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Pekingoper

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Schade, an diesem Abend wird nicht der Affenkönig gegeben, der mit seinem Schabernack Unruhe in den Himmel trägt. Wäre wohl das Richtige für die dreijährige Veneta. LaoWai hat keine Bedenken, das Enkelkind in eine Pekingoper mitzunehmen.

Wer Pekingoper sagt, meint kein festes Staatstheater, Stammhaus berühmter teurer Stimmen, sondern eine Stilrichtung. Pekingoper gibt es erst seit gut hundert Jahren, und so kannst du sie getrost zu Chinas jüngeren Künsten rechnen. Aber in Gestus und Gesang, vor allem in der Sprechweise, ist sie so weit vom Heute abgehoben, dass die Intendanten recht tun, wenn sie längs der Bühne per Bildwerfer zum Gesang die Schriftzeichen mitlaufen lassen. Pekingoper wird in vielen Städten Chinas aufgeführt. Zum Glück findest du sie noch immer in manch altem Viertel der Hauptstadt. Mag der trübe Saal mit seinem hölzernen Klappgestühl eher einem Kino gleichen, das seine besten Jahre längst hinter sich gebracht hat, triffst du grad hier, in Wattejacke oder Baumwollkleidung, das treue Publikum, das seine Pekingoper kennt, liebt und kritisch begleitet, sparsam mit seinem Beifall, aber sensibel auf Nuancen reagierend, sei's auf ein Lied, einen kühnen Sprung, oft nur einer Geste wegen.

Auch in einem Nebengelass des Glockentempels, selbst am Himmelstempel magst du der Pekingoper über den Weg laufen, wenn sich Enthusiasten, Männer mit schütterem Haar, Kälte oder Wind nicht fürchtend, zwischen den roten Holzsäulen niederlassen, sorgfältig die Zwei-Saiten-Geige und ein paar Klanghölzer aus der Tasche zaubern und inbrünstig, ohne aufgeschminkte Maske, ohne Kostüm, einen langen Part improvisieren, ganz Stimme, schrill und scharf für sich hin und zur Freude der Umstehenden. Geld wollen sie nicht.

Du wirst die Pekingoper nicht kennenlernen, wenn du auf die jungen smarten Fremdenführer angewiesen bist. Da hilft dir auch nicht die in Deutschland mit deinem Reisebüro verabredete Agenda, auf der ohnehin vorsorglich vermerkt ist: Dritter Abend: Pekingoper oder Akrobatik-Show. Mit bewegten Worten werden sie dir weismachen: "Pekingoper ist unverständlich für den Europäer, unerträglich für seine Ohren. Und dauert fünf Stunden. Gehen wir lieber zu den Artisten!"

Die Wahrheit: Sie, die jungen smarten Männer, haben sich nie in die Pekingoper verlaufen, sie mögen sie nicht, wie die meisten ihrer Generation, lieben und kennen weder den Gehalt der alten Fabeln noch die feine künstlerische Interpretation, auf die sie, als Begleiter, kundig eingehen müssten, wenn auch nur zwei Stunden lang, nicht fünf. Wenn unumgänglich, laden sie dich in der Nobeloper des Nobelhotels ab und erwarten dich am Ende der Vorstellung im Foyer. "Na, hab ich's nicht gesagt?"

Aber auch dort noch wird stimmgewaltig und mit Präzision Staunenswertes geleistet: Orchester, Farbe, Tanz, Maske, Kostüm, das ganze Zusammenspiel fantastisch, freilich eine Spur gröber, auf das Verständnis und den Geschmack der fernhergereisten Ausländer zielend. Entbehren musst du hier die geeigneten Mitspieler - das kundige Publikum.

Selbst an seiner Arbeitsstelle hat LaoWai in den Pausen von einem selbstvergessen singenden Kollegen manche Arie vernommen, treppab oder zwischen dem Grün des Hofes. Gewiss, auch eine Belehrung durch den Abteilungsleiter hatte opernhafte Züge - inszenierter Theaterdonner. Sonst hat LaoWai keine Gelegenheit versäumt, Pekingoper in sich aufzunehmen, auch auf Reisen tief ins Land, wo sich gelegentlich eine Messlatte am Eingangspfosten fand: Für Kinder unter 120 Zentimetern Eintritt frei! Mit seiner Mutter gehörte auch der Säugling in die Oper. LaoWai erinnert sich, selbst in dem Stück Die trunkene Schönheit, in dem Mei Lanfang die Hauptrolle spielte, die Jüngsten im Theatersaal gesehen und vor allem gehört zu haben. Er hat den Nestor der Mimen und großen Neuerer der Pekingoper mehrfach in seinen Glanzrollen erlebt, sehr oft in Gestalt des Mädchens, auf das das Leid der Welt hereinzubrechen droht - in dem bis zum letzten Platz gefüllten Saal hat manches Kind in den Armen seiner Mutter den Klagegesang wie ein Echo begleitet, bis es, unmerklich, von der einen Wunderwelt in die andere hinüberglitt.

Nein, LaoWai hat keine Bedenken, Veneta in die Pekingoper mitzunehmen, sitzt mit ihr in der vorderen Reihe, dass ihr nichts entgeht. Es ist des Mädchens erster Opernabend, und nun ist der Großvater überrascht, weil das Kind zweimal weint, laut genug, dass sich ihr die Opernfreunde rundum teilnehmend zuwenden: Zu Beginn des Abends, als unter dem schrillen Klang der Flöten und Holzfische ein gewaltiger Krieger mit seinem Schwert zur Rampe tritt. Ach, sie weiß ja nicht, dass der im Gesicht rotbemalte General ein gutmütiger, jedenfalls gerechter Kerl ist. Zum zweiten Mal fließen die Tränen am Ende der Aufführung, als der letzte der Schauspieler die Bühne verlässt, ohne Wiederkehr.

(September 1991)

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