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Erste
Unwetter
ОглавлениеAb Kühlungsborn, wo ich mir vornahm, ein opulentes Frühstück zu genießen, wurden es deutlich mehr Menschen. Vor allem Radfahrer kreuzten oft meinen Wanderweg. Auch wenn dieser meist separat verläuft, befand ich mich dennoch auf dem Ostseeküstenradfernweg, der hier einen Teil des Europafernwanderweges ausmacht. Der Internationale Küstenweg E9 ist einer der zwölf Fernwanderwege, die von der Europäischen Wandervereinigung initiiert wurden. Insgesamt hat der Weg eine Länge von 5000 Kilometern und führt von Portugal entlang der Küsten des Atlantiks, der Nordsee und der Ostsee bis nach Estland. Ich beobachtete, dass es meist Pärchengruppen waren, die hier den Ostseeküstenradweg bestritten. Immer wieder bot sich mir das gleiche Bild: Zwei Kerle schwatzend auf dem Rad vorneweg und zwei Damen etwa zehn Meter hinter ihnen, etwas lauter schwatzend. Pärchenzeit ist dann wahrscheinlich nur während der Pausen oder am Abend in der gemeinsamen Pension möglich.
Bei einem Italiener in Börgerende, wo ich ein Tiramisu verspeiste, füllte ich auch meine Wasservorräte auf und lief das letzte Stück Steilklippe bis kurz vor Nienhagen in den Gespensterwald. Der Name ist wirklich zutreffend. Der Wald könnte mit seinen verwachsenen, bizarr anmutenden Baumformen direkt einem Märchen entsprungen sein. 1943 wurde der Gespensterwald Nienhagen zum Naturschutzgebiet erklärt und ist seither Teil des 100 Hektar großen Waldgebietes Nienhäger Holz. Die Eichen, Buchen, Hainbuchen und Eschen des Waldes wurden mit der Zeit vom Seewind der Ostsee geprägt. Es hat den Anschein, als ob die Kronen und Stämme vor dem Wind fliehen wollen, was ihnen auch die Bezeichnung »Windflüchter« eintrug.
Im Gespensterwald zeigte mir meine Wanderkarten-App am Waldrand zur Ostsee zwei Schutzhütten an, in denen ich die Nacht verbringen wollte. Die erste war nicht schön gelegen. Die zweite hingegen war ein Traum, direkt am Rand der Klippe mit freiem Blick übers Meer. Ich überlegte nicht lange und machte mein Bett mit Isomatte und Schlafsack auf einer der beiden Bänke in der Hütte zurecht. Allerdings die ganze Zeit mit einem Gefühl von »Sollte ich nicht doch lieber das Zelt aufbauen?« Es könnte sich durchaus als problematisch erweisen, dass die Hütte alt und morsch ist. Hier und da fehlen ein paar Holzlatten. Wenn es regnen würde, wäre ich genauso nass, als wenn ich unter freiem Himmel schliefe.
Mein Gefühl täuschte mich nicht, denn gerade als ich zu Bett gehen wollte, erhellte ein Blitz die Nacht. Ich überlegte nicht lang und baute mein Zelt außerhalb der Hütte auf. Während ich das Zelt errichtete, kam die Gewitterfront rasend schnell näher. Ich schaffte es gerade noch so, vor dem Einsetzen des Regens trocken in mein Zelt zu springen. Allerdings sollte der Spaß hier nicht aufhören. Es schüttete, blitzte und donnerte so heftig, dass ich bald merkte: Unter mir stimmt irgendetwas nicht. Das Zelt stand in einer Vertiefung im Boden, die in etwa meine Körpergröße hatte. Eigentlich perfekt, um gerade samtig-weich eingebettet in den Tiefschlaf zu fallen. Allerdings hatte ich im Eifer des Gefechts nicht bedacht, dass das natürlich auch ein super Ablauf für das niederprasselnde Regenwasser war. Einmal mehr nachgedacht wäre schon hilfreich gewesen! Auf jeden Fall bildete sich nun unter der einen Längshälfte des Zeltes eine Pfütze. Kein Problem, sagte ich mir und räumte im Zelt alles um: Isomatte auf die andere Seite und gut. Es dauerte nicht lang, da durfte ich über die vielleicht zehn Zentimeter tiefe Pfütze staunen, die sich direkt unter dem Zelt staute, und ich konnte nun kleine Wellen unter dem Zeltboden zaubern. Da auf der anderen Seite des Zeltes kein Druck mehr lastete, drang das Wasser tatsächlich bis zum Morgen nicht ins Innere. Trotzdem ließ mich das Unwetter nicht so recht schlafen. Normalerweise ziehen Gewitter recht schnell vorüber, und der Himmel beruhigt sich bald darauf. In der Nacht wurde ich allerdings halbstündlich munter von dem Getöse. Morgens um vier Uhr stellte ich fest, dass die Intensität, mit der das Wasser auf den Boden prasselte, so heftig war, dass es unter den Rändern des Außenzeltes durchspritzte und das Innenzelt bereits an allen Ecken ordentlich durchnässte. Mit Kamerastativ, Wasserbeuteln und allem, was ich dabeihatte, baute ich nun innerhalb des Zeltes einen Wall, damit der Rucksack und vor allem der Schlafsack nicht mit der Nässe in Berührung kamen. Irgendwann fühlte ich mich dann so sicher, dass ich noch ein paar Stunden durchschlief. Auch wenn solche Unwetter die Nachtruhe natürlich beeinträchtigen, genieße ich sie. Die Stimmung, die Naturgewalten aus nächster Nähe zu erleben und das zusätzliche Erfolgserlebnis, Zelt und Equipment durch einfachste Mittel erfolgreich vor einer Havarie gerettet zu haben, hinterlassen tiefe Zufriedenheit und ein Glücksgefühl. Solche Momente kann man vermutlich nur außerhalb seiner Komfortzone erleben. Wenn man so eine Nacht auch noch an einem Ort erlebt, der sich treffenderweise Gespensterwald nennt, hätte der Moment besser gar nicht sein können.