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Die Endrunde der Happy-Family-Einführung hatte ich nahezu wie in Watte gepackt erlebt. Völlig neben mir stehend und mit aller Kraft um Selbstbeherrschung ringend, hatte ich mir im Anschluss an das desaströse Schaulaufen noch schnell mein Handauflegen bei Kian abgeholt. Dabei hatte ich mir sogar noch gedacht, wie recht Daron und Alan mit der Beschreibung von Maels Zwilling gehabt hatten. Kian hatte kaum gewagt, mich anzusehen, geschweige denn, mir die Hand aufzulegen. Seinen Segen hatte er mir mit gequält leiser Stimme erteilt. So viel Muskeln und so wenig Mut – welche Verschwendung!, war es mir noch durch den Kopf geschossen, bevor ich mich im Anschluss an den Parcour an Darons Seite geflüchtet hatte. Maels Segnung war mir durch sein selbstloses Angebot, als Babysitter zu fungieren, Gott sei Dank erspart geblieben. Hätte ich allerdings die Wahl gehabt, wäre mir eine kurze Berührung am Kopf weitaus lieber gewesen als die Aussicht, mich nun in einer erzwungenen Partnerschaft näher mit ihm auseinandersetzen zu müssen. Mit besorgtem Blick hatte Daron seinen Arm um mich gelegt und war mit mir nach der offiziellen Entlassung die Treppe hinauf in unser privates Zimmer geflüchtet. – Nun ja, nicht gerade geflüchtet: Ich war ehrlich gesagt zu geschockt gewesen, als dass ich hätte spurten können. Gestolpert traf es eher.

Im Zimmer angekommen löste ich mich aus Darons Umarmung, eilte zum Fenster und riss es ruckartig auf. Ich brauchte dringend Luft, und die war für mich in diesem engen Korsett gerade leider Mangelware. Klirrend kalt wehte mir der eisige Dezemberwind ins Gesicht und sorgte mit seinem Sauerstoffgehalt für die dringend benötigte Erfrischung. Kurz schloss ich meine Augen und atmete tief den Geruch des Schnees ein. Es schneite seit einigen Tagen ohne Unterlass, wodurch sich eine traumhaft glitzernde Decke über den Wald gelegt hatte, der das kleine Privatschloss wie in einer Schneekugel umschloss. Dicke Flocken, beleuchtet von der nicht ganz zum antiken Stil des Ortes passenden Flutlichtanlage, tanzten im Wind und berührten von Zeit zu Zeit meine Nasenspitze, während sich ihre Geschwister auf meinem Kopf niederließen. Nur noch wenige Tage, dann war Weihnachten, wurde mir bewusst. Wenn das heute ein Vorgeschmack auf das Fest mit den McÉags gewesen war, dann wollte ich lieber nicht wissen, was der Weihnachtsmann mir unter den Baum legen würde.

„Komm zurück ins Warme, Kleines, du wirst dich sonst noch verkühlen.“

Leise war Daron hinter mich getreten und hatte sanft seine Arme um mich geschlungen. Ich erwiderte seine Umarmung, indem ich mich mit dem Rücken an ihn schmiegte. Schutz, ich brauchte jetzt wirklich verdammt viel Schutz.

„Es tut mir so leid, was passiert ist. Ich habe das nicht gewusst.“ Daron gab mir einen leichten Kuss auf den Kopf und ließ sein Gesicht in meinem Haar ruhen. Tief atmete ich einige Male durch und versuchte, die immer noch in mir brodelnde Hysterie zu bezwingen. Bis jetzt hatte ich sie bravourös im Zaum gehalten. Aber nur ein falscher Gedanke, nur ein böses Wort, und ich wusste, mir würde etwas reißen und ich würde schreien, bis mir die Stimme versagte.

„Damit hat doch keiner gerechnet“, erwiderte ich leise und zeichnete dabei konzentriert ein gesticktes Monogramm auf Darons Ärmel nach. „Ich hatte es ja auch nicht geahnt, ebenso wenig wie wohl auch Alan und Cayden. Überhaupt niemand hätte das ahnen können, und du wirst dazu auch keinen Vorwurf von mir hören. Es wäre allerdings ganz nett gewesen, wenn du mich vorher über das eine oder andere Detail informiert und an Stelle von Alan für mich gesprochen hättest. Ich stand da wie bescheuert, von euch umringt, und hatte nicht den blassesten Schimmer, was ich machen sollte. Wenigstens die Worte für die Segensbitte hättest du mir verraten können.“

Auch wenn ich mich noch so eng in Darons Arme kuschelte, kroch bei dem Gedanken daran, dass er mich ohne Vorwarnung im Raum hatte stehen lassen, ein siedend heißer Zorn in mir hoch, der mich die Kälte des Winters auf meiner Haut beinahe vergessen ließ.

Daron merkte, wie ich mich verspannte, und verstärkte seine Umarmung, fast so, als hätte er Angst, ich würde mich im nächsten Moment losreißen und aus Trotz heraus aus dem Fenster springen. Nun ja, auch wenn ich nicht wirklich gesprungen wäre – mein Impuls wegzulaufen war aktuell tatsächlich größer, als er sich vorstellen konnte. Leise seufzend sprach er in mein Haar.

„Ich durfte nichts sagen, Kleines. Weder vorher noch ab dem Zeitpunkt, von dem an meine Brüder den Raum betraten. Jede Bewahrerin muss eine individuelle Einführung durchleben und dazu ihre eigene Aufnahmebitte formulieren. Das ist Teil des Rituals und dient der Demonstration von Stärke und Ebenbürtigkeit. Auch wenn du kein normaler Mensch bist, Aline, so bist du keine Ewige. Gene werden einem in die Wiege gelegt, ob man will oder nicht. Charakter aber muss sich erst beweisen. Du hast das heute wirklich fantastisch gemacht, hast dich nicht einschüchtern lassen und auch bei Phelans Provokation nicht die Nerven verloren. Selbst als Mael zu unserer aller Überraschung zu deinem Bürgen ernannt wurde, hast du die Fassung bewahrt. Ich hätte dich gern davor bewahrt, das musst du mir glauben, und bin unglaublich stolz auf dich. Wie du das gemeistert hast – ehrlich, ich weiß nicht, ob ich an deiner Stelle nicht ausgeflippt wäre.“

Da war es, mein Stichwort.

Energisch machte ich mich los, schloss mit etwas zu viel Wucht laut scheppernd das Fenster und drehte mich mit einer gehörigen Portion Zorn im Bauch zu Daron um. Ich wusste, meine Wut galt nicht ihm, und es war alles andere als fair, sie ihn spüren zu lassen. Aber Himmel, Arsch und Zwirn – wer fragte denn mich, ob ich das alles fair fand?

„Womit wir doch gleich mal beim Thema wären: Was um alles in der Welt ist bloß in Phelan gefahren, sich so aufzuführen? Ich meine, dass Mael nun als mein Babysitter arbeiten will, toppt das Ganze noch um Längen, aber das will ich jetzt nicht diskutieren. Denn hätte Bruder Wolfsauge nicht auf einen Aufpasser für mich bestanden, wäre mir dieses Theater sicherlich erspart geblieben. Erzähl mir jetzt bitte nicht, Phelan sei so unglaublich misstrauisch geworden, seit eure Mutter … euch verlassen hat. Ich habe ihm gegenüber gestanden. Ich habe seinen Atem auf meiner Haut, seine unterschwellige Aggression mir gegenüber gespürt. Hat mir das Drama um Mael nicht schon genug abverlangt? Was muss sich jetzt ein weiterer Ewiger in unsere Beziehung einmischen? Echt Daron, so langsam finde ich das alles zum Kotzen. Und wenn ich nicht gleich dieses Kleid ausziehe, drehe ich durch, so wenig Luft bekomme ich darin!“

Plopp! Da kochte er über, mein bisher brodelnder Ärger, und bahnte sich ungebremst seinen Weg nach draußen. Ich versuchte wie eine Irre, mir selber das Korsett hinten aufzuschnüren, um besser atmen zu können, scheiterte aber kläglich. Menschliche Arme sind nun einmal nicht besonders biegsam, was mir zwar sehr geholfen hätte, für mich in diesem Moment aber vielmehr eine Allegorie auf meine Unterlegenheit und meine Unfähigkeit darstellte, das soeben Erlebte unter Kontrolle zu behalten. „Einführung, Phelan, Bürge, Mael - Scheiße, Scheiße, Scheiße!“ Ich fluchte und stampfte mit den Füßen auf, während ich unablässig an meinem Rücken herumfummelte und versuchte, durch komische Verrenkungen die Bänder zu lösen. All meinen Frust legte ich in diese Aktion und bemerkte erst einige Momente später, dass Daron sich eine Hand vors Gesicht hielt. Irritiert hielt ich inne. Auch wenn er seinen Mund bedeckte, konnte er nicht das verräterische Funkeln verstecken, das sich in seinen grünen Augen breitgemacht hatte.

Er lachte.

Der Mistkerl lachte mich tatsächlich aus.

„Was ist denn daran so lustig?“, fauchte ich ihn an und hätte ihn trotz aller Liebe gern wie einen Frosch an die Wand geklatscht.

Vorsichtig räusperte sich Daron und nahm langsam die Hand herunter. Seine Mundwinkel zuckten unablässig. Er hatte wirklich gut zu kämpfen, um nicht laut loszuprusten.

„Entschuldige, Aline, aber du bist einfach süß, wenn du so wütend bist. Und du bist sogar noch süßer, wenn du wie ein schneebedeckter Floh mit den Armen auf dem Rücken wild fluchend durch die Gegend hüpfst.“

Schnell ließ sich Daron die Haare ins Gesicht fallen, weil ich nicht sehen sollte, wie er den Kampf gegen das Lachen verlor. Doch hatte er nicht mit Sherlock Heidemann gerechnet. Das Zittern seiner Schultern war mir Beweis genug für sein Vergehen.

Wie gern hätte ich ihn angeschrien, er solle mich verdammt noch mal ernst nehmen. Doch der gewünschte Effekt war bereits eingetreten. Das Bild eines weißen, schrill quiekenden Flohs, der wie bescheuert auf der Stelle hopste, hatte sich bereits in mein Hirn gebrannt und wusch wie eine Welle über das lodernde Feuer der Frustration hinweg. Im nächsten Moment musste ich kichern, und ehe ich mich’s versah, lachte ich auch schon los. Daraufhin gab auch Daron den Kampf gegen die Situationskomik auf. So standen wir uns beide gegenüber und lachten. Wir lachten so sehr, bis uns die Bauchmuskeln weh taten und mir kleine Tränen der Erheiterung die Sicht verschwimmen ließen.

Mit einem fetten Grinsen im Gesicht kam Daron auf mich zu, drehte mich an den Schultern um und schnürte mir spielend leicht das Kleid auf. Luft – ich bekomme wieder Luft, dachte ich noch, als es mit einem leisen Rascheln zu Boden glitt. Außer einem weißen Spitzentanga und halterlosen Strümpfen trug ich nichts darunter. Ein BH war dank des Korsetts unnötig gewesen, aber das war auch schon der einzige Vorteil dieses Verbrechens an der Frauenwelt. So stand ich nun halb nackt vor dem Mann, den ich liebte, und kam mir ob meines Wutausbruchs ein wenig blöd vor. Darons Belustigung darüber war ebenso schnell aus seinem Gesicht verschwunden, wie das Kleid gefallen war. Was sich jetzt in seinem Blick spiegelte, hatte nichts mit Spaß zu tun. Stattdessen sah ich Lust aufflammen, und ein derartiges Verlangen stahl sich in seine Augen, dass es mir einen Schauer über den Rücken jagte. Langsam machte er einen Schritt auf mich zu und nahm mich erneut in die Arme.

„Das, was du heute geleistet hast, Kleines, war erneut ein Paradebeispiel für Größe und Mut. Dich einer unkalkulierbaren Situation zu stellen und nicht wie manch anderer feige das Feld zu räumen … Größe und Mut, diese beiden Eigenschaften bekommt man nicht einfach von der Natur geschenkt. Die muss man sich hart erarbeiten. Du hast sie dir nicht nur erarbeitet, du hast sie dir erkämpft. Dafür gebührt dir mein ganzer Respekt und mein Stolz darauf, dass du mich gewählt hast. Ich bin stolz, dein Mann sein zu dürfen.“

Wie warme Schokolade überzogen diese Worte meine gebeutelte Seele und erstickten die letzten noch glimmenden Reste von Zorn. Ich schloss die Augen und schmiegte mich an Darons Brust. Auch durch den Stoff seines Hemdes hindurch duftete er so herrlich nach Wald und Regen, nach jungem Moos im Morgenlicht, nach feuchter Erde unter meinen Händen, und erinnerte mich damit an das, was mir wirklich wichtig war. Nur bei ihm konnte ich mich fallen lassen, nur bei ihm fand ich das, was ich immer gesucht hatte.

Grenzenlose Freiheit.

Wobei das genau genommen ziemlich paradox war. Wenn ich daran dachte, durch welche Vorsehung ich in die Mutterrolle der zukünftigen McÉag-Generation gepresst worden war, dann konnte man wahrlich nicht von Freiheit sprechen. Eingezwängt in jahrtausendealte, starre Traditionen, Riten und Statuten fing ich gerade erst an, mich auf meine neue Aufgabe vorzubereiten. Nein, frei war ich dabei wirklich nicht. Und trotzdem war ich gewillt, mich meinem Schicksal zu fügen und mich dem Unvermeidlichen zu stellen. Früher hätte ich in so einer Situation Panik bekommen und wäre gerannt wie eine Irre, nur um dem zu entkommen, dem im Endeffekt nicht zu entkommen war.

Heute wollte ich aber nicht rennen.

Nicht mehr.

Denn ich hatte mein Ziel schon längst erreicht.

Und dieses Ziel hielt mich gerade in seinen starken Armen und gab mir das Gefühl, dass nichts, was jemals passieren würde, unsere Liebe zerstören konnte.

Behutsam blickte ich hinauf in Darons schimmernd grüne Augen. Sie waren erfüllt von solch einer Liebe und Hingabe, dass sich wie so oft ein Kloß in meinem Hals bildete. Wie konnte dieses Bild von Mann, das an jedem Finger locker zehn Frauen hätte haben können, ausgerechnet mich lieben? Mich, den Wildfang mit dem Dickkopf, der mit Begeisterung in jedes Fettnäpfchen sprang und dabei auch noch zickig zynisch wurde?

Die Kerzen des nahestehenden Leuchters spiegelten ihr Feuer in Darons schwarzer Mähne und ließen sie glänzen wie einen Vorhang aus teurer Seide. Gott, wie liebte ich diesen Anblick, wie liebte ich seine helle Haut, seine ebenmäßigen, hohen Wangenknochen und seine weich geschwungenen Lippen. Mochte er auch der Tod der reinen Seelen sein, für mich war er alles, was ich wollte und was ich mir je gewünscht hatte.

Vorsichtig stellte ich mich auf die Zehenspitzen, meine Hände auf Darons Brust gelegt, und küsste ihn mit einer Zuneigung, die nur echte, tiefe Liebe zu geben vermochte. Seine Lippen schmeckten wie Waldhonig, süßlich zögernd und fordernd herb zugleich, so als wäre Daron sich trotz seines Verlangens nicht ganz sicher, ob er meiner leidenschaftlichen Aufforderung tatsächlich nachgeben sollte. Ich dagegen wusste ganz genau, was ich wollte, und verlieh meiner Absicht Nachdruck, indem ich eine Hand langsam, aber zielstrebig unter seinen Hosenbund wandern ließ und ihm mit meiner Berührung einen tiefen Seufzer entlockte.

Egal, was es mich noch kosten würde, an seiner Seite zu sein, egal, durch welche Hölle ich noch würde gehen müssen, in diesem Moment war es für mich nur ein verschwindend kleiner Preis gegen das Glück, für immer mit Daron zusammen zu sein. Selbst wenn das bedeutete, Mael als Gouvernante erdulden zu müssen - mit Darons Hilfe würde ich auch diese Hürde meistern.

Hätte ich damals allerdings geahnt, was noch auf mich zukommen sollte – ich hätte meine Zuversicht sorgfältig in Seidenpapier gewickelt, in eine Schublade tief in meinem Herzen geschlossen und den Schlüssel für immer weggeworfen.

Verraten - Die Linie der Ewigen

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