Читать книгу Verraten - Die Linie der Ewigen - Emily Byron - Страница 14

10

Оглавление

Tosend brach sich das Meer in der Brandung und ließ weiße Gischtkronen drohend an den steilen kahlen Klippen der Felswand abprallen. Wind fuhr mir durch das Haar und drückte es mir in die Augen, sodass ich wiederholt erfolglos versuchte, es mir hinter den Ohren festzuklemmen. Unendlich weit erstreckte sich vor mir der Ozean, während sich am Horizont die aufgehende Sonne ihren Weg in einen neuen Tag erkämpfte. Einzelne Strahlen drangen bereits über den Himmel hinweg und kitzelten mit ihrer noch schüchternen Wärme meine Nasenspitze. Tief sog ich den salzigen Geruch von kalter Nässe in mich auf. Wie lange schon hatte ich das Meer nicht mehr gesehen …

Ich blickte mich um und erkannte, dass ich mit nackten Füßen am Rand einer Klippe stand, gerade noch so weit vom Abgrund entfernt, dass ich keine weichen Knie bekam. Unter mir stürmte die blaue Tiefe, zeitweilig unterbrochen von dem Schrei einer einzelnen Möwe. Es war zwar nicht bitterkalt, doch der Wind fuhr unter mein leichtes, rotes Kleidchen mit seinen dünnen Trägern und ließ mich fröstelnd erschauern. Ich schlug mir die Arme vor den Körper und rieb mir über meine mittlerweile prächtig gewachsene Gänsehaut.

Wo war ich nur?

Wie war ich überhaupt hierher gekommen?

Verwirrt und orientierungslos wandte ich dem Abgrund den Rücken zu und betrachtete die umliegende Landschaft. Flache grüne Wiesen bildeten eine ebenso weite Unendlichkeit wie das Blau des Ozeans auf der anderen Seite. Nichts in unmittelbarer Nähe war vorhanden, was mir auch nur den kleinsten Hinweis darauf gegeben hätte, wo ich mich befand. Lediglich die Umrisse einiger Berge am Horizont waren zu erkennen und ein riesiger, grauer Findling, der sich in einiger Entfernung wie ein einsamer Wächter aus dem sich im Wind stetig wiegenden Gras erhob.

Irgendetwas bewegte sich dort.

Ich kniff meine Augen stärker zusammen und versuchte, mir mit einer Hand die Haare aus den Augen zu halten, was ich im nächsten Moment bereute, da mir wieder ein gutes Stück kälter wurde. Langsam schob sich die Sonne hinter mir den Himmel hinauf und warf, während sie mir wie ein schüchterner Liebhaber zärtlich über den Rücken strich, einen langen Schatten meiner Figur in Richtung des Felsens. Die Nacht vor mir hatte bereits ihren Rückzug angetreten, doch erreichte das spärliche Licht noch nicht alle grauen Stellen unter der Wolkendecke. Angestrengt fixierte ich weiter den Felsen und versuchte zu erkennen, was sich am Ende meines Schattens befand.

Da, wieder!

Eindeutig eine Bewegung.

Neugierig wagte ich einige Schritte vorwärts, unsicher, was mich erwartete, als sich eine dunkle Gestalt vom Stein löste und kriechend hinter ihm zum Vorschein kam. Instinktiv hielt ich inne. Gefahr!, schoss es mir in dieser Sekunde wie ein Schnellfeuerstoß durch jede meiner Zellen und ließ das Adrenalin in meinem Körper explodieren. Langsam bewegte sich die geduckte Gestalt auf allen vieren auf mich zu. Ich blickte nach links und rechts, doch gab es in der grünen Ödnis für mich nicht die geringste Möglichkeit, nach einem Versteck oder einer anderweitigen Deckung zu suchen. Es gab nur die Tiefe im Rücken, die mir so betäubend in den Ohren toste, als würde sie mit aller Macht nach mir rufen. Mit wild klopfendem Herzen wandte ich mich wieder dem unbekannten Wesen vor mir zu.

Eiskaltes Entsetzen fuhr mir durch die Glieder und ließ mich rückwärts stolpern. Es gelang mir jedoch, mich mit einer Hand am Boden abzufangen und sofort wieder aufzurichten, während ich keine Sekunde den Blick von dem Grauen nahm, das sich unablässig in meine Richtung bewegte.

Gleißend gelbe Augen fixierten mich aus dem Gesicht des rotbraunen Wolfes, als er die Zähne fletschte, die Lefzen vor Geifer triefend nach oben zog und ein Knurren aus seiner Kehle ertönen ließ, von dem ich wusste, dass es mir galt. Es besagte: Egal ob ich stehen blieb oder noch ein paar Schritte nach hinten tat – lebend würde ich dieser Situation auf keinen Fall entkommen. Tatsächlich wollte ich impulsartig nach hinten ausweichen, erlangte aber im letzten Moment wieder die Kontrolle über mich und blieb genau dort stehen, wo ich mich befand. Wenn ich eines über Wölfe und Hundeartige wusste, dann dass Rückzug als Unterwürfigkeit gewertet wurde und die Angriffslust nur noch beschleunigte. Trockenheit befiel meine Kehle und ließ meine Stimme verdörren wie eine afrikanische Steppenlandschaft. Nicht, dass ich irgendwas hätte sagen wollen.

Was auch? – Braves Hundchen, bitte friss mich nicht?

Fast hätte ich bei dem Gedanken laut losgelacht.

Schon komisch, was einem in lebensbedrohlichen Situationen durchs Gehirn schießt. Das liegt wohl an der Hysterie, die die Seele in Windeseile wie einen Wall um sich herum errichtet, um sich im Angesicht des nahenden Todes vor dem drohenden Verrücktwerden zu schützen.

Egal, ob du zerfleischt wirst – Hauptsache, du hast davor noch was zu lachen.

Immer näher kam der Wolf, immer lauter wurde sein Knurren. Auch wenn ich nicht wirklich fähig war, meinen Blick von der traumatisierend gelben Iris abzuwenden, in der sich die Pupillen unablässig öffneten und schlossen wie ein lebendiges schwarzes Loch, erhaschte ich doch einen kurzen Blick auf das Fell. Zerzaust und schmutzig lag es an seinem auffallend dünnen Körper an und ließ an mancher Stelle mehr als deutlich die Rippen unter dem kaum mehr vorhandenen Fleisch hervortreten. Der Wolf hatte offenbar lange nichts mehr gefressen und wähnte sich nun endlich am Ende seiner Hungersnot. Normalerweise suchten Wölfe beim zufälligen Aufeinandertreffen mit Menschen in freiem Gelände sofort ihr Heil in der Flucht. Dass dieser hier, der noch dazu die Größe eines kleinen Ponys besaß, so derart aggressiv auf mich losging, ließ keinen Zweifel an seiner Absicht.

Scheiße.

Scheiße.

Scheiße!

„Der große Hund wird uns doch nichts tun, oder?“

Schreck explodierte in meiner Mitte und ließ mich atemlos aufkeuchen, als links neben mir ein kleines Mädchen mit seiner zierlichen Hand nach meiner fasste und sie ängstlich festhielt.

Wo war das denn auf einmal hergekommen?

Fassungslos blickte ich zu ihm hinunter und sah in die wundervollsten blauen Augen mit den längsten Wimpern, die ich mir vorstellen konnte. Sorge stand in das niedliche Puppengesicht geschrieben, während es der Wind mit seinen langen rotblonden Löckchen umspielte. Und als wäre das noch nicht genug gewesen, bemerkte ich mit Entsetzen, dass das Kind vollkommen nackt und beinahe blau gefroren war.

Erneut vernahm ich das bedrohliche Knurren des Wolfes und reagierte rein instinktiv, ohne einen wirklich klaren Gedanken gefasst zu haben. Die Natur hatte schon clever dafür gesorgt, dass sich im richtigen Moment ein ureigener Schutzimpuls in Gang setzte. Ungeachtet dessen, dass ich mich von der drohenden Gefahr abwandte, fasste ich das Mädchen unter den Armen und hob es auf meine Hüfte. Fest presste ich es an mich, während es so schnell es konnte seine kleinen Ärmchen um meinen Hals schlang und sein Gesicht an meiner Brust vergrub.

„Ist schon gut, kleine Maus, es wird alles gut, ich bin bei dir“, flüsterte ich dem vor Kälte und Angst zitternden Kind in sein kaltes Ohr und streichelte dabei sanft über seine weichen, engelsgleichen Haare. Auch wenn es eine gemeine Lüge war: Wenigstens die Kleine sollte so lange wie möglich von dem Unheil verschont bleiben, das uns beiden zu widerfahren drohte.

Da vernahm ich ein tiefes, heiseres Lachen aus der Richtung, aus der sich uns der Wolf genähert hatte. Plötzlich wusste ich, wem dieses Lachen gehörte. Immer weiter schwoll es an, bis ich angewidert den Kopf drehte und dicht vor mir einen Mann bedrohlich aufragen sah. Binnen einer hundertstel Sekunde registrierte ich, dass auch er nackt war und dass zahlreiche Schrammen und blaue Flecken seinen Körper zierten. Seine Wangenknochen traten stärker hervor, als ich es von ihm in Erinnerung hatte, was seinem Gesicht einen umso bedrohlicheren Zug verlieh. Er sah aus, als wäre er vor Kurzem in eine Schlägerei geraten und anschließend nackt durch Dornenbüsche gerannt, die ihm die Haut aufgerissen hatten. Einzig sein diabolisches Grinsen und das wachsame Funkeln seiner gelben Augen verrieten mir, dass ich mich von seinem ramponierten Äußeren nicht täuschen lassen durfte. Sah er auch mitgenommen und geschwächt aus, so steckte doch noch genügend Kraft in ihm, um mich und dieses Kind mit nur einem einzigen Fingerschnipser über die Klippe ins Reich der Dunkelheit zu schicken.

Dieses Kind …

Phelan trat einen weiteren Schritt auf mich zu. Ich widerstand mühsam dem Verlangen, nach hinten auszuweichen.

„Hat dein Bruder nicht schon genug Schaden angerichtet? Ist es nicht irgendwann einmal genug?“, fragte ich mit einer ruhigen Stimme, die selbst mich überraschte, während ich das ängstliche Mädchen weiter behutsam an mich drückte.

„Du redest von Schaden, Bewahrerin? Was ist mit dem Schaden, den du über diese Familie gebracht hast, indem du dich ihm vorgeworfen hast wie eine läufige Hündin?“ Hass loderte in Phelans Augen und fraß sich wie ein Buschfeuer durch die blühende Landschaft meiner Seele. Zurück blieb nichts als verbrannte Erde.

„Ich dachte, Hündinnen wären eher dein Spezialgebiet, Wolfsauge.“

Das saß.

Wie immer griff ich unbewusst und ohne nachzudenken in brenzligen Situationen auf meine stärkste Waffe, die Schlagfertigkeit, zurück. Ob das klug gewesen war, würde sich in wenigen Sekunden zeigen.

Für einen kurzen Moment verließ ihn tatsächlich seine arrogante Überheblichkeit, und Phelan stand erstaunt ob meines harten Konters mit offenem Mund vor mir. Ich nutzte den Augenblick seiner Sprachlosigkeit und fuhr unbeirrt mit meinem verbalen Angriff fort. Zähne und Klauen konnten Fleisch nur einmal zerfetzen, einmal ausgesprochene Worte dagegen jeden Tag aufs Neue. Nein, ich würde sicher nicht kampflos untergehen. Und wenn ich auch körperlich unterlegen war, so kämpfte ich mit dem Mut der Verzweiflung und den einzigen Mitteln, die mir zur Verfügung standen.

Intelligenz.

Frechheit.

Und einer großen Klappe.

„Wenn du mich und das Mädchen schon bedrohst und dem Untergang weihst, Phelan, willst du uns dann nicht wenigstens vorher wissen lassen, was dich so sehr vor Hass zerfrisst, dass es dir offenbar egal ist, wenn zwei Menschen dadurch zugrunde gehen?“

Wut hatte sich wie ein lodernder Feuerball in meinen Eingeweiden gebildet und ließ mich so sehr zittern, dass ich Mühe hatte, das kleine Mädchen weiter festzuhalten. Aber egal, was kommen mochte, ich würde es nicht fallen lassen, niemals! Und so sehr auch der Jähzorn in mir loderte und danach schrie, dass ich mich auf Phelan stürzte, ihn schlagen, beißen und ihm die Augen auskratzen sollte, so wenig war ich in diesem Moment fähig, meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Fauchend wie eine in die Enge getriebene Katze hatte ich ihm meine Worte ins Gesicht gespuckt und dabei keinen Zweifel daran gelassen, dass ich nur mit wehenden Fahnen untergehen würde.

Doch anstatt sich auf der Stelle wieder in seine Wolfsgestalt zu verwandeln und mich anzufallen, zog überraschend ein Ausdruck völligen Unverständnisses über Phelans Gesicht. Tiefe Falten bildeten sich auf seiner Stirn und nahmen seiner Mimik die soeben noch vorhanden gewesene tödliche Schärfe.

„Du weißt es wirklich nicht, oder?“

„Was, Phelan? Was zum Teufel soll ich denn wissen? Ihr Ewigen seid wirklich ein derart überheblicher Haufen, wie ich ihn bisher noch nie erlebt habe. Anstatt mit mir zu reden, haut ihr lieber einer nach dem anderen auf mich drauf und wundert euch, warum ich von euren Familiengeschichten keine Ahnung habe und euer Verhalten zum Kotzen finde.“

Phelans Züge entspannten sich weiterhin und machten Platz für einen neuen Ausdruck.

Unsicherheit.

Und Vorsicht.

Wie in Zeitlupe hob er einen Arm und zeigte auf das ängstliche Kind in meinen Armen.

„Du willst die Wahrheit? Den Grund für meine Ablehnung dir gegenüber? Dann sieh dir das Mädchen an, Bewahrerin. Sieh ihr genau ins Gesicht und sag mir, dass es nichts gibt, dessen du dich an unserer Familie versündigt hast.“

Nun war es an mir, meine Stirn in Falten zu legen.

Was wollte Phelan mir damit sagen?

Irritiert und mit anfänglichem Zögern blickte ich zu dem Kind herab, dass sich weiterhin an mich klammerte wie eine Ertrinkende an ein Stück Holz. Behutsam streichelte ich ihm erst über sein kleines Lockenköpfchen und flüsterte ihm einige beruhigende Worte zu, bis ich vorsichtig meine rechte Hand unter sein Kinn legte und sein Gesichtchen zu mir wandte.

Seine großen Augen blickten mir hinter einem Vorhang rötlich blonder Strähnen entgegen, die im Licht der hinter uns aufgehenden Sonne wie reines Kupfer schimmerten. Liebevoll nahm ich dem Mädchen mit meiner freien Hand die vom Wind zerzausten Haare aus dem Gesicht, um einen besseren Blick auf seine Züge werfen zu können. Voller Zuversicht, so als wäre auf meinem Arm der sicherste Platz auf der ganzen Welt, sah es mich mit seinen hellblauen Augen an, um deren Pupillen sich irisierend gelbe Kränze befanden. Seine Augen schimmerten so blau wie das Wasser der Arktis, auf deren Eisbergen sich das Mittagslicht der Sonne brach. Ich wollte so gern in sie eintauchen, die Seele der Kleinen ergründen und sie beschützen, als sich Eiseskälte schlagartig in meinen Füßen ausbreitete und langsam meine Beine herauf kroch, sich in meinen Unterleib schob, weiter über meinen Bauch und durch meine Eingeweide hoch bis hinein ins pumpende Zentrum meines Körpers, wo sie sich wie ein tödlicher Mantel um mein Herz legte und es mit einem stechenden Schmerz zum Stillstand brachte.

Scharf sog ich die Luft ein und hatte Mühe, nicht auf der Stelle hinzufallen. Meine Knie wurden weich wie Gummi, als wären wie durch Zauberhand Knochen und Muskeln von einer Sekunde auf die andere verschwunden.

Fassungslos blickte ich von dem Kind auf zu Phelan, der mich die ganze Zeit über aufmerksam beobachtet hatte. Ich wollte sprechen, aber meine Stimme versagte mir den Dienst. Heraus kam nichts als heiseres, atemloses Keuchen.

„Ich sehe, jetzt hast du verstanden.“

Mit diesen Worten drehte Phelan sich um und ließ mich mit dem Mädchen auf meinem Arm verloren mitten im Nirgendwo zurück. Ließ mich zurück mit einem Kind, das ich bis vor wenigen Augenblicken noch nicht einmal gekannt hatte und von dem ich nun wusste, woher es gekommen war.

Nein, nein, das konnte einfach nicht sein.

Wie paralysiert schaffte ich es gerade noch, das Mädchen unversehrt auf den Boden zu setzen, bevor der Schock mich erfasste und mit voller Wucht auf die Knie schleuderte. Röchelnd stützte ich mich auf meinen Händen ab und rang verzweifelt darum, nicht den Verstand zu verlieren. Ich hatte erkannt, was ich nicht hatte erkennen wollen, und nun schützte mich meine Seele davor durchzudrehen, indem sie mich zwar die Puzzleteile betrachten, aber nicht zusammensetzen ließ.

Eine kleine Hand legte sich auf meine Schulter.

„Was hast du, Mami?“

Tränen brachen sich Bahn, drängten an die Oberfläche und liefen mir in heißen Bächen die Wangen herab.

Ich schrie.

Ich schrie so laut wie noch nie zuvor in meinem Leben.

Verraten - Die Linie der Ewigen

Подняться наверх