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»Das ist kein Problem, Mama, das habe ich doch gesagt.«

Kein Problem. Dicte steuerte um einen Lastwagen herum. Sie waren auf dem Weg zum Gymnasium in Tilst, Rose saß auf dem Beifahrersitz. Dicte schwenkte scharf auf ihre Spur zurück, und der Fahrer hinter ihr drückte auf die Hupe.

»Mama!« Roses erschrockene Stimme erreichte sie durch ihre Mauer aus Wut und Sorge. »Du fährst wie eine Verrückte«, fügte ihre Tochter hinzu, die gerade Fahrstunden nahm und der man so leicht nichts mehr vormachen konnte.

»Vielleicht jetzt nicht«, meinte Dicte und nahm das Gespräch über Roses neuen Freund wieder auf. »Aber das wird es irgendwann einmal werden«, sagte sie in düsterer Vorahnung. »Das ist unumgänglich.«

Rose seufzte und machte mit diesem Seufzer der Frustration aller Teenagertöchter über verständnislose Mütter Luft.

»Er studiert Medizin, das habe ich dir doch gesagt. Er ist integriert.«

Das letzte Wort sprach sie sehr betont aus. Dicte verstand. Es war nicht leicht, im heutigen Dänemark Moslem zu sein. Jeder behandelte einen mit unterschwelligem Misstrauen, sie inklusive. Es war auch nicht leicht für ein dänisches Mädchen, einen moslemischen Freund zu haben. Ohne dass man es verhindern konnte, setzten andere ihn sofort mit Frauenunterdrückung und Fanatismus gleich.

»Ich will nicht sagen, dass Aziz nicht klug und tüchtig ist«, begann sie.

»Was willst du dann sagen?«, fragte Rose sanft.

»Ich will sagen, dass du seine Familie nicht kennst. Ich will sagen, dass in schwierigen Zeiten der Kulturunterschied und eure unterschiedlichen Religionen Probleme machen können. Ich will sagen, dass Liebe nicht immer reicht.«

»Reicht wozu?«

Dicte bog ab und hielt vor dem Gymnasium. Es war Montagmorgen und die vom Wochenende müden Teenager trudelten mit nackten Bäuchen, Jeans und kurzen Röcken, die auf den mageren Hüften hin und her rutschten, zaghaft ein.

»Um glücklich zu werden«, sagte sie und bereute es sofort. Nicht, weil es nicht stimmte, sondern weil sie ihre Tochter nur allzu gut kannte. Rose griff den Ball auch sofort in der Luft auf und schoss ihn leicht und elegant ins Ziel.

»Soll das heißen, dass man glücklich wird, wenn man einen Nichtmoslem zum Freund hat?«, fragte sie unschuldig und sah Dicte in die Augen, bevor sie sich versöhnlich zu ihr hinüberbeugte und ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange gab. »Ich komme mit dem Bus nach Hause.«

Während Roses Frage und eine beginnende Migräne in ihrem Kopf rumorten, fuhr sie in die Redaktion in der Frederiksgade. Vielleicht hatte Rose Recht. Vielleicht sollte sie sich nicht einmischen. Ganz abgesehen davon, dass die meisten Teenagerlieben nicht ewig hielten, war sie alles andere als ein leuchtendes Vorbild. Was wusste sie schon von der Liebe? Sie, die von Roses Vater geschieden war und mit einem acht Jahre jüngeren Fotografen zusammenlebte, der Quecksilber in den Adern hatte und dazu den Hang, sämtliche Kriegsgebiete dieser Welt zu bereisen. Ganz zu schweigen von ihrer eigenen jugendlichen Schwangerschaft und dem zur Adoption freigegebenen Kind, an das sie jeden Tag denken musste. Was wusste sie schon über die Liebe?

Nicht viel, schlussfolgerte sie, als sie auf dem Viborgvej Richtung Stadt fuhr. Aber sie war Mutter, sie hatte den Instinkt einer Mutter, und es war ihr gleichgültig, ob die Welt sie für eine Rassistin hielt, denn sie wusste, dass die Wahrheit anders aussah. Sie machte sich Sorgen, bis ins Mark. Über den Fund der Leiche im Hafen, über die Verbindung von Rose und Aziz und darüber, dass sie in dieser unglückseligen Nacht in der Nähe des Showboats gewesen waren. Sie sah die Katastrophe so deutlich vor sich, wie sie den Hunger in ihrem Magen rumoren spürte, weil sie es nicht mehr geschafft hatte zu frühstücken.

Letzterem half sie während der nur spärlich besuchten Morgenkonferenz ab. Nur sie, Davidsen und Holger Søborg, der nach seiner Zeit als Praktikant in der Kriminalredaktion fest angestellt worden war, nahmen daran teil. Cecilie und zwei andere Kollegen hatten Urlaub und Bo irgendeinen Auftrag. Der amerikanische Designguru, den der Vorgesetzte Redakteur in Kopenhagen auf sie gehetzt hatte, war noch nicht aufgetaucht. Umso besser. Sie wusste, dass er über ihren Artikel die Nase rümpfen würde, weil sie ein Veto eingelegt und damit gedroht hatte, ihren Namen aus der Verfasserzeile zu streichen, wenn sich auch nur jemand mit einer Schere näherte.

Bos Foto war gut, aber nicht gut genug, um alleine die Titelseite zu schmücken. Er und Hansen hatten zusammen mit zwei Polizeibeamten den Speicherchip doch noch im Hafen gefunden. Die Bilder gaben die Konfrontation zwischen Polizei und Einwanderern im Halbdunkel wieder, doch die Qualität war körnig und verwackelt und erinnerte an einen Dogma-Film. Bisher hatte Bo sich geweigert, der Polizei irgendetwas zu überlassen.

»Guten Appetit.«

Davidsen kaute auf einem Brötchen herum und nickte dankend. Holger hatte die aufgeschlagene Zeitung mit ihrem doppelseitigen Beitrag über die Vorkommnisse im Hafen vor sich liegen.

»Woher zum Teufel hast du das gewusst?«, fragte er mit nur schlecht verborgenem Vorwurf.

Sie blickte in die schmalen Augen in dem viereckigen Gesicht, das an einen amerikanischen Footballspieler erinnerte, und sah den Neid.

»Wagner hat mich zu Hause angerufen«, log sie, nur um sich an seiner Reaktion zu erfreuen, die auch nicht ausblieb. Wut färbte seine Wangen rot, und das kantige Kinn schoss kampfbereit nach vorn.

»Ist dein persönlicher Kontakt zur Polizei nicht langsam ein bisschen ungesund für die Zeitung?«, schnaubte er und fing an, Schlagwörter wie Abhängigkeitsverhältnis, Favorisierung, Befangenheit und Freundschaftsdienste zu bemühen, während er sich lang und breit über die dringend notwendige Unabhängigkeit der Presse von den Machthabern ausließ.

Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Es war immer ein erheiternder Moment, Holger dazu zu bringen, sich über die Prinzipien des Journalismus zu verbreiten. Vor allem, wenn man genau wusste, dass diese Prinzipien nichts als Schau waren. Wie damals, als die Sportjounalistin eine ganze Artikelserie unter seinem Namen veröffentlicht hatte, damit er sich vor dem Chef profilieren konnte.

»Beruhige dich«, sagte sie sanft und griff nach einem Brötchen aus der aufgerissenen Papiertüte. Ein Schweif aus schwarzem Mohn schmückte den Stapel Zeitungen, der auf dem Boden lag. »Ich war mit Bo in der Stadt. Rose hat angerufen. Sie war mit ihrem Freund unten am Showboat.«

»Ich dachte, dahin gehen nur die Einwanderer mit ihren dänischen Matratzen«, warf Davidsen ein, und irgendetwas versetzte Dicte einen Stich in die Magengegend. Sie funkelte ihn wütend an.

»Vielleicht könnten wir unsere Vorurteile einmal einen Moment außen vor lassen und stattdessen die heutige Ausgabe diskutieren und mit den Beiträgen für die morgige weiterkommen.«

»So ein milchCafébrauner junger Stier ist bestimmt ganz schön aufregend für ein junges dänisches Mädchen«, warf Holger ein, der Blut geleckt hatte. »Wer sagt denn, dass sie sich unterhalten müssen?«

Die Kopfschmerzen, die aus dem Hinterhalt aufgetaucht waren, schickten eine Flamme direkt in ihr Gehirn und blendeten für eine Sekunde das rechte Auge. Sie musste sich zusammennehmen, um neutral auszusehen, brachte aber kein Wort heraus.

»Okay«, erbarmte sich Davidsen. »Sehen wir uns die Ausgabe an, bevor Gottvater auftaucht und überall hellrote Kästchen haben will.«

Gottvater war der Zeitungsdesigner Larry Olsson, der vor ewigen Zeiten der USA Today ein neues Aussehen verpasst hatte und den eine abnehmende Erfolgswelle erst in der Redaktion in Kopenhagen und jetzt in Århus angeschwemmt hatte. Wenn sie sich schon auf nichts anderes einigen konnten, so wenigstens darauf, über ihn und seinen Hang zu lästern, den ganzen Text in farbige Blöcke zu setzen. Er liebte es, den Fluss der Artikel zu unterbrechen, Fakten herauszustellen und rechts und links an den Seiten in Kästchen zu platzieren. Das Resultat war nach Meinung aller Journalisten eine Zeitung, die an ein buntes Karnevalskostüm erinnerte.

»Ich denke, dass ich zu einer Pressekonferenz muss, wenn der Polizei der Obduktionsbericht vorliegt«, sagte Dicte.

»Gut.«

Davidsen sah zu Holger hin.

»Kümmerst du dich um die City Vest und die Einwanderer?«

Holger nickte. Bei Dicte meldete sich ein ungutes Gefühl.

»Hüte dich vor Vorurteilen«, sagte sie.

Holger sah sie an. Ein kleines Lächeln umspielte seine Oberlippe.

»Hüte dich vor deinen, dann hüte ich mich vor meinen.« Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und kramte Tonbandgerät und Kopfhörer hervor. Das Band enthielt ein langes Interview mit einem ehemaligen FN-Soldaten, der in Bosnien Dienst getan hatte, bis die dänischen Streitkräfte nach acht Jahren zurückbeordert worden waren. Es war eine persönliche und facettenreiche Geschichte, die von Scharmützeln, Verlusten und einem Kameraden erzählte, der wie viele andere Soldaten Leukämie bekommen hatte, möglicherweise weil er mit uranangereicherter Munition in Berührung gekommen war. Eine groß angelegte ärztliche Untersuchung der Zusammenhänge hatte zu keinem Ergebnis geführt. Trotzdem beherrschte die Angst, Blutkrebs zu bekommen, die heimgekehrten Soldaten.

Sie versuchte sich zu konzentrieren. Doch obwohl die Geschichte interessant war, tauchten die jüngsten Ereignisse immer wieder auf und nahmen ihr die Aufmerksamkeit. Das Bild der toten Frau im Hafen geisterte zusammen mit dem Schmerz durch ihren Kopf, bis sie aufgeben und in ihrer Tasche nach dem Röhrchen mit den Tabletten suchen musste. Sie holte sich in der Küche ein Glas Wasser, stand am Waschbecken und schluckte ein paar Pillen, von denen sie wusste, dass sie nur wenig Linderung bringen würden. Die Ursache konnten sie nicht bekämpfen. Vergebens versuchte sie, die Gedanken beiseitezuschieben, doch zusammen mit dem Bild der toten Meerjungfrau mit dem blutigen Unterleib stürmten sie auf sie ein. So durfte kein Menschenleben enden. Ihr Instinkt irrte sich einfach.

Sie stellte das Glas mit einem Knall auf den Tisch und ging zurück zu ihrem Bildschirm, wohlwissend, dass sie naiv war. Denn sie wusste schließlich, dass das Leben so oder auf ähnliche Art enden konnte, an jedem einzelnen Tag, an jedem Ort auf dieser Erde.

Sie hatte sich gerade hingesetzt und das Tonbandgerät wieder eingeschaltet, als das durchdringende Läuten des Telefons sich durch die Kopfhörer hindurch meldete.

Einen kurzen Moment war sie sicher, dass Kaiser mit einem neuen Befehl am Apparat war, doch das Display zeigte Annes Handynummer, und sie griff eilig nach dem Rettungsanker Telefon.

»Hallo.«

»Wo bleibst du?«

Die Gedanken rotierten wie beim Roulette, dann erinnerte sie sich wieder.

»Shit! Das habe ich ganz vergessen.«

»Kommst du noch?«, fragte Anne.

Dicte sah auf die Uhr und tröstete sich damit, dass sie noch nicht völlig an Alzheimer litt. Am Morgen hatte sie zumindest daran gedacht, die Sportsachen einzupacken.

»Ich habe schreckliche Kopfschmerzen.«

»Weswegen?«, fragte Anne, die einen siebten Sinn besaß.

»Es ist nichts«, log sie und fügte schnell hinzu: »Ich komme. Ich muss nur noch einen Anruf erledigen. In einer Viertelstunde bin ich da, okay?«

Anne war zufrieden. Dicte rief Wagner im Polizeipräsidium an, obwohl sie wusste, dass er ihr nichts sagen würde.

»Wie läuft es? Hast du etwas von Gormsen erfahren?«

Wagner seufzte am anderen Ende der Leitung.

»Beschissen, was Ersteres angeht, ja, was Letzteres betrifft.«

»Ersteres ist also durch Letzteres bedingt«, schlussfolgerte Dicte und ahnte, was das bedeutete, nämlich dass der Obduktionsbericht die Identität der Frau nicht enthüllt hatte und die Kriminalpolizei im Trüben fischte.

»So ungefähr«, antwortete Wagner.

»Woran ist sie gestorben?«

»Um drei gibt es eine Pressekonferenz«, sagte Wagner kurz angebunden und legte auf.

Ein paar Sekunden lang saß sie mit dem tutenden Hörer in der Hand da, dann stand sie auf und ging. Sie wusste ganz genau, dass Wagner warten und die sparsamen Informationen der gesamten Presse zukommen lassen musste. Er konnte es sich nicht leisten, eine Journalistin zu bevorzugen, nur weil sie mit seiner Lebensgefährtin befreundet war. Aber den Versuch war es wert gewesen.

Blutzoll: Skandinavien-Krimi

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