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Mein ganz persönliches
Endzeitszenario
ОглавлениеAm Morgen des 20. Mai 2019 ging mein Zug von Leipzig nach Sylt. Neun Stunden Fahrt lagen vor mir. Für die ersten zwei Nächte hatte ich mir auf Sylt eine Unterkunft gebucht und wurde gleich mit einem für Deutschland ungewöhnlichen Preisniveau konfrontiert. Sylt wird nicht umsonst als Insel der Reichen und Schönen betitelt. So buchte ich die billigste Unterkunft, die ich finden konnte: für schlappe 150 Euro pro Nacht. Der Eigentümer der Pension holte mich persönlich am Bahnhof ab. Er drehte in seinem SUV noch ein paar Runden mit Umwegen, während er mir einiges über die Insel erzählte.
Sylt ist nach Rügen, Usedom und Fehmarn die viertgrößte Insel Deutschlands und die größte deutsche Nordseeinsel. Sie erstreckt sich über 38 Kilometer in Nord-Süd-Richtung. An der Ostseite das Wattenmeer, das bei Niedrigwasser weitgehend trocken liegt und Teil des Nationalparks Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer ist. Sylt ist die einzige Nordseeinsel, auf der heute noch Wanderdünen zu bestaunen sind. Viele Jahrzehnte lang wurden im Norden und im Süden der Insel immer wieder Acker- und Weideflächen, aber auch Häuser unter den Sandmassen begraben. Um ihre Häuser, Grund und Boden zu schützen, begannen die Anwohner, die Dünen mit Strandhafer zu bepflanzen. Durch die bis zu zwölf Meter langen Wurzeln kann ein Wandern der Dünen verhindert werden. Die größte der heute noch existierenden Wanderdünen steht unter Naturschutz und darf nicht betreten werden. Allerdings gibt es gut angelegte Wanderwege, auf denen man den Wanderdünen im Listland nahe kommen kann. Westerland ist das Zentrum der Insel, wo knapp die Hälfte der rund 18 000 Einwohner von Sylt lebt. Wer es ruhiger mag, genießt lieber die ausgedehnten Heide- und Dünenlandschaften im Inselnorden. Dort, in der Nähe von List, hatte ich mir für die ersten zwei Nächte ein Zimmer gesucht, um mich auf die Tour vorzubereiten und am nördlichsten Punkt Deutschlands meine Wanderung zu beginnen.
Ich wanderte vom Norden der Insel zum elf Kilometer langen Hindenburgdamm, der Sylt mit dem Festland verbindet. Meine letzte Nacht verbrachte ich im Freien, unterhalb des Morsum-Kliffs, einer mehr als 20 Meter hohen und bis zu zehn Millionen Jahre alten Felsformation. Bereits am Hindenburgdamm musste ich meine Wanderung kurz unterbrechen, da dieser nicht begehbar ist, sondern nur mit dem Zug passiert werden kann.
Die ersten 517 Kilometer meiner Tour führten nach Sylt entlang der Nordsee, über den Nord-Ostsee-Kanal bis auf die Halbinsel Fischland-Darß-Zingst. An der Ostsee war ich auch früher schon oft, die Nordsee hingegen war mir bis dahin unbekannt. Gerade die Stimmung bei Ebbe faszinierte mich. Von Klanxbüll bis nach Husum bewegte ich mich hauptsächlich auf dem Nordsee-Radweg vorwärts, der um diese Jahreszeit menschenleer war. Allerdings hatte ich dafür noch nie zuvor so viele Schafherden gesehen, die auf der östlichen Seite meines Weges unermüdlich das frische grüne Gras stutzten.
Auf der westlichen Seite lag die Nordsee, die zwischen den Gezeiten wechselte und unermüdlich kalten Wind von der See an Land blies. Meine Fantasie wurde von dem kalten, rauen Wetter und der unendlichen Weite bei Ebbe beflügelt. Gleichzeitig machte sich eine Art Endzeitstimmung in mir breit. Das war es wohl auch, was mir einen solchen Kick gab. Schon seit ich denken kann, verschlinge ich Endzeitromane und lasse keinen Hollywoodfilm aus, der sich diesem Thema widmet. Endlich konnte ich meine zugegebenermaßen etwas bizarre Vorliebe für Endzeitszenarien ungehindert ausleben. Ich fühlte mich ein wenig wie Denzel Washington in »Book of Eli« oder wie der Revolvermann Roland Deschain in Stephen Kings Fantasy-Saga »Der dunkle Turm«.
Der stetige Wind kennt keine Pause.
Die Wolkenformationen und der weite Blick bei Ebbe beflügeln meine Fantasie.