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Einmal noch nach Hangzhou

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Für Dietmar Beetz und Werner Heiduczek

Die unbekannte Gottheit achte ohne Arg, vor allem wünsche und erhoffe dir nichts. LaoWai weiß es inzwischen, aber doch erst, seit der Himmel, gnädig und ungnädig, eine Sehnsucht gestillt hat: Hangzhou.

Gewiss war es unbedarft, zumindest unbescheiden, die Leitung des chinesischen Schriftstellerverbandes zu bitten, neben den Metropolen am Perlfluss und am Ausgang des Yangzi auch Hangzhou in den Reiseplan zu setzen. Von dort waren erst vor Kurzem die Bilder eines Taifuns um die Welt gegangen, der die Stadt im Frühsommer streifte. Doch die neu geknüpften Bande, die Schriftsteller aus Peking, Shanghai und Kanton mit denen aus Berlin, Leipzig und Erfurt enger verbinden sollten, waren zu unerprobt, als dass der schon betagte Leiter der Auslandsabteilung den Wunsch der drei Deutschen hätte ablehnen wollen. "Schaut, und versucht euer Glück, wir helfen euch."

Denkt LaoWai an Hangzhou, sieht er die Platanen am Ufer des Westsees zerschlagen und zerspellt, niedergebrochen mancher Pavillon, auch in der Altstadt geborstene Bäume, abgestützt und dick mit Hanfseilen umwickelt. Nur alle hundert Jahre kommt solch ein Sturm über die Stadt. Den geduckten Teefeldern unterhalb der Hügel konnte er nichts anhaben.

Ganz still ist das Wasser des Westsees, noch stört der gleichförmige Ruderschlag den Kormoran nicht, im künstlichen See sitzt er auf einer künstlichen Klippe und hält Ausschau nach einem Fisch. Leb' wohl, Kormoran, wir werden dir nicht zu nahe kommen.

Auf dringlichen Wunsch der Gäste - abends Oper. Gespielt wird in einem weiträumigen Saal, weiträumig auch die Bühne. Dreißig Jahre lang ist LaoWai nicht mehr in China gewesen, nun kann er es nicht fassen, dass sich der Zuschauerraum nicht recht füllen will, hier und dort Familien oder Freunde, zumeist aber alte Leute, die dem nicht besonders aufregenden Treiben auf der Bühne distanziert folgen, mit mäßigem Beifall jedenfalls, Verwechslungsgeschichte mit Liebe und Eifersucht, kunstvolle Arien, schmetterndes Holzfischgetrommel - bis sich der Himmel einmischt und ein Wasserschwall auf das Paar stürzt. Noch überlegt LaoWai, dass er solch naturalistischen Bühneneffekt noch nie in einer chinesischen Oper gesehen hat, als ein Raunen durch den Saal geht. Die umworbene Schönheit streift mit gewohnter Geste, nur umständlicher, die durchweichten langen Ärmel zurück, lächelt die Winzigkeit einer Sekunde - heftiger Beifall; LaoWai wendet sich in den Saal, auch dort, verschiedentlich, Wasser von oben. Nun weicht man in den Reihen aus, aber weicht nicht. Und Donnergrollen, der Drachenkönig kehrt zurück.

Anderntags fahren die drei Deutschen im temperierten Gästeauto zum Kloster der Verborgenen Seelen; noch ehe sie in der Eingangshalle den aus einem Kampferstumpf geschnitzten Maitreya zu Gesicht bekommen, tauchen sie in das Geschrei zudringlicher Verkäufer; die bieten Gebetsketten, geschnitzte Buddhas, heiligen Krims an. Gut, einer alten Frau nehmen sie ein Bündelchen Räucherstäbe ab, das wird brüderlich zwischen Erfurt, Leipzig und Berlin geteilt. Schon halten sie die Stäbchen wie es sich gehört. Sie nähern sich der Haupthalle, wo, überwölbt von einem Baldachin, die Figur des Shakyamuni auf dem Sockel thront. Ein Mönch bietet Feuer für die Weihrauchstäbchen. "Nun sollten wir auch beten", sagt Werner H. dem Berliner. "Ja, du zuerst", bekräftigt Dietmar B., "du kennst dich aus".

Weit - in Berlin, Leipzig, Erfurt - die Parteisekretäre (und Bischöfe). LaoWai kniet nieder vor dem riesigen Buddha, beugt sich zur Erde, tausend Gedanken jagen durch den Kopf, wie zufällig das alles, wie flüchtig, beugt sich ein zweites Mal. Werden die zerspellten Bäume je zusammenwachsen? Am End' ist es fast ein Gebet, inbrünstig und still: "Einmal noch nach Hangzhou!"

Die temperierte Limousine bringt die drei rasch aus der Stadt, an Teeplantagen vorbei, Bambuswäldchen. Hinter Reisfeldern der Flugplatz. Abschied wie alle Abschiede. Aber der Flug nach Kanton wird nicht aufgerufen. Dann wird eine Verspätung gemeldet, die Ansage wird wiederholt und wird immer vager. Die es eilig haben, ziehen nervös an ihrer Zigarette, jemand fragt, was CAAC heiße und antwortet selbst: "China Airways always cancel!" Ein ägyptischer Physikprofessor mit Schweizer Pass, der immer mit CAAC fliegt, wenn er zu den Computerspezialisten unterwegs ist, die er ausbildet, ergänzt sarkastisch: "China Airways always crash!"

Ein neues Gewitter zieht herauf. Es ist kein Flugzeug zerschellt, es fehlt einfach eins, das schadhafte zu ersetzen. Nach vier Stunden Wartens wird für diesen Tag der Flug nach Kanton abgesagt. Unter dem Gewitterhimmel retten sich drei Deutsche in ein Taxi. Und nun geht es:

Einmal noch nach Hangzhou.

(1988)

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