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Über die Ursachen, die zum Zweiten Weltkrieg führten, gibt es sehr viel weniger historische Literatur als über die für den Ersten, und das aus ersichtlichem Grund. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen hat nämlich kein seriöser Historiker je bezweifelt, daß Deutschland, Japan und (etwas zögernder) Italien die Aggressoren waren. Die Staaten, die gegen diese drei in den Krieg hineingezogen wurden, hatten ihn, ob sie nun kapitalistisch oder sozialistisch waren, nicht gewollt und in den meisten Fällen auch versucht, ihn zu verhindern. Die Frage, wer oder was den Zweiten Weltkrieg ausgelöst hat, kann ganz einfach mit zwei Wörtern beantwortet werden: Adolf Hitler.

Aber Antworten auf historische Fragen sind natürlich niemals derart einfach. Wie wir wissen, hatte der Erste Weltkrieg eine völlig instabile Lage in der Welt und vor allem in Europa und im Nahen Osten geschaffen. Deshalb konnte der Friede nicht von Dauer sein. Und Unzufriedenheit mit dem Status quo herrschte nicht nur in den besiegten Staaten, obwohl gerade sie – vor allem Deutschland – eine Menge von Gründen zu haben meinten und auch tatsächlich hatten, Groll zu hegen. Die Parteien in Deutschland, von den Kommunisten auf der extremen Linken bis hin zu den Nationalsozialisten auf der extremen Rechten, wetteiferten dabei, den Friedensvertrag von Versailles zu verteufeln, weil sie ihn ungerecht und unannehmbar fanden. Paradoxerweise hätte eine wirklich deutsche Revolution auch ein international weit weniger explosives Deutschland hervorbringen können, wie am Beispiel jener beiden besiegten Staaten zu sehen ist, die sich tatsächlich revolutionierten, nämlich Rußland und die Türkei: Diese waren viel zu sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten und der Verteidigung ihrer Grenzen beschäftigt, um auch noch die internationale Lage destabilisieren zu können. Im Gegenteil, in den dreißiger Jahren wirkten sie sogar stabilisierend; und die Türkei blieb im Zweiten Weltkrieg neutral. Aber auch in Japan und Italien herrschte Unzufriedenheit, obwohl beide Staaten zur Siegerseite gehörten. Die Japaner bewiesen allerdings etwas mehr Realismus als die Italiener, deren imperialer Appetit die unabhängige Macht des Staates, ihn zu stillen, bei weitem überschritt. Italien war jedenfalls aus dem Krieg mit beträchtlichen territorialen Zugewinnen in den Alpen, an der Adria und sogar in der Ägäis hervorgegangen, wenn auch nicht mit der ganzen Ausbeute, die dem Staat von den Alliierten als Gegenleistung für seinen Kriegsbeitritt 1915 versprochen worden war. Der Sieg des Faschismus, einer konterrevolutionären und daher ultranationalistischen und imperialistischen Bewegung, förderte diese Unzufriedenheit in Italien jedoch noch zusätzlich. Japan half die beträchtliche Stärke seines Militärs und seiner Marine, um zur stärksten Macht im Fernen Osten zu werden, vor allem nachdem Rußland von der Bildfläche verschwunden war. Bis zu einem gewissen Grad wurde diese Rolle auch noch international durch das Washingtoner Marineabkommen von 1922 anerkannt. Mit diesem Abkommen wurde schließlich der Überlegenheit der britischen Navy ein Ende gesetzt, indem die Stärke der amerikanischen, britischen und japanischen Marine im Verhältnis 5:5:3 festgelegt wurde. Doch Japan, dessen Industrialisierung im Eiltempo voranschritt – obwohl die absolute Größe seiner Wirtschaft noch immer recht bescheiden war (2,5 Prozent Anteil an der weltweiten Industrieproduktion in den späten zwanziger Jahren) –, fand zweifellos, daß ihm ein größeres Stück vom fernöstlichen Kuchen gebührte, als die weißen Imperialmächte ihm zugestehen wollten. Außerdem war es sich seiner Verwundbarkeit völlig bewußt, denn dem Land fehlten tatsächlich alle Bodenschätze, die eine moderne Industriewirtschaft braucht; und seine Importe waren der Gnade von ausländischen Kriegsflotten, seine Exporte der Gnade des amerikanischen Marktes ausgesetzt. Militärischer Druck, um ein nahe gelegenes Landimperium in China zu schaffen, hätte, so wurde in Japan behauptet, die Versorgungswege verkürzen und das Land entsprechend weniger verwundbar machen können.

Doch wie instabil der Frieden nach 1918 und wie groß die Wahrscheinlichkeit seines Zusammenbruchs auch gewesen sein mag, es gilt als völlig unbestritten, daß der Zweite Weltkrieg durch die Aggression dieser drei unzufriedenen Mächte ausgelöst wurde, die zudem seit Mitte der dreißiger Jahre durch mancherlei Verträge miteinander verbunden waren. Meilensteine auf dem Weg zum Krieg waren die japanische Invasion in der Mandschurei 1931, die italienische Invasion in Äthiopien 1935, die deutsche und italienische Intervention im Spanischen Bürgerkrieg 1936–39, die deutsche Invasion in Österreich Anfang 1938, die deutsche Beschneidung der Tschechoslowakei etwas später im selben Jahr, die deutsche Okkupation der verbliebenen Tschechoslowakei im März 1939 (gefolgt von der italienischen Okkupation Albaniens) und die deutschen Gebietsansprüche gegenüber Polen, die schließlich zum Ausbruch des Krieges führten. Wir können solche Meilensteine aber auch in negativer Spiegelung aufzählen: das Versäumnis des Völkerbunds, gegen Japan einzuschreiten und 1935 wirkungsvolle Maßnahmen gegen Italien zu ergreifen; das Versäumnis Großbritanniens und Frankreichs, auf die unilaterale Kündigung des Versailler Vertrages durch Deutschland und vor allem 1936 auf dessen militärische Wiederbesetzung des Rheinlands zu reagieren; ihre Weigerung, im Spanischen Bürgerkrieg zu intervenieren (»Nichteinmischung«); ihr Versäumnis, auf die Besetzung Österreichs zu reagieren; ihr Kleinbeigeben bei der deutschen Erpressung gegenüber der Tschechoslowakei (das »Münchener Abkommen« von 1938); und 1939 die Weigerung der Sowjetunion, die Opposition gegen Hitler fortzusetzen (Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939).

Und dennoch, selbst wenn die eine Seite eindeutig keinen Krieg gewollt haben und alles nur Erdenkliche getan haben mag, um ihn zu verhindern, und die andere Seite den Krieg glorifizierte und ihn, wie Hitler, gewiß auch aktiv herbeisehnte, so hat doch keiner der Aggressoren jenen Krieg gewollt, den er bekommen hat. Und auch keiner von ihnen hatte Krieg gegen all die Feinde führen wollen, denen er sich nun ausgesetzt sah. Japan hätte es trotz des Einflusses des Militärs auf seine Politik sicher vorgezogen, seine Ziele – vor allem die Schaffung eines ostasiatischen Imperiums – ohne einen allgemeinen Krieg zu erreichen, in den Japan nur deshalb verwickelt wurde, weil die USA beigetreten waren. Welche Art Krieg die Deutschen wollten, wann und gegen wen, ist noch immer eine Streitfrage, da Hitler kein Mann war, der seine Entscheidungen dokumentierte. Aber zwei Dinge sind klar: Ein Krieg gegen Polen (hinter dem Großbritannien und Frankreich standen) im Jahre 1939 stand nicht auf seinem Spielplan, und der Krieg, in dem er sich dann schließlich befand – sowohl gegen die USA als auch die Sowjetunion –, war der Alptraum eines jeden deutschen Generals und Diplomaten.

Deutschland mußte (wie später auch Japan) aus denselben Gründen wie 1914 einen schnellen Angriffskrieg führen. Denn die Ressourcen der potentiellen Feinde beider Staaten waren, so erst einmal vereinigt und koordiniert, überwältigend größer als die Mittel, die Deutschland oder Japan selbst zur Verfügung standen. Keiner von beiden bereitete sich auf einen lang andauernden Krieg vor, und weder die eine noch die andere Macht war von einer Rüstungsplanung mit langen Produktionsphasen abhängig. (Die Briten hingegen begannen sofort, ihrer Unterlegenheit zu Lande bewußt, ihr Geld in teuerste und technologisch hochentwickelte Rüstung zu investieren – Marine und Luftstreitkräfte –, und stellten ihre Planung auf einen langen Krieg ein, den sie dank ihres größeren Industriepotentials mit ihren Alliierten zu gewinnen hofften.) Die Japaner verstanden es besser als die Deutschen, die feindliche Koalition zu meiden, da sie sich 1939–40 sowohl aus dem Krieg der Deutschen gegen Großbritannien und Frankreich als auch 1941 gegen Rußland heraushielten. Im Gegensatz zu allen anderen kannte Japan diesen Gegner bereits, da der Staat 1939 in einem nie erklärten, aber entscheidenden Konflikt an der sibirisch-chinesischen Grenze gegen die Rote Armee zu Felde gezogen und schwer zugerichtet worden war. Nur in den Krieg gegen Großbritannien und die USA, nicht gegen die Sowjetunion, trat Japan im Dezember 1941 ein. Es war Japans Pech, daß die USA die einzige Macht waren, gegen die es tatsächlich antreten mußte; denn die amerikanischen Ressourcen waren den japanischen derart überlegen, daß die USA einfach siegen mußten.

Für eine Weile schien es, als habe Deutschland mehr Glück. In den dreißiger Jahren, als der Krieg in immer greifbarere Nähe rückte, versäumten Großbritannien und Frankreich eine Allianz mit Sowjetrußland. Sowjetrußland zog es schließlich vor, sich mit Hitler zu verständigen, und Präsident Roosevelt wurde aus innenpolitischen Gründen davon abgehalten, sich mehr als nur auf dem Papier auf die Seite zu stellen, die er so leidenschaftlich unterstützte. So begann der Krieg 1939, nachdem Deutschland in Polen einmarschiert war und das Land innerhalb von drei Wochen besiegt und gemeinsam mit der mittlerweile neutralen Sowjetunion aufgeteilt hatte, als ein rein europäischer und in der Tat sogar rein westeuropäischer Krieg Deutschlands gegen Großbritannien und Frankreich. Im Frühjahr 1940 fiel Deutschland in Norwegen, Dänemark, den Niederlanden, Belgien und Frankreich mit geradezu lächerlicher Leichtigkeit ein. Es besetzte die vier erstgenannten Länder und teilte Frankreich in eine direkt von seinen siegreichen Truppen besetzte und verwaltete Zone und einen französischen Satelliten-»Staat« auf (dessen Führer sich aus den verschiedenen Strömungen der französischen Reaktion rekrutierten und den Begriff »Republik« ablehnten), dessen Hauptstadt Vichy in einem provinziellen Kurgebiet lag. Nur noch Großbritannien befand sich mit Deutschland im Krieg. Unter der Führung von Winston Churchill, der sich standhaft weigerte, Geschäfte irgendwelcher Art mit Hitler zu machen, schlossen sich seine gesamten nationalen Kräfte zu einer einzigen Front zusammen. Genau zu diesem Zeitpunkt beschloß das faschistische Italien zu seinem eigenen Nachteil, seine Neutralität, auf die sich seine Regierung vorsichtig zurückgezogen hatte, aufzugeben und zur deutschen Seite überzuwechseln.

Der Krieg in Europa war praktisch zu Ende. Das Meer und die Royal Air Force verhinderten den Einmarsch der Deutschen in Großbritannien, aber umgekehrt hatte Großbritannien keine Möglichkeit, auf den Kontinent zurückzukehren, geschweige denn Deutschland zu besiegen. Die Monate in den Jahren 1940–41, in denen Großbritannien völlig alleine stand, waren ein wunderbarer Augenblick in der Geschichte des britischen Volkes, oder vielmehr jener, die das Glück hatten, diese Zeit zu durchleben. Doch die Chancen des Landes waren gering. Im Hemispheric-Defense-Rüstungsprogramm der USA, vom Juni 1940, wurde tatsächlich davon ausgegangen, daß jede weitere Waffenlieferung an Großbritannien nutzlos sei; und selbst nachdem die USA Großbritanniens Überleben als gesichert ansahen, war das Vereinigte Königreich nach amerikanischem Verständnis noch immer nicht viel mehr als ein transatlantischer Stützpunkt für die amerikanische Verteidigung. Mittlerweile war die Landkarte Europas neu gezeichnet worden.

Die Sowjetunion besetzte vertraglich vereinbart jene Teile Europas, die das Zarenreich 1918 verloren hatte, abgesehen von den polnischen Gebieten, die von Deutschland übernommen worden waren, sowie Finnland, gegen das Stalin im Winter 1939–40 einen ungeschickten Krieg geführt hatte, der schließlich die russischen Grenzen ein wenig weiter von Leningrad wegrücken sollte. Hitler leitete eine Revision der Versailler Verträge bezüglich der ehemaligen habsburgischen Territorien ein, die sich aber nur als kurzlebig erweisen sollte. Und die britischen Versuche, den Krieg auf dem Balkan auszuweiten, führten erwartungsgemäß zur Eroberung der gesamten Halbinsel zuzüglich der griechischen Inseln durch die Deutschen.

Deutschland überquerte schließlich das Mittelmeer hinüber nach Afrika, als es so aussah, als würde sein Verbündeter Italien (dessen militärische Leistungen im Zweiten Weltkrieg noch enttäuschender waren als die von Österreich-Ungarn im Ersten) von den Briten, die von ihrem Hauptstützpunkt in Ägypten aus operierten, vollständig aus seinem afrikanischen Imperium vertrieben werden. Doch das deutsche Afrikakorps unter einem der talentiertesten Generäle, Erwin Rommel, bedrohte schnell die gesamte britische Position im Nahen Osten.

Durch Hitlers Einmarsch in die Sowjetunion am 22. Juni 1941 lebte der Krieg wieder auf. Dies war das entscheidende Datum des Zweiten Weltkriegs: eine derart sinnlose Invasion – denn sie zwang Deutschland zu einem Zweifrontenkrieg –, daß Stalin einfach nicht geglaubt hatte, Hitler würde auch nur daran denken. Doch für Hitler war die Eroberung eines ausgedehnten Landimperiums im Osten, das reich an Bodenschätzen und Sklavenarbeitern war, nur der logische nächste Schritt. Aber genauso wie alle Militärexperten, abgesehen von den japanischen, hatte er die sowjetische Widerstandsfähigkeit katastrophal unterschätzt – obwohl er in der Tat Anlaß dazu gehabt hatte, denkt man an die Desorganisation der Roten Armee nach den Säuberungen der dreißiger Jahre (siehe Dreizehntes Kapitel), an den offenkundig gewordenen Zustand des gesamten Landes, an die Auswirkungen des Terrors und an Stalins ungewöhnlich unvernünftige Eingriffe in die Militärstrategie. Doch tatsächlich schien das erste Vorrücken der deutschen Truppen ebenso rapid und entscheidend wie im Vorjahr im Westen. Anfang Oktober stand die Wehrmacht vor den Toren Moskaus, und es gibt Hinweise, daß Stalin ein paar Tage lang völlig demoralisiert war und tatsächlich an Friedensverhandlungen dachte. Doch dieser Augenblick ging vorüber; und das schiere Flächenausmaß, das Potential an Menschen, die physische Ausdauer, der Patriotismus und der rücksichtslose Kampfeswille der Russen konnten die Deutschen besiegen und der Sowjetunion genügend Zeit geben, sich wirkungsvoll zu reorganisieren – nicht zuletzt, indem man den höchst talentierten Militärführern (von denen einige erst jüngst aus den Gulags entlassen wurden) die Erlaubnis erteilte, alles zu tun, was sie für richtig hielten. 1942–45 war die einzige Zeit, in der Stalin eine Pause in seinem Terrorregime einlegte.

Als klar wurde, daß der Krieg gegen Rußland nicht, wie von Hitler erwartet, innerhalb von drei Monaten entschieden werden konnte, war Deutschland verloren. Denn für einen langen Kampf und entsprechenden Widerstand war es nicht gerüstet. Trotz all seiner Siege hatte es weit weniger Flugzeuge und Panzer produziert als Großbritannien und Rußland (ohne die USA mitzuzählen). Doch eine neue deutsche Offensive nach einem grauenvollen Winter im Jahr 1942 schien dennoch wieder einmal ein ebenso glänzender Erfolg zu sein wie all die anderen zuvor und ermöglichte es den deutschen Truppen, bis tief in den Kaukasus und zur unteren Wolga vorzudringen. Nur, den Krieg konnte sie nicht mehr entscheiden. Die deutsche 6. Armee saß vor Stalingrad fest und wurde schließlich umzingelt und zur Kapitulation gezwungen (Ende August 1942 bis Januar/Februar 1943). Danach begannen die Russen ihren Vormarsch. Doch erst am Ende des Krieges sollten sie Berlin, Prag und Wien erreichen. Seit Stalingrad hatte jeder gewußt, daß die Niederlage Deutschlands nur noch eine Frage der Zeit war.

Aber mittlerweile war der im Grunde immer noch europäische Krieg wahrlich zum Weltkrieg geworden, was nicht zuletzt an den anti-imperialistischen Aufständen unter den Untertanen und Vasallen von Großbritannien lag, das noch immer das größte aller weltweiten Imperien besaß. Sie konnten jedoch noch ohne große Schwierigkeiten niedergeschlagen werden. Die Sympathisanten Hitlers unter den Buren in Südafrika wurden interniert (sie tauchten nach dem Krieg wieder als Architekten des Apartheidregimes von 1948 auf), und Iraks Raschid Ali wurde nach seiner Machtübernahme im Frühjahr 1941 schnell wieder gestürzt. Viel wichtiger war, daß die Siege Hitlers in Europa ein Machtvakuum in Teilen Südostasiens hinterlassen hatten, in die nun Japan vordringen konnte, um über die hilflosen Relikte der Franzosen in Indochina schließlich ein Protektorat zu verhängen. Die USA, die diese Ausdehnung der Achsenmächte nach Südostasien nicht tolerieren konnten, begannen nun, Japan – dessen Handel und Versorgung vollständig auf dem Seeweg stattfanden – unter heftigen wirtschaftlichen Druck zu setzen. Genau dieser Konflikt sollte zum Krieg zwischen den beiden Staaten führen. Der japanische Angriff am 7. Dezember 1941 auf Pearl Harbor machte den Krieg endgültig zum Weltkrieg. Innerhalb weniger Monate waren die Japaner in das gesamte kontinentale und insulare Südostasien eingefallen und drohten nun, Indien von Birma im Westen aus und den einsamen Norden Australiens von Neuguinea aus zu überfallen.

Wahrscheinlich hätte Japan den Krieg mit den USA nur dann vermeiden können, wenn es von seinem Ziel abgerückt wäre, ein mächtiges Wirtschaftsimperium aufbauen zu wollen (euphemistisch als »gemeinsames großostasiatisches Wohlstandsgebiet« deklariert), das die eigentliche Essenz seiner Politik war. Nachdem Roosevelts USA jedoch schon miterlebt hatten, welche Folgen aus dem Versäumnis der europäischen Mächte entstanden waren, Hitler und Mussolini Widerstand zu leisten, war von ihnen kaum zu erwarten, daß sie auf die japanische Expansion auf dieselbe Weise reagieren würden, wie Großbritannien und Frankreich auf die deutsche Expansion reagiert hatten. Die öffentliche Meinung der USA jedenfalls betrachtete den Pazifik wie auch Lateinamerika (und ganz im Gegensatz zu Europa) sowieso als natürliches Operationsgebiet der USA. Der amerikanische »Isolationismus« wollte sich hauptsächlich von Europa fernhalten. Also war Japan in der Tat durch das westliche (sprich amerikanische) Handelsembargo und das Einfrieren von japanischen Guthaben zum Handeln gezwungen, wenn es nicht wollte, daß seine Wirtschaft, die vollständig von Importen auf dem Seeweg abhängig war, augenblicklich stranguliert werden sollte.

Es begann ein gefährliches Spiel, das sich schließlich als selbstmörderisch erweisen sollte. Japan ergriff seine vielleicht einzige Möglichkeit, um sein südliches Imperium schnell aufbauen zu können. Aber es rechnete damit, daß dies nur durch das völlige Außergefechtsetzen der amerikanischen Navy erreicht werden könnte – der einzigen Streitmacht, die überhaupt eingreifen konnte. Das aber bedeutete, die USA mit ihren überwältigend überlegenen Streitkräften und Ressourcen sofort in den Krieg zu zwingen. Japan hatte keine Chance, einen solchen Krieg zu gewinnen.

Es bleibt ein Geheimnis, weshalb Hitler, der bereits mit Rußland völlig überfordert war, den USA freiwillig den Krieg erklärte und damit Roosevelts Regierung die Möglichkeit gab, ohne großen politischen Widerstand im eigenen Land auf seiten der Briten in den europäischen Krieg einzutreten. Denn in Washington bestanden kaum Zweifel daran, daß Nazideutschland eine sehr viel ernstere und globalere Gefahr für die USA – und die Welt – war als Japan. Daher konzentrierten sich die USA auch bewußt darauf, den Krieg gegen Deutschland noch vor dem Krieg gegen Japan zu gewinnen und ihre Ressourcen entsprechend einzusetzen. Die Rechnung ging auf. Es dauerte noch dreieinhalb Jahre, bis Deutschland besiegt werden konnte, aber dann nur noch drei Monate, bis Japan in die Knie gezwungen war. Es gibt keine einleuchtende Erklärung für diesen Irrsinn Hitlers, obwohl wir wissen, daß er die Handlungsfähigkeit der USA, ganz zu schweigen von ihrem wirtschaftlichen und technologischen Potential, auf gefährliche Weise hartnäckig unterschätzt hat, und das nicht zuletzt, weil er einer Demokratie grundsätzlich jegliche Handlungsfähigkeit absprach. Die einzige Demokratie, die er ernst nahm, war die englische, und zwar gerade weil er sie zu Recht als nicht vollkommen demokratisch betrachtete.

Beide Entschlüsse, in Rußland einzufallen und den USA den Krieg zu erklären, haben den Ausgang des Zweiten Weltkriegs entschieden. Doch das war nicht sofort klar, da die Achsenmächte den Gipfel ihres Erfolges Mitte 1942 erreicht und die militärische Initiative bis 1943 noch nicht vollständig verloren hatten. Außerdem hatten die Westalliierten auf dem europäischen Kontinent bis 1944 nicht wirklich Fuß fassen können; sie hatten zwar die Achsenmächte aus Nordafrika vertreiben und Italien durchqueren können, aber von der deutschen Wehrmacht wurden sie noch erfolgreich in Schach gehalten. Inzwisehen war die Luftstreitmacht zur wichtigsten Waffe der Westalliierten gegen die Deutschen geworden; doch selbst diese erwies sich, wie die spätere Forschung zeigen sollte, als spektakulär unwirksam und nur darin erfolgreich, Zivilisten zu töten und Städte in Schutt und Asche zu legen. Nur die sowjetischen Truppen konnten immer weiter vorrücken, und nur auf dem Balkan – hauptsächlich in Jugoslawien, Albanien und Griechenland – konnte eine im wesentlichen von Kommunisten geführte, bewaffnete Widerstandsbewegung die Deutschen (mehr aber noch die Italiener) vor ernsthafte militärische Probleme stellen. Dennoch hatte Winston Churchill recht, als er nach Pearl Harbor in einem vertraulichen Gespräch behauptete, daß der Sieg »durch den Einsatz von angemessenen Mitteln mit gewaltiger Durchschlagskraft« gesichert sei (Kennedy, S. 347). Ab Ende 1942 bezweifelte dann auch niemand mehr, daß die Große Allianz gegen die Achsenmächte gewinnen würde. Und die Alliierten begannen sich auf die Frage zu konzentrieren, was sie mit ihrem absehbaren Sieg anfangen sollten.

Wir brauchen den Ablauf der militärischen Aktionen nicht weiter zu verfolgen. Aber der Hinweis sei noch angebracht, daß sich der deutsche Widerstand im Westen, sogar nachdem die Alliierten im Juni 1944 wieder mit aller Macht den Kontinent betreten hatten, nur schwer brechen ließ und daß es, anders als 1918, keine Anzeichen eines deutschen Aufstands gegen Hitler gab. Nur einige deutsche Generäle, das Herz der aus preußischer Tradition hervorgegangenen Militärmacht und Effektivität, versuchten im Juli 1944 Hitlers Sturz herbeizuführen. Es waren eher rational denkende Patrioten denn enthusiastische Anhänger der wagnerianischen Götterdämmerung, in der Hitlers Deutschland völlig zerstört worden wäre. Doch sie hatten keinerlei Unterstützung von den Massen, ihr Attentat schlug fehl, und en masse wurden sie von Hitlers Getreuen hingerichtet.

Im Osten gab es noch weniger Anzeichen, daß Japan mit seiner Entschiedenheit, bis zum Ende zu kämpfen, brechen würde. Um eine schnelle Kapitulation Japans zu erzwingen, wurden Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen. Der Sieg 1945 war total, die Kapitulation bedingungslos. Die besiegten Feindstaaten wurden vollständig von den Siegern besetzt. Ein formeller Friede wurde nicht geschlossen, weil zumindest in Deutschland und Japan keine andere Autorität als die der Besatzungsmächte anerkannt wurde. Friedensverhandlungen noch am nächsten kam eine Reihe von Konferenzen zwischen 1943 und 1945, auf denen die wichtigsten Alliierten – die USA, die Sowjetunion und Großbritannien – die Aufteilung der Siegesbeute vereinbarten und versuchten (nicht besonders erfolgreich), ihre gegenseitigen Beziehungen für die Zeit nach dem Krieg zu regeln: 1943 in Teheran, im Herbst 1944 in Moskau, im Februar 1945 in Jalta auf der Krim und im August 1945 in Potsdam. Erfolgreicher war eine Serie von interalliierten Verhandlungen zwischen 1943 und 1945, bei denen ein allgemeiner Rahmen für die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen den Staaten vereinbart wurde, darunter auch die Gründung der Vereinten Nationen. Dazu später mehr (siehe Neuntes Kapitel).

Sehr viel mehr noch als der Große Krieg wurde der Zweite Weltkrieg von beiden Seiten bis zum bitteren Ende ausgefochten, ohne daß ernsthaft an einen Kompromiß gedacht worden wäre – abgesehen von Italien, das 1943 sein politisches Regime und die Seiten wechselte; später wurde Italien daher auch nicht als besetztes Gebiet behandelt, sondern als besiegtes Land mit einer anerkannten Regierung. (Was nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken war, daß es den Alliierten während zweier Jahre nicht gelungen war, die Deutschen und eine von ihnen abhängige faschistische »Soziale Republik« unter Mussolini aus der einen Hälfte von Italien zu vertreiben.) Diese Kompromißlosigkeit auf beiden Seiten im Zweiten Weltkrieg, anders als im Ersten Weltkrieg, bedarf keiner besonderen Erklärung. Denn dieser Krieg wurde auf beiden Seiten als Religionskrieg geführt oder, in modernen Worten, als Krieg der Ideologien. Und für die meisten beteiligten Länder war er vor allem ein Kampf ums Überleben. Der Preis der Unterwerfung unter das Regime der deutschen Nationalsozialisten war Versklavung und Tod, wie sich vor allem in Polen, in den besetzten Gebieten der Sowjetunion und am Schicksal der Juden gezeigt hatte, deren systematische Ausrottung einer ungläubigen Welt Schritt für Schritt bekanntwerden sollte. Folglich wurde der Krieg ohne Einschränkungen geführt. Der Zweite Weltkrieg eskalierte vom Massenkrieg zum totalen Krieg.

Die wahren durch ihn entstandenen Verluste sind nicht zu errechnen, und selbst approximative Schätzungen sind unmöglich, da in diesem Krieg (im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg) Zivilisten genauso umstandslos getötet wurden wie Soldaten und da das schlimmste Morden in Regionen oder zu Zeiten stattfand, in denen niemand in der Lage oder willens war, die Toten zu zählen. Die unmittelbar durch diesen Krieg verursachten Opfer an Menschenleben liegen vermutlich bei der drei- bis vierfachen Höhe der (geschätzten) Zahlen für den Ersten Weltkrieg (Milward, S. 270; Petersen, 1986) oder, in anderer Zählweise: bei etwa 10–20 Prozent der gesamten Bevölkerung der Sowjetunion, Polens und Jugoslawiens und bei 4–6 Prozent der Bevölkerungen Deutschlands, Italiens, Österreichs, Ungarns, Japans und Chinas. Die Zahl der Opfer in Großbritannien und Frankreich war wesentlich geringer als im Ersten Weltkrieg – etwa 1 Prozent –, doch etwas höher als die der USA. Dennoch, dies bleiben Schätzungen. Die sowjetischen Verluste sind auch von offiziellen Stellen immer wieder mit 7 Millionen, 11 Millionen oder sogar in einer Größenordnung von 20 bis hin zu 30 Millionen beziffert worden. Aber was bedeutet letztlich statistische Genauigkeit, wo Größenordnungen derart astronomisch sind? Wäre das Grauen des Holocaust geringer, wenn Historiker zu dem Schluß kämen, daß Hitler nicht sechs Millionen Juden (die ungefähre, aber fast sicher übertriebene Schätzung), sondern fünf oder vier ausgerottet hätte? Und was bedeutet es letztlich, ob die neunhunderttägige deutsche Belagerung von Leningrad (1941–44) einer Million oder »nur« einer Dreiviertelmillion durch Aushungerung und Erschöpfung den Tod gebracht hat? Können wir Zahlen wirklich begreifen, die jenseits der Realität des Vorstellbaren liegen? Was bedeutet es dem Leser dieser Seite wirklich, daß von 5,7 Millionen russischen Kriegsgefangenen in Deutschland 3,3 Millionen starben (Hirschfeld, 1986)?

Der einzig gewisse Sachverhalt hinsichtlich der Kriegsopfer ist, daß insgesamt mehr Männer als Frauen starben. Noch 1959 kamen in der Sowjetunion sieben Frauen im Alter zwischen fünfunddreißig und fünfzig Jahren auf vier Männer (Milward, 1979, S. 212). Nach Ende dieses Krieges war es einfacher, Gebäude wiederaufzubauen als die Lebenswirklichkeit der Überlebenden.

Das Zeitalter der Extreme

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