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Das Gesicht verlieren

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Eine Freundin fragt LaoWai, was es in China auf sich habe, sein Gesicht zu verlieren. Umständlich sucht LaoWai nach einer Antwort:

Dasjenige, was in der physischen Realität schlechthin unverlierbar ist (von ein paar schrecklichen Sonderfällen abgesehen), kann im Geistigen in China (und rundum) ziemlich rasch geschehen. Wohl jeder im Mittereich fürchtet sich, sein Gesicht zu verlieren, jeder sucht es unbedingt zu vermeiden, und gefährdet bereits dadurch das also gehütete Antlitz. Wer kann es bis zu End' erklären, was das eigentlich ist - das Gesicht verlieren? Zwischen Wirklichkeit und Anschein tritt dieses Phänomen in zehntausend Varianten und Unmöglichkeiten zutage, und allein die Frage nach seinem Wesen macht jeden Chinesen verlegen. So habe ich mir Zurückhaltung auferlegt, sagt LaoWai, suchte die von meinem Gesprächspartner ausgesandten Signale, bewusste wie unbewusste, recht aufzunehmen und zu verstehen. Dann gerate ich nicht in die Gefahr, jemandem unzumutbar zu nahe zu treten. Ich suche es zu unterlassen, mein Gegenüber, im Namen gründlicher Klärung, zum Äußersten zu treiben, ihm Ausweg oder Rückzug zu versperren. Wer dies recht verstünde und beherzigte, dem eröffne sich eine reiche Skala von Schattierungen zwischen preußischem JA und preußischem NEIN.

"Du sprichst reichlich abstrakt!“ hört LaoWai die Freundin einwenden. So rettet er sich in ein Beispiel, aber eines nur: In der auch sonntags viel befahrenen Ausfallstraße Richtung Sommerpalast, noch vor der modernen Stahlplastik, die aussieht Wie ein "Mahnmal für den unbekannten Korkenzieher", stehen an den größeren Kreuzungen und würdig in Weiß, so Kopfbedeckung wie Handschuhe, Polizisten, um den Strom der Fahrräder und Autos recht zu regulieren. Da kommt, voll des Sommerglücks und getreu der Devise: Ein Rad und Rückenwind, die Freundin hintendrauf - da ist gut fahren! ein Pärchen daher geradelt. Solch gravierende Missachtung der Staatsautorität ist für den Polizisten, der die zwei sogleich entdeckt, ein starkes Stück. Er winkt sie zu sich heran, nimmt kurz die Hand an den Schirm und zieht den Block mit den Strafzetteln. Aber eh noch der verlegene Augenblick der Belehrung plus Entrichtung des Bußgeldes kommt, springt die junge Frau kokett vom Gepäckständer und erklärt mit sanftem Augenaufschlag: "Entschuldigen Sie bitte, Herr Verkehrspolizist, aber wir hatten Sie nicht gesehen, tatsächlich nicht.“

Unverzüglich winkt der Polizist die zwei in den Strom der Verkehrsteilnehmer zurück und tippt die Hand an den Mützenschirm. - Ahnst du, liebste Freundin, wie schön es ist, sein Gesicht nicht verloren zu haben?

Geschichten vom LaoWai

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