Читать книгу Die Sünde des Abbé Mouret - Эмиль Золя, Emile Zola, Еміль Золя - Страница 8

KAPITEL IV

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Als Abbé Mouret spürte, daß die Teuse nicht mehr hinter ihm war, blieb er stehen, glücklich, endlich allein zu sein. Die Kirche war auf einer kleinen Anhöhe erbaut worden, die in sanfter Neigung bis zum Dorf hin abfiel; längs erstreckte sie sich gleich einem verlassenen Schafstall, dessen Wände von breiten Fenstern durchbrochen waren und dem die roten Dachziegel ein heiteres Aussehen verliehen. Der Priester wandte sich um und warf einen Blick auf das Pfarrhaus, ein graues altes Gemäuer, das unmittelbar an der Längsseite des Kirchenschiffes klebte; dann ging er rechts hinauf, als fürchtete er, von dem unversieglichen Geschwätz, das seit dem Morgen in seinen Ohren summte, wieder gefangen zu werden; erst vor dem großen Portal, wo man ihn von der Pfarre aus nicht erblicken konnte, glaubte er sich in Sicherheit. Die Fassade der Kirche, die ganz kahl, von Sonne und Regen zernagt war, wurde von einem engen Käfig aus Mauerwerk überragt, in dessen Mitte sich das schwarze Profil einer kleinen Glocke abzeichnete; das Ende des Glockenseils war zu sehen, das sich in den Dachziegeln verlor. Sechs zerborstene, an einer Seite halb verschüttete Stufen führten zu der rissigen, von Staub, Rost und Spinnweben zerfressenen hohen runden Tür, die so kläglich in ihren losgerissenen Angeln hing, daß es aussah, als müßte sie beim ersten Windstoß eingedrückt werden. Abbé Mouret, der zärtliche Liebe für diese Ruine hegte, lehnte sich mit dem Rücken an einen der Torflügel auf der Freitreppe. Von dort aus umfaßte er mit einem Blick die ganze Gegend. Die Augen mit den Händen schirmend, suchte er den Horizont ab.

Im Mai sprengte ungeheurer Pflanzenwuchs den steinigen Boden. Kolossale Lavendelsträucher, Wacholderbüsche, Teppiche aus herben Kräutern stiegen die Freitreppe hinan, pflanzten Sträuße aus düsterem Grün sogar auf die Dachziegel. Das erste Drängen der Säfte drohte die Kirche im harten Buschholz der knorrigen Pflanzen davonzutragen. In dieser Morgenstunde herrschte mitten in den Wehen des Werdens ein brünstiges Brausen, ein langes, schweigendes Mühen, das die Felsen erschauern ließ. Doch der Abbé fühlte die Glut dieses mühseligen Gebärens nicht; er glaubte, die Stufe schwanke, und lehnte sich an den anderen Türflügel.

Das Land erstreckte sich zwei Meilen weit, abgeschlossen durch eine Mauer gelber Hügel, auf denen Nadelwälder schwarze Flecken bildeten; schreckliches Land mit ausgedorrter Heide, mit felsigen Graten, die den Boden zerrissen. Die wenigen Zipfel pflügbarer Erde breiteten blutige Lachen aus, rote Felder, auf denen sich Reihen dürftiger Mandelbäume, grauhäuptiger Oliven, Streifen von Weinstöcken, die mit ihren braunen Stämmen das Land schraffierten, aneinanderreihten. Man hätte meinen können, eine ungeheuerliche Feuersbrunst wäre darüber hinweggezogen, die Asche der Wälder auf die Höhen streuend, die Wiesen verbrennend und ihren Glanz und ihre Gluthitze in den Mulden zurücklassend. Kaum brachte dann und wann das blasse Grün eines Getreidevierecks eine zartere Note hinein. Der Horizont blieb wild, ohne ein Wasserrinnsal, verdurstete und stob beim geringsten Lufthauch in großen Staubwolken auf. Und ganz am Ende erblickte man durch eine eingestürzte Ecke der Hügel am Horizont eine saftig-grüne Ferne, einen Streifen des Nachbartals, das die Viorne fruchtbar machte, ein Fluß, der aus den Schluchten der Seille herabgekommen war.

Geblendet schaute der Priester hinab auf das Dorf, dessen spärliche Häuser wild durcheinander zu Füßen der Kirche herumstanden. Erbärmliche Häuser aus Lehmsteinen und Fachwerk längs eines schmalen Weges hingeworfen, ohne eigentliche Straßen. Es waren etwa dreißig, die einen im Dunghaufen zusammengesackt, schwarz von Elend, die anderen geräumiger, heiterer mit ihren rosa Dachziegeln. Auf den dem Felsen abgerungenen Grundstücken breiteten sich Gemüsebeete aus, die von Hecken durchschnitten wurden. Zu dieser Stunde war Les Artaud ausgestorben; nicht eine Frau am Fenster, nicht ein Kind, das sich im Staub sielte; allein Scharen von Hühnern liefen hin und her, scharrten im Stroh, suchten sogar an den Schwellen der Häuser, deren offengelassene Türen gähnten und der Sonne freundlich Einlaß gewährten. Ein großer schwarzer Hund, der am Eingang des Dorfes auf seinem Hinterteil saß, schien es zu bewachen.

Eine Schlaffheit machte Abbé Mouret allmählich benommen. Die steigende Sonne badete ihn in einer solchen Wärme, daß er sich an die Kirchentür sinken ließ, überkommen von glücklichem Frieden. Er sann über dieses Dorf der Artauds nach, das dort in den Steinen wie eines der knorrigen Gewächse des Tals gewachsen war. Alle Dorfbewohner waren miteinander verwandt, alle trugen denselben Namen, so daß sie von der Wiege an Beinamen bekamen, um sich voneinander zu unterscheiden. Ein Vorfahre, ein Artaud, war hierhergekommen und hatte sich in dieser Heide festgesetzt wie ein Paria; dann war seine Familie gewachsen mit der wilden Lebenskraft der Gräser, die das Leben aus den Felsen saugen; die Familie war schließlich zu einer Sippe, einer Gemeinde geworden, in deren Jahrhunderte zurückreichende Verwandtschaften man sich nicht mehr zurechtfand. Sie heirateten untereinander in schamlosem Durcheinander; man hätte nicht ein Beispiel anführen können, daß ein Artaud eine Frau aus einem Nachbardorf heimgeführt hätte; nur die Mädchen gingen manchmal davon. Die Artauds wurden geboren, die Artauds starben, diesem Fleckchen Erde verhaftet, auf ihrem Dunghaufen wuchernd, langsam, mit der einfachen Selbstverständlichkeit von Bäumen, die wieder aus ihrem Samen emporsprossen, ohne eine klare Vorstellung von der weiten Welt jenseits dieser gelben Felsen, zwischen denen sie ihr Leben fristeten. Und doch gab es unter ihnen schon Arme und Reiche. Da Hühner verschwunden waren, wurden die Hühnerställe des Nachts mit schweren Vorhängeschlössern verschlossen; ein Artaud hatte eines Abends einen Artaud hinter der Mühle umgebracht. Es war ein Volk für sich auf dem Grunde dieser trostlosen Hügeleinfassung, ein aus dem Erdboden geborenes Geschlecht, eine Menschheit von dreihundert Köpfen, die die Zeiten von vorn begann.

Er jedoch trug in sich den ganzen toten Schatten des Priesterseminars. Jahre hindurch hatte er die Sonne nicht gesehen. Selbst jetzt noch kannte er sie nicht, weil er die Augen geschlossen auf die Seele gerichtet hielt und nur Verachtung für die verdammte Natur hatte. Lange Zeit hatte er in den Stunden der Andacht, wenn er in Betrachtung versunken sich niederwarf, eine Einsiedlereinöde erträumt, irgendeine Höhle in einem Berg, wo ihn nichts Lebendiges, weder Wesen noch Pflanze noch Wasser, von der Betrachtung Gottes ablenken würde. Das war ein Aufwallen reiner Liebe, ein Grauen vor dem körperlichen Empfinden. Dort hätte er, für sich allein sterbend, dem Licht den Rücken zugewandt, geharrt, bis er nicht mehr wäre, bis er sich verloren im erhabenen Weiß der Seelen. Der Himmel erschien ihm ganz weiß, von einem lichtvollen Weiß, als schneite es Lilien, als flammte alle Reinheit, alle Unschuld, alle Keuschheit. Doch sein Beichtvater schalt ihn, wenn er ihm von seinem Verlangen nach Einsamkeit, von seinem Bedürfnis nach göttlicher Reinheit erzählte; er gemahnte ihn an die Kämpfe der Kirche, an die Notwendigkeit des Priesteramtes. Später war der junge Geistliche nach seiner Priesterweihe auf seine eigene Bitte hin nach Les Artaud gekommen, in der Hoffnung, seinen Traum tiefster menschlicher Demütigung zu verwirklichen. Inmitten dieses Elends, auf diesem unfruchtbaren Boden würde er die Ohren vor dem Lärm der Welt verschließen können, würde er in der Schläfrigkeit der Heiligen leben. Und wirklich lebte er nun schon seit mehreren Monaten mit einem ständigen Lächeln auf den Lippen; kaum daß ihn hin und wieder ein Schauer vom Dorf her verwirrte; kaum daß ein heißerer Biß der Sonne ihn im Nacken packte, wenn er auf den Pfaden dahinging, ganz im Himmel, ohne das fortwährende Gebären zu vernehmen, in dessen Mitte er wandelte.

Der große schwarze Hund, der Les Artaud bewachte, war zu Abbé Mouret heraufgekommen. Er hatte sich ihm zu Füßen auf-sein Hinterteil gesetzt. Doch der Priester blieb in die Lieblichkeit des Morgens versunken. Am Abend zuvor hatte er mit den Rosenkranzexerzitien begonnen; er schrieb die große Freude, die sich auf ihn herabsenkte, der Fürsprache der Muttergottes bei ihrem göttlichen Sohne zu. Und wie verächtlich die Güter der Erde ihm erschienen! Mit welcher Dankbarkeit fühlte er sich arm! Da er seinen Vater und seine Mutter infolge eines Dramas, dessen Schrecken er noch nicht kannte, am selben Tage verloren, hatte er bei seinem Eintritt in den geistlichen Stand einem älteren Bruder alles Vermögen überlassen. Er war nur noch durch seine Schwester mit der Welt verbunden. Von einer Art frommer Zärtlichkeit für ihren schwachen Verstand erfaßt, hatte er sich ihrer angenommen. Das liebe unschuldige Geschöpf war so kindisch, so sehr kleines Mädchen, daß sie ihm mit der Reinheit jener Armen im Geiste versehen zu sein schien, denen das Evangelium das Himmelreich verheißt. Indessen beunruhigte sie ihn seit einiger Zeit; sie wurde zu kräftig, zu gesund; sie roch zu sehr nach Leben. Doch das verursachte kaum Unbehagen. Er verbrachte seine Tage in dem inneren Dasein, das er sich geschaffen, nachdem er alles verlassen hatte, um sich ganz hinzugeben. Er verschloß das Tor seiner Sinne, suchte sich von den Erfordernissen des Leibes frei zu machen, war nur noch eine durch die Betrachtung des Göttlichen entzückte Seele. Die Natur bot ihm nur Fallen, nur Unrat dar; er setzte seinen Ruhm darein, ihr Gewalt anzutun, sie zu verachten, sich von seinem menschlichen Schmutz loszumachen. Der Gerechte muß von Sinnen sein, nach dem, was die Welt sagt. Daher betrachtete er sich auch als einen auf die Erde Verbannten; er hatte nur die himmlischen Güter im Auge und verstand nicht, daß man eine Ewigkeit an Glückseligkeit wegen ein paar Stunden vergänglicher Freude aufs Spiel setzen konnte. Seine Vernunft betrog ihn, sein Verlangen log. Und wenn er an Tugend zunahm, so vor allem durch seine Demut und seinen Gehorsam. Er wollte der Geringste sein von allen, wollte allen unterworfen sein, damit der göttliche Tau auf sein Herz fiele wie auf staubtrockenen Sand; er bekannte sich bedeckt mit Schmach und Wirrnis, auf ewig unwürdig, von der Sünde errettet zu werden. Demütig sein heißt glauben, heißt lieben. Er gehörte nicht einmal mehr sich selbst, war blind, taub, totes Fleisch. Er war ein Ding Gottes. Da trug ihn aus dieser tiefsten Erniedrigung, in die er sich versenkte, ein Hosianna über die Glücklichen und Mächtigen empor, in das Leuchten eines Glückes ohne Ende.

In Les Artaud hatte Abbé Mouret so das Entzücken des Klosterlebens gefunden, das er ehemals bei jedem Lesen in der „Nachfolge Christi“ so glühend ersehnt hatte. Mit keiner Faser seines Wesens hatte er bisher kämpfen müssen. Er war vollkommen vom ersten Niederknien an, ohne Ringen, ohne Erschütterung, wie vom Blitzstrahl getroffen durch die Gnade, im völligen Vergessen seines Fleisches. Verzückung des Nahens Gottes, die einigen jungen Priestern zuteil wird; glückselige Stunde, da alles schweigt, da die Begierden nichts sind als ein unermeßliches Verlangen nach Reinheit. Bei keiner Kreatur hatte er Trost gesucht. Wenn man glaubt, daß eine Sache alles ist, kann man nicht wankend werden, und er glaubte, daß Gott alles war, daß seine Demut, sein Gehorsam, seine Keuschheit alles war. Er erinnerte sich, gehört zu haben, wie man von der Versuchung wie von einer abscheulichen Folter sprach, die die Heiligsten auf die Probe stellt. Er lächelte nur. Gott hatte ihn niemals im Stich gelassen. Er schritt in seinem Glauben dahin wie in einem Harnisch, der ihn gegen den geringsten üblen Hauch schützte. Er entsann sich, daß er mit acht Jahren manchmal in den Winkeln vor Liebe geweint hatte; er wußte nicht, wen er liebte; er weinte, weil er irgend jemand liebte, der ganz weit fort war. Immer war er ergriffen gewesen. Später hatte er Priester werden wollen, um dieses Bedürfnis übermenschlicher Liebe zu befriedigen, das seine einzige Qual ausmachte. Er sah nicht, wo er hätte mehr lieben können. Er tat so seinem Wesen, seiner natürlichen Veranlagung, seinen Jünglingsträumen, seinen ersten Mannesbegierden Genüge. Wenn die Versuchung kommen sollte, so erwartete er sie mit der Abgeklärtheit eines unwissenden Seminaristen. Man hatte den Mann in ihm getötet, er fühlte es, er war glücklich, sich ausgesondert zu wissen, ein entmanntes, vom Natürlichen abweichendes Geschöpf, das durch die Tonsur gezeichnet war als ein Lamm Gottes.

Die Sünde des Abbé Mouret

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