und landeten auf Dictes Arm.

»Konkreter.«

»Du kommst aus Korea, verdammt.«

Dicte setzte sich auf das Handtuch und holte frische Kleidung aus der Tasche.

»Korea ist groß.«

In all den Jahren hatten sie nur selten darüber gesprochen. Das interessiert mich nicht, hatte Anne immer gesagt. Sie hatte ihre Familie in Dänemark. Sie war Dänin. Sie war keine Spur anders. Dicte schüttelte den Kopf.

»Du wolltest nie etwas wissen. Und jetzt beginnst du dir mit einem Mal Fragen zu stellen? Mit dreiundvierzig?«

Anne nahm ihre Jeans vom Haken und zog sie an.

»Warum?«, fragte Dicte und plötzlich wusste sie es. »Deine Mutter?«

Anne zog Reißverschlüsse hoch und machte Knöpfe zu. Sie nickte.

»Wer ist eigentlich noch übrig von der Familie, wenn sie einmal nicht mehr ist?«

Dicte fiel nicht gleich eine passende Antwort ein. Annes Vater war gestorben, ohne dass er und Anne sich versöhnt hatten. Er war Pfarrer, aber nicht fähig gewesen, sein adoptiertes Kind zu lieben.

»Hast du einen Entschluss gefasst?«, fragte sie stattdessen.

Anne ging zum Haartrockner und begann ihr Haar zu föhnen.

Irgendwo gibt es vielleicht einen Bruder oder eine Schwester, dachte Dicte. Irgendwo gibt es vielleicht eine Mutter, die jeden Tag an die Tochter denkt, die sie weggegeben hat.

Sie frottierte ihr Haar mit dem Handtuch. Sie wusste, dass das möglicherweise Wunschdenken war, weil es ihr selbst so ging. Die Antwort konnte auch eine ganz andere sein. Vielleicht dachte niemand mehr an das Kind, das vor langer Zeit vor einem Kinderheim in Korea ausgesetzt worden war. Vielleicht hatte niemand dieses Kind je gewollt.

»Ich weiß nicht, ob ich mich traue«, sagte Anne.

Als Dicte zurück in die Redaktion fuhr, verflochten sich Annes Geschichte und die des Mädchens aus dem Hafen ineinander wie die Enden eines Seils. Oberflächlich hatten die beiden nichts miteinander gemein. Doch wenn man genauer hinsah, bestand eine Ähnlichkeit in dem Exotischen, Fremden, Unbekannten. Außerdem war da die Tatsache, dass, wenn sie sich nicht irrte, beiden etwas ganz Fundamentales geraubt worden war. In Annes Fall waren das ihre biologischen Eltern.

Sie schaffte es gerade noch zum Telefon, als sie die Redaktion betrat, wo Davidsen alleine hinter seinem Bildschirm thronte.

»Dicte Svendsen.«

»Du warst aus und hast dich amüsiert«, hörte sie Kaisers Stimme aus der Redaktion in Kopenhagen.

Sie hatte nicht die Kraft, noch einmal zu erklären, warum sie Samstagnacht im Hafen gewesen war. Stattdessen wartete sie auf die nächste Frage des Redakteurs, obwohl sie sie fast wortwörtlich Voraussagen konnte.

»Eine Vergewaltigung nach der anderen und jetzt das. Sie gehen nicht gerade sanft um mit den Mädchen in Århus. Wer ist sie?«

»Wenn ich es wüsste, wäre das die morgige Titelstory. In einer halben Stunde findet eine Pressekonferenz statt, vielleicht bekommen wir da eine Antwort«, sagte sie.

»Aber du hast sie gesehen?«

Sie nickte und erinnerte sich dann, dass er das nicht sehen konnte.

»Ich habe sie gesehen.«

»Hell, dunkel? Dänin, Ausländerin? Was meinst du?«

»Beides.«

Der Hörer blieb stumm. Jetzt war er es, der wartete.

»Sie hatte langes, blondes Haar«, vertiefte sie ihre Aussage. »Wenn man jedoch genauer hinsah, war der Haaransatz schwarz. Und sie hatte hohe Wangenknochen.«

»Asiatin?«

»Vielleicht.«

Er pfiff leise.

»Osteuropa?«

»Ich kann mich irren.«

Sie konnte nahezu sehen, wie sich der Schnauzer in einem kleinen satanischen Lächeln nach oben zog, und war wieder einmal dankbar für den Abstand zwischen Århus und Kopenhagen.

»Nee, wirklich?«

Seine Stimme hörte sich plötzlich anders an, eine Art professionelle Sorge hatte sich hineingeschlichen.

»Schaffst du das?«

Schaffte sie das? Er kannte sie so gut. Sie dachte an das junge Mädchen und an seine Verletzlichkeit, an das lange, helle Haar und den blutigen Unterleib. Sie wusste, dass sie ihn bitten konnte, Holger Søborg auf den Fall anzusetzen und sie außen vor zu lassen. Sie wusste auch, dass sie um ihres eigenen Wohlergehens willen darum bitten sollte.

Sie atmete tief ein und gab ihm die Antwort, von der sie beide wussten, dass sie kommen würde.

»Natürlich schaffe ich das.«

Blutzoll: Skandinavien-Krimi

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