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Tiefe Wälder, stille Seen

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Unter den Ausländern in Peking, die sich für kurz oder länger hier niedergelassen, gibt es nur wenige Finnen. LaoWai ist ein einziges Mal, und auch nur für kurze Minuten, einer Finnin begegnet. Aber das war nicht irgendeine. Die finsteren Mienen flüchtiger Bekannter lassen ihn wissen: "Du hast sie vertrieben, hast sie krank gemacht, du Monster, hergelaufenes!"

Natürlich geht es um Hilja, wen sonst. Es geht immer um Hilja, wenn hier Ausländer ins Schwärmen oder ins Fluchen geraten, vor allem Junggesellen, die gelangweilt in den Kontors um das World Trade Center hocken. Oder sie schrubben als Sprachlehrer an schlecht zahlenden Hochschulen ihre drei, vier Jahre runter, um wieder nach Europa oder in die Staaten abzutauchen.

Schon kurz nach seiner Ankunft hatte LaoWai von Hilja erzählen hören; keiner, der nicht von ihrer Schönheit, ihrer Sanftmut sprach oder doch von hellem, weich flutendem Haar, das jedermann bezaubere. Ihm schien das gewiss freundliche Geschöpf vertraut nach allem, was man so redet in den Klubs, in denen sie, nebenbei gesagt, nie einer getroffen hatte. Es ist auch nicht leicht, ihr in der Stadt zu begegnen, in der sie lebt und wohnt, oder doch wohnte - in einem der grauen quadratischen Häuser mit stillem Innenhof, worin sich leben und atmen lässt, Alt-Peking, das auf der Abrissliste steht. Von dort sollte man sie schwerlich verjagen können, wenn Macht und Einfluss des Mannes so stark sind, wie man munkelt.

"Ach, die finnische Teufelin, vergaffst dir die Augen, was soll' s", meinte ein junger Bankkaufmann. - Andere sprachen von Hilja wie von einem nordischen Engel, wieder welche, als sei sie eine kosmische Erscheinung: "Taucht wie ein Komet auf, hinter den Bergen draußen, taucht ebenso unter, unberechenbar". - "Ist mit einer Papiermühle hier hängen geblieben, die die Finnen vor zehn, zwölf Jahren gebaut haben. Liebt'n Chinesen, einen vornehmen, scheuen, ausgerechnet einen Chinesen." - "Die beiden Kinder musst du gesehen haben, Zwillinge, Mädchen und Junge, so was hast du nicht gesehen."

Nun schwärmt ihm nicht von der Schönheit eurochinesischer Kinder. - LaoWai ahnt doch, dass die trauliche Vereinigung des Ungleichen alle Lebenskräfte, Körper wie Geist, immens zu steigern vermag, mögen die Kleingeister hier wie dort die Stirn runzeln und murmeln: "Weiß und gelb, das passt nicht zueinander", und: "Es kann nicht gut gehen!"

Zöge man aus allem Gehörten ein Fazit - Hilja, die Finnin, hieße es, ist eine überaus schöne, kluge, gewiss wohlhabende Frau, das mochte hingehen, und eine vollkommen glückliche. Letzteres war's denn wohl, was LaoWai, ihm selbst noch unbewusst, bestimmte, sich auf die Suche zu machen. Er kennt keine vollkommen glücklichen Menschen, glaubt fest, es gibt sie nicht. So hat er kreuz und quer die alten Viertel der Stadt durchstreift, vergeblich.

Doch denkt nicht schlecht von LaoWai, wenn er nun, um einer schönen Frau oder einer verrückten Idee willen, mal im überfüllten Bus, mal in einer der gelben Billigtaxen in die Berge aufbricht, wann immer sich ein freier Tag auftut, um zwischen den verfallenden und den inzwischen restaurierten Klöstern und Grabpagoden einherzuwandern - er ist lang nicht hier gewesen. Freut sich über die waghalsig angepflanzten Latschenkiefern und Wacholdersträucher, die die Hänge mühsam hinaufklettern, wo einmal kräftige Wälder gestanden haben, ehe all die Kaiser, Äbte und Vögte für ihre Paläste, Klöster, Befestigungen, ihre Häuser und Schiffe die Pracht herunterschlagen ließen. Fragt auch mal einen Tempelwächter oder Mönch nach einer schönen jungen Frau mit hellem Haar, die Chinesisch spricht und Zwillinge mit sich führt, ein Mädchen, einen Jungen, schön und zart wie sie selbst, doch mit fast schwarzem Haar.

Denkt nicht böse vom ihm, der einfach neugierig ist nach all dem Gewäsch an den Bars, er will niemanden kränken oder betrüben, schon gar nicht einen freundlichen, herzlichen Menschen, mit dem ein kleiner Schwatz lohnte. Da wird er seine Worte nicht auf der Goldwaage wägen. Sollte er aber.

An einem freundlichen Herbstnachmittag ist LaoWai, abseits der Touristenströme, in den Westbergen zu einem recht verfallenen Tempelgelände aufgestiegen, das in den alten Prospekten gerade noch, in den neuen noch nicht erwähnt wird. Ist, an den grimmig dreinblickenden, überdimensionalen Torhütern vorbei, in den Vorhof getreten. Unter einem Persimonenbaum, um den sich, wie um alles übrige, niemand zu kümmern schien, sieht er zwei Kinder ungeniert nach den faustgroßen Früchten langen, während sich in einiger Entfernung eine Europäerin vor einer Stele Notizen macht, die auf dem Rücken einer gewaltigen Steinschildkröte ruht.

Wie LaoWai näher tritt, schaut die Frau auf, streicht sich das helle Haar aus dem Gesicht. "Verzeihen Sie", sagt LaoWai, "sind Sie nicht Frau Hilja?" - "Und Sie sind der Deutsche, der Geschichtenmacher, der mir in die Klöster nachfolgt, ich habe davon gehört", entgegnet sie spöttisch. - "Ich mache keine Geschichten", sagt LaoWai verlegen, während sie eine Steintreppe erklettern, um eine bessere Aussicht zu gewinnen, "aber es ist wahr, ich wollte Sie gern einmal sehen".

"Lasst die Persimonen, erst muss der Frost in die Früchte", ruft die Mutter, "vorher schmecken sie nicht". Aber da kommen die zwei schon, der Mund, die Hände vom Saft verschmiert. Und nun wollen sie auf die Brüstung gehoben sein. Weithin kahle Felswände, fern an einem Hang leuchtet roter Ahorn auf. Die Bergzüge strecken sich in herber Schönheit. Unten tief im weiten Kessel liegt Peking, man kann es nur ahnen angesichts der vagen Konturen unter der flimmernden Glocke von Rauch und Staub. "Es ist schön hier draußen", sagt LaoWai, noch immer verlegen, "eine karge Landschaft; Sie, gewiss, sind anderes gewohnt - tiefe Wälder, stille Seen ... "

Da bricht ein Schluchzen aus der Frau, Tränen stürzen, die Kinder fahren herum, LaoWai steht gelähmt, Frau Hilja setzt die Zwillinge auf die Erde, packt sie an den Händen, stürzt der Steintreppe zu.

"So warten Sie doch", ruft der Deutsche.

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