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Die längste Zeit des Kurzen 20. Jahrhunderts hat der sowjetische Kommunismus für sich in Anspruch genommen, eine Alternative zum Kapitalismus und das ihm überlegene System zu sein, welches überdies von der Geschichte dazu ausersehen sei, über ihn zu triumphieren. Und während der längsten Zeit dieser Periode konnten sich selbst diejenigen, die seinen Anspruch auf Überlegenheit zurückwiesen, absolut nicht sicher sein, daß er nicht doch noch den Sieg davontragen würde. Die internationale Politik des ganzen Kurzen 20. Jahrhunderts seit der Oktoberrevolution – mit der entscheidenden Ausnahme der Jahre zwischen 1933 und 1945 (siehe Fünftes Kapitel) – könnte am einleuchtendsten als ein Jahrhundertkampf der Mächte der alten Ordnung gegen die soziale Revolution beschrieben werden. Denn man war allgemein davon überzeugt, daß diese Revolution von der Sowjetunion und dem internationalen Kommunismus verkörpert werde, diese beiden wiederum untrennbar mit der Revolution an sich verbunden seien, während die Revolution als solche auf Gedeih und Verderb ihrerseits von diesen beiden abhängig sei.

Doch im Verlauf des Kurzen 20. Jahrhunderts wurde das Bild einer Weltpolitik als eines Duells zwischen den Mächten zweier rivalisierender Gesellschaftssysteme (hinter denen nach 1945 jeweils eine Supermacht mit weltzerstörerischen Waffen stand) immer unrealistischer. In den achtziger Jahren hatte diese Vorstellung für die internationale Politik keine größere Relevanz mehr als die Kreuzzüge. Doch es ist verständlich, wie es zu ihr kommen konnte. Denn die Oktoberrevolution, umfassender und kompromißloser als die Französische Revolution in ihrer jakobinischen Zeit, hatte sich selbst mehr als ökumenischen denn als nationalen Prozeß betrachtet. Sie war nicht dazu angetreten, Rußland Freiheit und Sozialismus zu bringen, sondern der Welt zur proletarischen Revolution zu verhelfen. In den Köpfen von Lenin und seinen Genossen war der bolschewistische Sieg in Rußland nur eine gewonnene Schlacht im weltweiten Feldzug des siegreichen Bolschewismus, und auch nur als solche zu rechtfertigen.

Daß das zaristische Rußland reif war für eine Revolution und wahrhaftig eine Revolution verdiente und daß eine solche Revolution mit Sicherheit den Zarismus stürzen würde, war seit 1870 von jedem aufmerksamen Beobachter in der Welt behauptet und erwartet worden. Seit 1905–06, nachdem der Zarismus tatsächlich von der Revolution in die Knie gezwungen worden war, hegte dann niemand mehr ernsthafte Zweifel daran. Rückblickend behaupten zwar manche Historiker, daß sich das zaristische Rußland zu einer blühenden, liberalen kapitalistischen Industriegesellschaft hätte entwickeln können und in der Tat auch schon auf dem Weg dorthin gewesen sei, wären da nicht der Erste Weltkrieg und die bolschewistische Revolution gekommen. Aber vor 1914 hätte man solche Prophezeiungen mit der Lupe suchen müssen. Kaum hatte sich das zaristische Regime 1905 einigermaßen von der Revolution erholt, da fand es sich – unentschlossen und inkompetent wie eh und je – schon wieder mit einer rapide anschwellenden Welle der gesellschaftlichen Unzufriedenheit konfrontiert. Und hätte es nicht die Loyalität von Armee, Polizei und Beamtenschaft gegeben, so wäre das Land in den letzten Monaten vor Ausbruch des Krieges wohl wiederum einer Eruption nahe gewesen. Doch wie in so vielen anderen kriegführenden Staaten haben auch hier nach Ausbruch des Krieges Massenbegeisterung und Patriotismus die innenpolitische Lage entschärft – im Falle Rußlands jedoch nicht für lange. 1915 schienen die Probleme der zaristischen Regierung erneut unüberwindlich. Nichts hätte weniger überraschend und unerwartet kommen können als die Revolution im März 1917.1 Sie stürzte die russische Monarchie und wurde von den politischen Meinungsmachern des Westens weltweit begrüßt – von den stockkonservativen, traditionalistischen Reaktionären einmal abgesehen.

Und doch glaubten alle, mit Ausnahme der Romantiker, die eine direkte Linie von den Kollektivpraktiken der russischen Dorfgemeinschaft zur sozialistischen Zukunft zogen, daß eine russische Revolution nicht sozialistisch sein würde und könnte. Die Bedingungen für eine derartige Transformation waren schlichtweg nicht gegeben in einem Agrarland, das als Inbegriff für Annut, Ignoranz und Rückständigkeit galt und in dem das Industrieproletariat – das Marx den Totengräber des Kapitalismus genannt hatte – nur eine winzige, wenn auch strategisch plazierte Minderheit war. Selbst die marxistischen Revolutionäre Rußlands teilten diese Ansicht. Der Sturz des Zarismus und des Großgrundbesitzersystems konnte und sollte also nichts weiter als eine »bürgerliche Revolution« hervorbringen. Der Klassenkampf zwischen Bürgertum und Proletariat (der, laut Marx, nur zu einem einzigen Ergebnis führen konnte) sollte dann unter diesen neuen politischen Bedingungen fortgeführt werden. Aber natürlich war Rußland nicht isoliert, und eine Revolution in diesem riesigen Land, das sich von den Grenzen Japans bis zu den Grenzen Deutschlands erstreckte und dessen Regierung zu den wenigen »Großmächten« gehörte, die die Weltlage bestimmten, mußte natürlich erhebliche internationale Folgen haben. Karl Marx selbst hatte am Ende seines Lebens noch gehofft, daß eine russische Revolution wie ein Sprengzünder wirken würde, der die proletarische Revolution in der industrialisierten westlichen Welt (also dort, wo die Bedingungen für sie gegeben waren) auslösen könnte. Wir werden noch sehen, daß es am Ende des Ersten Weltkriegs tatsächlich so aussah, als sollte genau das nun geschehen.

Dabei gab es nur eine Schwierigkeit: Wenn Rußland nicht für die proletarische Revolution der Marxisten bereit war, dann war es auch nicht für die liberale »bürgerliche Revolution« bereit. Selbst diejenigen, die wirklich nur diese Art von Revolution erreichen wollten, mußten erst noch einen Weg finden, bei dem man sich nicht allein auf die kleine und kraftlose liberale russische Mittelklasse stützen mußte – die ja nur eine winzige Minderheit in der Bevölkerung war, ohne jegliches moralisches Ansehen und öffentliche Unterstützung und ohne die institutionalisierten Traditionen einer repräsentativen Regierung, in die sie hätte eingefügt werden können. Die »Kadetten«, die Partei des bürgerlichen Liberalismus, zählten weniger als 2,5 Prozent der Abgeordneten in der frei gewählten (bald aber aufgelösten) verfassunggebenden Versammlung von 1917–18. Ein bürgerlich-liberales Rußland hätte entweder erreicht werden können, wenn unter der Führung von Revolutionsparteien (die etwas anderes wollten) ein Aufstand der Bauern und Arbeiter (die keine Ahnung hatten, was das war, und sich auch nicht darum scherten) stattgefunden hätte. Oder aber, und das war wahrscheinlicher: die revolutionären Kräfte würden über die bürgerlich-liberale Revolution zu einer »permanenten Revolution« fortschreiten, eine von Marx aufgegriffene Bezeichnung, die während der Revolution von 1905 vom jungen Trotzki wiederbelebt worden war. 1917 war Lenin, dessen Hoffnungen 1905 nicht viel weiter als bis zu einem bürgerlich-demokratischen Rußland gereicht hatten, zur Ansicht gekommen, daß das liberale Pferd im russischen Revolutionsrennen überhaupt kaum mitzählte. Das war eine realistische Einschätzung. Doch klar war ihm und allen anderen russischen und nichtrussischen Marxisten auch 1917 schon, daß die Bedingungen für eine sozialistische Revolution in Rußland einfach nicht gegeben waren. Für die marxistischen Revolutionäre in Rußland war es unumgänglich, ihre Revolution in andere Länder zu tragen.

Und nichts schien wahrscheinlicher, als daß ihnen das gelingen könnte. Denn der Große Krieg endete beinahe überall, vor allem aber in den Staaten der unterlegenen Kriegsparteien, mit politischem Zusammenbruch und revolutionären Krisen. 1918 verloren die Herrscher aller besiegten Mächte ihren Thron (Deutschland, Österreich-Ungarn, Türkei und Bulgarien); der Zar von Rußland hatte ihn bereits 1917 verloren, nachdem er von den Deutschen besiegt worden war. Außerdem gab es sogar bei den europäischen Siegern des Krieges soziale Unruhen, welche in Italien beinahe zur Revolution zu führen schienen.

Unter den außergewöhnlichen Belastungen des Massenkrieges hatten sich die Gesellschaften des kriegführenden Europa krümmen müssen. Die anfängliche Woge des Patriotismus war nach Kriegsausbruch ausgelaufen. Und bis 1916 hatte sich Kriegsmüdigkeit in eine unheilvolle stumme Feindseligkeit gegenüber der endlosen, ziellosen Schlachterei gewandelt, die offensichtlich niemand beenden wollte. Während sich die Kriegsgegner 1914 hilflos und isoliert gefühlt hatten, wußten sie 1916, daß sie im Interesse der Mehrheit sprachen. Wie dramatisch sich die Situation verändert hatte, sollte sich am 28. Oktober 1916 zeigen, als Friedrich Adler, der Sohn des Vorsitzenden und Gründers der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, aus öffentlichem Protest gegen den Krieg den österreichischen Ministerpräsidenten Graf Stürgkh kaltblütig in einem Wiener Café erschoß (es herrschte noch das Zeitalter der Unschuld für Sicherheitsbeamte).

Antikriegsgefühle kamen natürlich dem politischen Profil der Sozialisten zugute, die in zunehmendem Maß zu jener Antikriegshaltung zurückkehrten, die die Bewegung vor 1914 eingenommen hatte. Und einige Parteien waren sowieso nie davon abgewichen (zum Beispiel in Rußland, Serbien und die Unabhängige Arbeiterpartei in Großbritannien). Aber selbst dort, wo sozialistische Parteien mehrheitlich den Krieg noch unterstützten, fanden sich seine schärfsten Gegner in ihren eigenen Reihen.2 Gleichzeitig rückten die Arbeiterorganisationen in den großen Rüstungsindustrien aller wichtigen kriegführenden Länder ins Zentrum der militanten industriellen Antikriegsbewegungen. Gewerkschaftsaktivisten der unteren Ränge (»shop stewards« in Großbritannien, »Betriebsobleute« in Deutschland), erfahrene Männer in starken Verhandlungspositionen, wurden zur Verkörperung der Radikalisierung. Aber auch die Arbeiter und Mechaniker aus den neuen hochtechnologisierten Betrieben der Marine, gleichsam schwimmenden Fabriken, radikalisierten sich. In Rußland und Deutschland wurden die wichtigsten Marinestützpunkte (Kronstadt, Kiel) zu Zentren der Revolution. Und es war eine Meuterei der französischen Marine, im russischen Bürgerkrieg von 1918–20 im Schwarzen Meer, die eine Militärintervention gegen die Bolschewiken stoppte. Die Rebellion gegen den Krieg erhielt so ihr Zentrum und ihre Wirkungskraft. Kein Wunder also, daß die österreichisch-ungarischen Zensoren, die die Korrespondenz ihrer Truppen überwachten, eine Veränderung des Tons konstatierten. Wo es zuerst hieß: »Wenn uns der Herrgott nur Frieden bringen könnte«, hieß es nun: »Wir haben genug« oder: »Es heißt, die Sozialisten werden uns den Frieden bringen.«

Es kann daher auch nicht weiter überraschen, daß (laut habsburgischen Zensoren) die Russische Revolution das erste politische Ereignis seit Kriegsausbruch war, das seinen Widerhall sogar in den Briefen der Frauen von Bauern und Arbeitern fand. Und ebensowenig verwunderlich war, daß sich die Sehnsucht nach Frieden mit dem Bedürfnis nach einer sozialen Revolution vermischte, vor allem nachdem die Oktoberrevolution Lenins Bolschewiken an die Macht gebracht hatte. Ein Drittel der Verfasser der zensierten Briefe aus der Zeit zwischen November 1917 und März 1918 erwartete, den Frieden durch Rußland zu bekommen, ein Drittel durch Revolution und weitere 20 Prozent durch eine Kombination aus beidem. Und daß eine russische Revolution große internationale Auswirkungen haben würde, war schon zuvor deutlich geworden; sogar die erste Revolution 1905–06 hatte die noch vorhandenen alten Imperien erschüttert, von Österreich-Ungarn über die Türkei bis nach Persien und China (siehe Das imperiale Zeitalter, Kapitel 12). Bis 1917 war dann das gesamte Europa zu Sprengstoff geworden, der nur darauf wartete, gezündet zu werden.

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