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»In den Irak?«

Dicte hörte sehr wohl, dass ihre Stimme klang, als ginge es um einen Planeten in einem bisher unbekannten Sonnensystem. Trotzdem fuhr sie in gleicher Stimmlage fort:

»Das ist doch das reinste Pulverfass. Hättest du dir nicht einen etwas ruhigeren Ort aussuchen können?«

Indien; Tibet, Südafrika. Wenn es sein musste, auch die Türkei. Verschiedene Landesnamen wirbelten durch ihr von der Sommerhitze glühendes Gehirn. Sie konnte sie nicht einmal aussprechen, bevor Bo sich auch schon über den Tisch lehnte, gestützt auf das Fassbier, an dem er sich die letzte halbe Stunde festgehalten hatte.

»Natürlich habe ich auch Norwegen in Erwägung gezogen«, sagte er ruhig. »Aber im Hochgebirge gibt es nun mal nicht so viel zu tun für einen Kriegsfotografen. Gefechte sind dort eher selten.«

Dicte streckte die Hand nach dem Weinglas aus, entschied sich in letzter Sekunde jedoch für das Wasser. Das hier lief richtig schief, dachte sie. Ein romantisches Abendessen in der Stadt, von wegen. Das Essen war zwar gut gewesen, doch das nachfolgende Gespräch erfüllte nicht so ganz ihre Erwartungen. Es war in dem Moment aus dem Ruder gelaufen, als Bo ihr von dem Anruf der Kopenhagener Redaktion erzählt hatte. Der Auftrag beinhaltete eine dreiwöchige Reportagetour durch den Irak, zusammen mit Jens Peter Hald, der nicht nur Journalist, sondern auch Bos Freund war.

»Und wann soll es losgehen?«

Sie versuchte, das Ressentiment aus ihrer Stimme herauszuhalten. Eigentlich dachte sie schon seit längerem, dass er genau so eine Tour brauchte, um vom faden Redaktionsalltag und den Kämpfen um die Kinder mit der Exfrau Abstand zu bekommen. Brauchte er auch eine Pause von ihr?

Sie trank etwas Wasser in dem Versuch, wieder nüchtern zu werden, doch das machte es nur noch schlimmer, denn die Antwort hieß natürlich ja. Sie hatte sich verändert, das wusste sie. Nach den schrecklichen Ereignissen im letzten Winter hatte sie sich an ihn geklammert, um nicht zu sagen an ihm geklebt. Es war eine Übergangsphase, jedenfalls hoffte sie das – allerdings eine sehr lange, die nun schon ein halbes Jahr andauerte.

»In ungefähr einer Woche«, teilte Bo ihr mit. »Wir müssen die Tour erst vorbereiten, was Technik, Sicherheit und all das angeht.«

Irgendwo in der Stadt hörte sie eine Sirene und musste sofort an kugelsichere Westen und Panzer und Bomben denken, die in toten Hunden versteckt waren und mitten auf der Straße explodierten. Sie dachte an Kidnapping, Terror und Tod und kam im Gegensatz zu Bo nicht damit zurecht. Er liebte das. Nicht den Tod, natürlich nicht, doch der Junge in ihm liebte die Spannung.

Sie entschloss sich, das Thema zu wechseln, und sah sich in dem französischen Café um, das dem Restaurant angegliedert war, in dem sie gegessen hatten.

»Das hier ist immer noch das beste Restaurant der Stadt.«

Bos Mund formte ein Lächeln, doch die grauen Augen waren schon im Flugzeug auf dem Weg nach Bagdad.

»Vom Namen einmal abgesehen.«

»Vom Namen?«

Wieder beugte er sich vor. Jetzt war er präsent, im Hier und Jetzt, alle Sinne waren auf sie gerichtet, als wäre er ein Forscher, der die Reaktion eines Versuchstiers studierte.

»Graven – in der Gruft.«

Sie schauderte und sah sofort, dass er seine Bemerkung bereute. Die Kühle verschwand aus seinem Blick, an ihre Stelle trat Zärtlichkeit, und er griff quer über den Tisch nach ihrer Hand.

»Ich komme bald wieder nach Hause. Drei Wochen sind doch keine Ewigkeit.«

Sie hörte den halb erstickten Laut ihres klingelnden Handys aus der Tiefe der Tasche. Vielleicht war es wichtig. Womöglich war das Haus abgebrannt, oder Rose war etwas zugestoßen. Ach, du meine Güte, jetzt reichte es aber mit der Schwarzmalerei.

Sie wühlte in der Tasche, fand das Telefon und sah, dass der Anruf von Rose kam. Um halb zwei in der Nacht?

»Ja?«

»Mama«, sagte Roses Stimme. Sie klang aufgeregt, und im Hintergrund war ziemlich viel Lärm zu hören, den Dicte nicht zuordnen konnte. »Ihr kommt besser her. Hier ist die Hölle los. Es wimmelt nur so vor Polizei.«

»Wo? Wo bist du, Schatz?«

»Vor dem Showboat«, sagte Rose. »Das weißt du doch. Wir hatten Freikarten, aber ... «

Der Lärm verschluckte den Rest. Endlich begann ihr Gehirn zu arbeiten, angefacht von Roses Stimme. Das Showboat. Die alte Kalundborg-Fähre im Hafen von Århus, die zu einer Disko umfunktioniert worden war. Rose hatte ihr erzählt, dass sie mit ein paar Schulkameraden dorthin wollte. Dicte war nicht gerade begeistert gewesen, weil es dort oft Probleme mit unverschämten Türstehern, Einwanderern der zweiten Generation und Drogen gab. Sie war bereits mit dem Telefon in der Hand aufgestanden und hatte dem Kellner ein Zeichen gegeben, dass sie zahlen wollten.

»Pass auf dich auf. Wir sind unterwegs.«

»Es ist nicht so, dass ich Hilfe brauche, Mama«, sagte die sehr erwachsene, beinahe Achtzehnjährige. »Ich habe eher gedacht, dass das eine super Story ist.«

Sie hörten den Lärm bereits, als sie den Kystvej erreichten. Heulende Sirenen und eine aufgebrachte Menschenmenge. Nach einem Tag unbarmherzigen Sonnenscheins war die Augustnacht noch immer warm. In Paris starben zurückgelassene Großmütter in ihren überhitzten Wohnungen, während der Rest der Familie die Sommerferien am Meer verbrachte; in Kalifornien wüteten Waldbrände und richteten Milliardenschäden an, und in Kopenhagen hatte man einen unschuldigen italienischen Touristen auf offener Straße niedergestochen. Und jetzt schienen die Auswirkungen der extremen Hitze auch Århus erreicht zu haben.

Bo fuhr quer über den Kystvej, bog nach rechts ab und steuerte am Hafen entlang auf das hohe Silo der Getreide- und Futtermittelkompanie zu, das wie ein Gespenst in der Nacht leuchtete.

Der Platz vor dem Showboat und das Hafenbassin sahen aus wie der Drehort zu einem Film, und Dicte wartete beinahe darauf, einen Regisseur in einem Hochstuhl mit einem Megaphon zu sehen, der der Crew seine Anweisungen erteilte.

Im Halbdunkel sah man mehrere Jugendliche um die Polizeiautos herumspringen deren Fenster einwerfen. Eine Kette von Polizeibeamten, denen Hunde vorausliefen, hatte sich quer über das Hafengebiet verteilt, von der Eisenbahn bis hin zum Kai.

Pflastersteine und Flaschen flogen durch die Luft, begleitet von Schimpftiraden.

»Scheißbullen! Rassistenschweine!«

Dicte ließ ihren Blick über die Menge schweifen. Rose. Wo war Rose? War sie in Sicherheit? Oder irgendwo mitten in diesem Chaos?

Die Menschenmenge wogte hin und her, und Dicte nahm an, dass es um die drei- bis vierhundert Personen sein mussten. Sie erinnerte an eine Flutwelle, angereichert mit Hundegebell, Sirenengeheul und lauten Rufen. Aggressivität lag in der Luft.

»Was zum Teufel ... «, murmelte Bo und bog zum Packhaus 35 ab, in dem die dänische Bauholzhandelsgesellschaft untergebracht war.

Er parkte neben zwei riesigen Hafenkränen, und sie stiegen aus. Er öffnete den Kofferraum, holte seine Kamera heraus und versicherte sich, dass sie einsatzbereit war. Dann versteckte er sie unter der Jacke, und zusammen bewegten sie sich auf das Chaos zu.

»Die erschlagen mich, wenn sie die sehen«, murmelte er ihr ins Ohr und klopfte auf die Ausbuchtung in seiner Jacke. »Ich drehe mal eben eine Runde.«

Sie wollte protestieren und ihn bitten, ihr bei der Suche nach Rose zu helfen. Doch er war bereits in der Menge verschwunden, getrieben vom Adrenalin und seinem Instinkt. Ein Einsamkeitsgefühl ergriff kurz von ihr Besitz, dann riss sie sich zusammen und zog den Block aus der Tasche. Sie marschierte auf eine Gruppe von Einwandererjungen zu, die am Rand der Massenschlägerei herumhingen, neben dem Gebäude der Kraft- und Futterstoff-Gesellschaft.

»Ich bin Journalistin«, sagte sie. »Könnt ihr mir sagen, was hier los ist?«

Ein junger, schwarzhaariger Bursche mit zornigen, zusammengewachsenen Augenbrauen zertrat mit dem Absatz seines Turnschuhs eine Zigarette. Er sah sie misstrauisch an.

»Keine Fotos«, sagte er. »Wir wollen nicht in die Zeitung.«

»Das ist okay«, versprach sie und hoffte, dass Bo sich fernhielt.

Die Augen des jungen Mannes leuchteten im Halbdunkel.

»Sie wollten uns nicht reinlassen, da hat es Ärger gegeben, und jemand hat die Polizei gerufen. Jetzt sind sie mit Hunden angerückt«, sagte er lakonisch. »Die Schuld bekommen immer wir.«

Sie schrieb mit, obwohl er nur sagte, was sie bereits wusste. Sie nickte verständnisvoll in dem Versuch, die Jungen zu beruhigen und ihnen zu versichern, dass sie auf ihrer Seite stand, obwohl sie sich dessen nicht sicher war. Das hier war Konfliktforschung für Fortgeschrittene.

»Wer hat die Polizei gerufen?«

Der Kumpane des Jungen zuckte mit den Schultern.

»Wahrscheinlich die Türsteher. Wir sind zum Hintereingang reingegangen, da haben sie eine Scheißangst bekommen.«

Plötzlich sprudelten die Worte nur so aus ihren Mündern, und sie schrieb, so schnell sie konnte, bekam aber nicht alles mit. Die Party auf der Fähre war offensichtlich bis Mitternacht eine Art geschlossene Gesellschaft gewesen, dann hatte man die Türen für die Allgemeinheit geöffnet, aber einen Teil der Leute abgewiesen, obwohl sie Freikarten hatten. Die Polizei war gekommen und hatte die Gemüter besänftigt, doch eine Stunde später waren die Abgewiesenen mit Verstärkung zurückgekommen und hatten sich durch den Hintereingang Zutritt zu der Diskothek verschafft. Die Polizei hatte diese daraufhin geschlossen, Gewalt und Frustration waren ernsthaft aufgeflammt, und irgendjemand hatte den Feueralarm betätigt, um die Besucher aus der Diskothek hinauszubekommen.

»Das ist die letzte Scheiße. Die überreagieren total«, sagte einer der Jungen. »Das tun die immer, wenn es um uns geht.«

»Ein paar sind von Polizeihunden gebissen worden«, sagte ein anderer. Er nickte in Richtung der übelsten Typen, die jetzt Richtung Innenstadt gedrängt wurden. »Sie setzen sogar Schlagstöcke ein, diese Faschistenschweine.«

»Fuck!«

Einer der jungen Burschen spuckte wütend auf den Asphalt. »Ich muss pissen.«

Er wandte sich von der Gruppe ab und verschwand hinter einem blauen Container für Kombüsenabfälle. Dicte wollte gerade weiterfragen, als sie einen halb erstickten Laut hörte und der Typ, der pinkeln musste, leichenblass und mit offenem Hosenstall angerannt kam.

»Scheiße, Mann. Jetzt reicht es.«

Der Wortstrom verebbte, als er zusammenklappte und sich unter lautem Würgen erbrach. Hustend und prustend kam er schließlich wieder auf die Beine.

»Da hinten liegt eine Frau«, räusperte er sich. »Ich glaube, sie ist tot.«

Die Gruppe schien in Sekundenschnelle zu Eis zu erstarren. Doch dann gewann die Neugier die Oberhand, und die Jungen stürzten zu dem Container. Dicte lief hinter ihnen her.

Zunächst sah man nicht viel. Eine Art Decke war um eine Gestalt gewickelt, die so verrenkt dalag, wie kein Mensch sich selbst hinlegen konnte. Ein weißer Arm ragte seltsam angewinkelt über den Kopf, und ein Bein guckte verdreht unter der Decke hervor, während das andere unter den Körper geklemmt war. Oberkörper und Gesicht waren von der Decke verborgen, unter der langes, helles Meerjungfrauenhaar hervorquoll. Auf den ersten Blick schien auch der Unterkörper einigermaßen ordentlich zugedeckt. Doch dann bemerkte man, dass der Rock aus klebrigem Rot bestand. Dicte stieg plötzlich der süßliche Geruch von Menschenblut in die Nase.

»Was zum Teufel ...?«

Einer der Jungen trat einen Schritt vor, beugte sich hinunter und zog die Decke über den Unterleib der Toten.

»Lass das!«

Sie hörte ihre eigene Stimme, schrill vor Erregung. Der Junge richtete sich schnell auf. Er sah verschreckt aus.

»Sie kann doch nicht so liegen bleiben«, protestierte er mit weinerlicher Stimme.

»Ihr dürft nichts anfassen«, fuhr sie ein wenig ruhiger fort. »Ruft die Polizei.«

Sie wusste nicht, wie viel Zeit verging. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und plötzlich war eine Traube von Menschen um die Leiche hinter dem Container versammelt. Dann endlich kam die Polizei und drängte sie zurück. Sie ließ sich wegschieben und versuchte dabei, die Übelkeit zu bekämpfen, indem sie an etwas anderes dachte.

Irgendjemand zog an ihrem Arm.

»Mama. Was ist passiert?«

Rose stand neben ihr und sah unbegreiflich anmutig aus in ihrem hauchdünnen, hellgrünen Sommerkleid und dem offen über die nackten Schultern hängenden Haar. Meerjungfrauenhaar, dachte Dicte eine Sekunde lang, dann schob sie den Vergleich von sich. Erst jetzt bemerkte sie den jungen Mann, der dicht neben ihrer Tochter stand. Dunkle Mandelaugen und eine Gesichtsfarbe wie helle Schokolade. Schwarze Rastalocken.

»Das ist Aziz«, sagte Rose verlegen. »Wir wollten in die Disko.«

Blutzoll: Skandinavien-Krimi

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