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Anna erzählt einen Film
ОглавлениеNachdem in der Friedrichstraße 169, also Ecke Französische, die einmal mächtige Sprit-Zentrale in dem eher schmucklosen Saal mit einem Abschiedsbankett, letzten Sprit ausreichend, implodiert war - historische Rolle beendet! - hatte die Zunft der Schreiber, bettelnd bei Intertext, immer mal Zugriff auf dieses Zimmer, den, sag ich mal, berühmten Sitzungssaal 201, denn hier richtete mitunter, meist unerwartet, Anna Seghers ihr Wort an die Mitstreiter, fein aus den Augen lächelnd, sprach mit breitem pfälzer Dialekt, aber doch viel zu leise, dass die Älteren unter uns, falls sie am Ende der Tischreihe saßen, angestrengt eine Hand hinter die Ohrmuschel hielten, um sich nichts entgehen zu lassen. Ich hatte vor Jahresfrist eine Sinologin geheiratet, die keine Romane schreibt und freute mich, die Mainzer Sinologin zu hören, die vor allem ihrer Erzählungen und Romane wegen in der Welt geachtet war.
Als folgte sie einer Eingebung, plötzlich aufstehend, nahm Anna Seghers das Wort. War's auf einer kleinen Konferenz? Ging es um den Realismus? Oder wieder einmal um die Wahrhaftigkeit? Wer schreibt, müsse dem Volke nahe sein, flüstert die noch stets anmutige Frau, er müsse dessen Hoffnung und Sehnsüchte teilen. Niemandem dürfe es erlaubt sein, über die Köpfe der Leute hinwegzureden, sie würden ohnehin nur das tun, was sie verstanden hätten, ja, was ihr Herz - oder sagte sie: ihre Seele? - berührt. Und schon erzählt Anna einen Film, einen chinesischen, aus den Revolutionsjahren, den sie vor einiger Zeit angeschaut habe: Eine Gruppe von Bauern, vielleicht die Einwohner eines Dorfes, sei, um dem Hungertode zu entgehen, vor einer gewaltigen Dürre nordwärts geflüchtet. Zu diesen Bauern, die in der Ödnis auf den gnadenlos verkarsteten Boden niedergesunken waren, sei plötzlich ein Trupp revolutionärer Soldaten gestoßen. Ihr Anführer habe sich sogleich vor die am Boden Kauernden gestellt und eine flammende Rede gehalten: "Wir sind", sagte der, mit weiter Hand in die Ferne weisend, "im Auftrag der Revolution durch das unwegsame Gebirge gezogen; wir haben die eisigen Wasser bezwungen" - doch die ausgehungerten Bauern verharrten apathisch auf der Erde. "In blutigen Scharmützeln", fuhr der Redner fort, "haben wir die Feinde geschlagen; auch die grausame Wüste, die wir durchqueren mussten, hat uns nicht verschlungen" - die Bauern stöhnten und schwiegen. "Und im Süden die großen Gewitterstürme, sie konnten uns nicht entmutigen, denn ..." Da stieß einer der eben noch völlig verzweifelten Bauern seinen Nachbarn an und sagte: "Hörst du, es hat geregnet daheim?" –
Als Anna einen Film erzählte, war ich, lang vor der Abreise, bereits unterwegs zu den durstenden Bauern Chinas und den mutigen Soldaten mit der großen Geste, sehnsuchtsvoll unterwegs.
Heute ist gewiss, dass ich nicht recht hingehört, jedenfalls nicht verstanden hatte, was Anna gesagt hat, als sie einen chinesischen Film erzählte.
(1996)