Читать книгу Die Sünde des Abbé Mouret - Эмиль Золя, Emile Zola, Еміль Золя - Страница 9

KAPITEL V

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Indessen erwärmte die Sonne die große Tür der Kirche. Goldene Fliegen summten um eine große Blume, die zwischen zwei Stufen der Freitreppe hervorsproß. Ein wenig benommen, entschloß sich Abbé Mouret, weiterzugehen; da schnellte der große schwarze Hund mit heftigem Gebell auf die Gittertür des kleinen Friedhofes los, der sich links von der Kirche befand. Gleichzeitig rief eine rauhe Stimme:

„Aha, du Taugenichts! In der Schule fehlst du, und auf dem Friedhof findet man dich! – Keine Widerrede! Seit einer Viertelstunde beobachte ich dich.“

Der Priester trat näher. Er erkannte Vincent, den ein Bruder der christlichen Schulen derb an einem Ohr hielt. Der Junge hing über einem Abgrund, der am Friedhof entlangführte und auf dessen Grunde der Mascle floß, ein Wildbach, dessen weiße Wasser sich zwei Meilen weiter in die Viorne stürzten.

„Bruder Archangias!“ sagte der Abbé sanft, um den schrecklichen Mann zur Nachsicht zu ermahnen.

Doch der Bruder ließ das Ohr nicht los.

„Ach, Sie sind es, Herr Pfarrer“, brummte er. „Stellen Sie sich vor, dieser Lump verkriecht sich immer auf dem Friedhof. Ich weiß nicht, was für schlimme Streiche er hier aushecken mag . . . Ich müßte ihn loslassen, damit er sich da unten auf dem Grund den Schädel einschlägt. Das geschähe ihm ganz recht.“

Der Junge gab keinen Laut von sich und klammerte sich an das Gestrüpp, die Augen duckmäuserisch geschlossen.

„Geben Sie acht, Bruder Archangias“, begann der Priester von neuem. „Er könnte ausrutschen.“ Und er selber half Vincent, wieder hochzukommen. „Nun, mein kleiner Freund, sag mal, was hast du denn da gemacht? Man soll doch nicht auf Friedhöfen spielen.“

Der Schlingel hatte die Augen wieder aufgemacht, entfernte sich furchtsam aus der Nähe des Schulbruders und stellte sich unter Abbé Mourets Schutz.

„Ich werde es Ihnen sagen“, murmelte er und blickte zu dem Priester hoch mit seinem pfiffigen Gesicht. „In den Brombeersträuchern unter diesem Felsen ist ein Grasmückennest. Seit mehr als acht Tagen beobachte ich es schon . . . Und weil die Jungen ausgekrochen sind, bin ich heute morgen hergekommen, nachdem ich bei Ihrer Messe ministriert habe . . .“

„Ein Grasmückennest!“ sagte Bruder Archangias. „Na, warte, warte!“ Er holte von einem Grab einen Erdklumpen und warf ihn in die Brombeersträucher. Doch er verfehlte das Nest. Ein zweiter, geschickter geschleuderter Klumpen stieß die zerbrechliche Wiege um und warf die Jungen in den Wildbach. „So“, fuhr er fort und schlug die Hände aneinander, um sie zu säubern, „jetzt wirst du vielleicht nicht mehr wie ein Heide hier umherschleichen . . . Die Toten werden dich nachts an den Füßen ziehen, wenn du weiter auf ihnen herumläufst.“

Vincent hatte gelacht, als er das Nest untertauchen sah, nun blickte er um sich, zuckte die Achseln wie jemand, dem nichts heilig ist.

„Ach was, ich habe keine Angst“, sagte er. „Die Toten, die rühren sich nicht mehr.“

Der Friedhof hatte wirklich nichts Erschreckendes. Es war ein kahles Gelände, auf dem sich schmale Wege unter dem wuchernden Gras verloren. Hier und dort erhoben sich kleine Erdbuckel. Ein einziger, ganz neuer Stein, der Stein des Abbé Caffin, stand dort und bildete einen weißen Ausschnitt in der Mitte. Nichts sonst als herausgerissene Arme von Kreuzen, vertrockneter Buchsbaum, alte zerbrochene, von Moos zerfressene Steinplatten. Kaum zweimal im Jahr wurde hier jemand begraben. Der Tod schien nicht zu Hause zu sein auf diesem öden Boden, wohin die Teuse jeden Abend kam, um ihre Schürze mit Gras für Désirées Kaninchen zu füllen. Eine riesige Zypresse, die an die Tür gepflanzt worden war, ließ allein ihren Schatten über die menschenleere Flur wandern. Diese Zypresse, die man drei Meilen in der Runde sah, war in der ganzen Gegend unter dem Namen „die Einsiedlerin“ bekannt.

„Das ist alles voller Eidechsen“, sagte Vincent, der die rissige Mauer der Kirche betrachtete. „Da würde man einen mächtigen Spaß haben . . .“ Doch mit einem Satz war er draußen, als er sah, wie Bruder Archangias mit dem Fuß ausholte.

Der Bruder machte den Pfarrer auf den schlechten Zustand der Gittertür aufmerksam. Sie war ganz vom Rost zernagt, eine Türangel ausgerissen, das Schloß zerbrochen.

„Man müßte das ausbessern“, sagte er.

Abbé Mouret lächelte, ohne zu antworten. Und sich an Vincent wendend, der sich mit dem Hund herumbalgte, fragte er:

„Hör mal, Kleiner, weißt du, wo Vater Bambousse heute früh arbeitet?“

Der Junge warf einen Blick auf den Horizont.

„Er muß auf seinem Feld Les Olivettes sein“, antwortete er und zeigte nach links. „Außerdem kann Voriau Sie führen, Herr Pfarrer. Der weiß sicher, wo sein Herr ist.“ Dann klatschte er in die Hände und rief: „He! Voriau! He!“

Der große schwarze Hund zögerte einen Augenblick, wedelte mit dem Schwanz und suchte in den Augen des Jungen zu lesen. Dann lief er mit Freudengebell zum Dorf hinab. Abbé Mouret und Bruder Archangias folgten ihm plaudernd. Hundert Schritte weiter verließ Vincent sie heimlich, ging wieder zur Kirche hinauf und behielt die beiden dabei im Auge, bereit, sich hinter einen Busch zu werfen, falls sie den Kopf wandten. Mit der Geschmeidigkeit einer Natter schlich er sich wieder auf den Friedhof, dieses Paradies, wo es Nester, Eidechsen und Blumen gab.

Indessen sagte Bruder Archangias, während Voriau auf der staubigen Landstraße vor ihnen her lief, mit seiner ärgerlichen Stimme zu dem Priester:

„Hören Sie mir bloß auf, Herr Pfarrer! Brut von Verdammten, diese Kröten da! Man sollte ihnen die Rippen zerbrechen, um sie Gott wohlgefällig zu machen. Sie wachsen im Unglauben auf wie ihre Väter. Seit fünfzehn Jahren bin ich nun schon hier, und ich habe aus keinem einzigen von ihnen einen Christen machen können. Sobald ich sie nicht mehr unter der Fuchtel habe, ist es aus! Dann denken sie bloß noch an ihre Erde, ihre Weinberge, ihre Olivenbäume. Keiner, der den Fuß in die Kirche setzt. Viehzeug, das sich mit den steinigen Feldern herumschlägt! – Mit Stockschlägen muß man denen beikommen, Herr Pfarrer, mit Stockschlägen!“ Dann fügte er, wieder Atem schöpfend, mit einer schrecklichen Gebärde hinzu: „Sehen Sie, mit diesen Artauds ist es wie mit den Brombeersträuchern, die hier die Felsen zerfressen. Ein Wurzelstock hat genügt, um das Land zu vergiften. So was klammert sich an, so was vermehrt sich, so was lebt trotz allem. Das Feuer des Himmels wird dareinfahren müssen wie in Gomorrha, um das auszubrennen.“ „Man darf niemals an den Sündern verzweifeln“, sagte Abbé Mouret, der in seinem inneren Frieden mit gemächlichen Schritten dahinging.

,,Nein, die da sind des Teufels“, begann der Bruder noch heftiger. „Ich bin Bauer gewesen wie sie. Bis zu meinem achtzehnten Jahr habe ich die Erde gehackt. Und später in der Anstalt habe ich gefegt, Gemüse geputzt, die gröbsten Arbeiten verrichtet. Ihre harte Arbeit mache ich ihnen nicht zum Vorwurf. Im Gegenteil, Gott sind jene lieber, die in der Niedrigkeit leben . . . Aber die Artauds führen sich auf wie Tiere, sehen Sie! Sie sind wie ihre Hunde, die nicht zur Messe gehen, die sich über Gottes Gebote und über die Kirche lustig machen. Sie würden ihre Äcker ficken, so sehr lieben sie sie!“

Voriau blieb mit hocherhobenem Schwanz stehen und nahm seinen Trott wieder auf, nachdem er sich vergewissert hatte, daß die beiden Männer ihm noch immer folgten.

„Es gibt tatsächlich beklagenswerte Mißstände“, sagte Abbé Mouret. „Mein Vorgänger, Abbé Caffin . . .“

„Ein armer Mann“, unterbrach der Bruder. „Er ist aus der Normandie zu uns gekommen, nach einer schlimmen Geschichte. Hier hat er nur ans gute Leben gedacht; er hat alles drunter und drüber gehen lassen.“

„Nein, Abbé Caffin hat gewiß getan, was er konnte; aber man muß zugeben, daß seine Bemühungen nahezu fruchtlos geblieben sind. Meine Bemühungen selber bleiben meist ohne Ergebnis.“

Bruder Archangias zuckte die Achseln. Er schritt einen Augenblick schweigend dahin, seinen großen mageren, wie mit der Axt zugehauenen Körper in den Hüften verrenkend. Die Sonne schlug ihm in den Nacken, auf das gegerbte Leder, und ließ sein hartes Bauerngesicht, das scharf war wie eine Säbelklinge, im Schatten.

„Hören Sie, Herr Pfarrer“, begann er schließlich wieder. „Ich bin zu gering, um Ihnen Vorhaltungen zu machen; allein, ich bin fast doppelt so alt wie Sie, ich kenne die Gegend, was mir das Recht gibt, Ihnen zu sagen, daß Sie mit Milde nichts erreichen werden . . . Verstehen Sie, der Katechismus genügt. Gott hat kein Erbarmen für die Gottlosen. Er verbrennt sie. Halten Sie sich daran.“ Und da Abbé Mouret den Kopf gesenkt hielt und den Mund nicht auftat, fuhr er fort: „Die Religion geht vom Lande fort, weil man eine zu gutmütige Frau aus ihr macht. Sie ist geachtet worden, solange sie als gnadenlose Gebieterin gesprochen hat . . . Ich weiß nicht, was man Ihnen in den Priesterseminaren beibringt. Die neuen Pfarrer weinen wie die Kinder mit ihren Pfarrkindern. Gott scheint ganz verändert zu sein . . . Ich möchte schwören, Herr Pfarrer, daß Sie nicht einmal mehr Ihren Katechismus auswendig können?“

Verletzt durch diesen Willen, der sich ihm so roh aufzudrängen suchte, hob der Priester den Kopf und sagte mit einiger Schroffheit:

„Es ist gut, Ihr Eifer ist lobenswert . . . Aber haben Sie mir nichts zu sagen? Sie sind heute morgen ins Pfarrhaus gekommen, nicht wahr?“

Bruder Archangias erwiderte grob:

„Ich hatte Ihnen zu sagen, was ich Ihnen gesagt habe . . . Die Artauds leben wie ihre Schweine. Ich habe noch dazu gestern erfahren, daß Rosalie, die Älteste von Vater Bambousse, schwanger ist. Alle warten sie das ab, bevor sie heiraten. Seit fünfzehn Jahren habe ich nicht eine gekannt, die nicht in die Kornfelder gegangen wäre, bevor sie zum Traualtar ging . . . Und sie behaupten noch lachend, das sei hierzulande so Sitte.“

„Ja“, murmelte Abbé Mouret. „das ist ein großes Ärgernis . . . Ich suche gerade Vater Bambousse, um mit ihm über diese Angelegenheit zu sprechen. Es wäre jetzt wünschenswert, daß die Heirat so bald wie möglich stattfindet . . . Der Vater des Kindes scheint es, ist Fortuné, der älteste Sohn von Brichets. Unglücklicherweise sind die Brichets arm.“

„Diese Rosalie!“ fuhr der Bruder fort. „Sie ist gerade achtzehn Jahre alt. So was wird schon auf der Schulbank verdorben. Es ist keine vier Jahre her, da hatte ich sie noch. Sie hatte schon damals Schweinereien im Kopf . . . Jetzt habe ich ihre Schwester Catherine, eine Göre von elf Jahren, die verspricht noch schamloser als ihre ältere Schwester zu werden. Die findet man in allen Löchern mit diesem Nichtsnutz Vincent . . . Gehen Sie mir doch, man kann sie noch so sehr an den Ohren ziehen, das Weib bricht doch immer in ihnen durch. Sie haben die Verdammnis in ihren Röcken. Geschöpfe, gut genug, auf den Mist geworfen zu werden mit ihren Schweinereien, die alles vergiften! Da wäre man eine schöne Last los, wenn man alle Mädchen bei ihrer Geburt erdrosselte.“

Der Abscheu, der Haß gegen das Weib ließen ihn wie einen Fuhrknecht fluchen. Nachdem Abbé Mouret ihm mit ruhigem Gesicht zugehört hatte, lächelte er schließlich über seine Heftigkeit. Er rief Voriau, der auf ein benachbartes Feld gelaufen war.

„Da, sehen Sie!“ rief Bruder Archangias und zeigte auf eine Gruppe von Kindern, die unten in einer Schlucht spielten. „Da sind ja meine Taugenichtse, die in der Schule fehlen, weil sie angeblich ihren Eltern in den Weinbergen helfen! – Sie können sicher sein, dieses Flittchen, die Catherine, ist mitten darunter. Sie rutscht zum Spaß die Abhänge runter. Sie werden sehen, wie ihr die Röcke über den Kopf fliegen. Da, was habe ich Ihnen gesagt! – Bis heute abend, Herr Pfarrer . . . Na, wartet, wartet, ihr Lumpen!“

Er lief davon, sein schmutziges Beffchen flatterte ihm über die Schulter, seine weite schmierige Soutane riß die Disteln aus. Abbé Mouret sah, wie er mitten in die Kinderschar hineinfuhr, die wie ein Schwarm aufgescheuchter Spatzen davonstob. Doch es war ihm gelungen, Catherine und ein anderes Kind bei den Ohren zu packen. Er brachte sie zum Dorf zurück und hielt sie dabei mit seinen dicken behaarten Fingern fest und überschüttete sie mit Schimpfworten.

Der Priester setzte seinen Weg fort. Bruder Archangias verursachte ihm zuweilen seltsame Gewissensbedenken; er erschien ihm in seiner Gewöhnlichkeit, in seiner Derbheit als der wahrhafte Gottesmann, ohne irdische Bindung, ganz dem Willen des Himmels ergeben, demütig, rauh, gegen die Sünde Zoten im Munde führend. Und er war verzweifelt, daß er sich nicht noch mehr seines Leibes entäußern konnte, daß er nicht häßlich, schmutzig war, nicht nach dem Ungeziefer der Heiligen stank. Wenn ihn der Bruder durch zu derbe Worte, durch irgendeine zu plötzliche Roheit empört hatte, machte er sich daraufhin seine Empfindlichkeit, seinen angeborenen Stolz zum Vorwurf, als seien es wirkliche Fehler. Müßte er nicht gegenüber allen Schwächen dieser Welt tot sein? Auch dieses Mal lächelte er traurig, als er daran dachte, daß er sich beinahe über die hitzige Lektion des Bruders geärgert hatte. Das war der Hochmut, dachte er, der ihn zu verderben suchte, indem er ihn veranlaßte, die einfachen Menschen mit Verachtung zu behandeln. Doch wider seinen Willen fühlte er sich erleichtert, daß er allein war, befreit von dieser harten Stimme, die seinen Traum von reiner Zärtlichkeit störte, und nun gemächlich dahinschreitend sein Brevier lesen konnte.

Die Sünde des Abbé Mouret

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