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Rußland, reif für eine Revolution, kriegsmüde und am Rande der Niederlage, war das erste Reich Mittel- und Osteuropas, das unter dem Druck und den Anstrengungen des Ersten Weltkriegs zusammenbrach. Eine Explosion war schon längst erwartet worden, wenn auch niemand Zeit und Auslöser der Detonation vorhersagen konnte. Nur wenige Wochen vor der Februarrevolution hatte sich Lenin in seinem Schweizer Exil gefragt, ob er sie wohl noch erleben würde. Die Zarenherrschaft brach zusammen, als Arbeiterinnen bei einer Demonstration (am 8. März, dem regelmäßigen »Frauentag« der sozialistischen Bewegung) und die als notorisch militant bekannten Putilow-Metallarbeiter nach ihrer Aussperrung zum Generalstreik aufriefen und zum Marsch über den gefrorenen Fluß in die Hauptstadt aufbrachen, begleitet hauptsächlich von Forderungen nach Brot. Die Schwäche des Regimes wurde vollends deutlich, als sich die zaristischen Truppen, darunter sogar die bislang immer loyalen Kosaken, nach kurzem Zögern schließlich weigerten, gegen die Massen vorzugehen und sich mit ihnen zu verbünden begannen. Als sie nach vier chaotischen Tagen schließlich zur offenen Meuterei ansetzten, dankte der Zar ab, um von einer liberalen »provisorischen Regierung« ersetzt zu werden, der einiges an Sympathie und Unterstützung durch die Verbündeten Rußlands im Westen galt, weil diese befürchtet hatten, daß das verzweifelte zaristische Regime seinen Krieg beenden und einen Separatfrieden mit Deutschland schließen könnte. Vier völlig führungslose und von spontanen Aktionen geprägte Tage auf den Straßen setzten dem Imperium ein Ende.3 Und mehr noch: Rußland war derart bereit gewesen für eine soziale Revolution, daß sogar die Massen in Petrograd den Sturz des Zaren augenblicklich mit der Proklamation von universeller Freiheit, Gleichheit und direkter Demokratie gleichsetzten. Lenins außergewöhnliche Leistung bestand darin, daß er diesen unkontrollierbaren anarchischen Volksaufstand in eine bolschewistische Macht transformieren konnte.

Anstelle eines liberalen und konstitutionell westlich orientierten Rußlands, das bereit und willens gewesen wäre, Deutschland zu bekämpfen, war also ein revolutionäres Vakuum entstanden: eine machtlose »provisorische Regierung« auf der einen Seite und auf der anderen eine Unzahl von »Räten« (Sowjets) der Bevölkerung, die überall wie Pilze aus dem Boden schossen.4 Sie hatten die effektive Macht in Händen, zumindest die regional begrenzte Vetomacht, aber keine Ahnung, was sie damit anfangen sollten, könnten oder müßten. Die verschiedenen Revolutionsparteien und Organisationen – bolschewistische und menschewikische Sozialdemokraten, Sozialrevolutionäre und unzählige kleinere Fraktionen der Linken, die aus der Illegalität aufgetaucht waren – versuchten sich in diesen Versammlungen zu etablieren, sie zu koordinieren und von ihren politischen Vorstellungen zu überzeugen, obgleich ursprünglich nur Lenin sie als Alternative zur Regierung gesehen hatte (»Alle Macht den Räten«). Ganz deutlich aber wurde, daß nur wenige Russen nach dem Sturz des Zaren überhaupt wußten, was die Namen der Revolutionsparteien bedeuten sollten oder, wenn sie es wußten, welche Unterschiede in ihren rivalisierenden Appellen lagen. Was sie aber genau wußten, war, daß sie keine Autorität mehr akzeptieren würden – nicht einmal die Autorität der Revolutionäre, die behaupteten, alles besser zu wissen.

Die Armen in den Städten forderten hauptsächlich Brot und die Arbeiter unter ihnen bessere Löhne und kürzere Arbeitszeiten. Die Forderungen jener 80 Prozent Russen, die von der Landwirtschaft lebten, gingen wie eh und je um ein Stück Land. Alle Gruppen aber wollten gemeinsam, daß der Krieg beendet werden sollte, obgleich die Massen der Bauernsoldaten, die die Armee bildeten, zuerst nicht gegen den Kampf an sich gewesen waren, sondern nur gegen die harte Disziplin und die schlechte Behandlung durch ihre Vorgesetzten. Wer ihre Forderungen übernahm – »Brot, Friede, Land« –, fand sofort Unterstützung; und das waren vor allem Lenins Bolschewiken, deren kleine Truppe von nur wenigen Tausenden im März 1917 bis zum Frühsommer desselben Jahres auf eine Mitgliederzahl von einer Viertelmillion angeschwollen war. Im Gegensatz zur Mythologie des Kalten Krieges, die in Lenin im Grunde nur einen Organisator von Staatsstreichen sah, war seine – und der Bolschewiken – einzig wirkliche Leistung, daß er zu erkennen in der Lage war, was die Massen wollten, und dementsprechend eben auch wußte, daß er führen mußte, indem er ihnen folgte. Als er beispielsweise erkannt hatte, daß die Bauern nicht dasselbe wollten wie die sozialistischen Programme, sondern vielmehr eine Aufteilung der Landwirtschaft in Familienbetriebe, da zögerte er keinen Moment, die Bolschewiken auf diese Form des ökonomischen Individualismus einzuschwören.

Auf der anderen Seite war der Provisorischen Regierung und ihren Sympathisanten nicht bewußt geworden, wie unfähig sie war, Rußland dahin zu bringen, ihre Gesetze und Dekrete zu befolgen. Wo Unternehmer und Betriebsleiter die Arbeitsdisziplin wiederherzustellen versuchten, da erreichten sie nur noch eine weitere Radikalisierung der Arbeiter. Als die Provisorische Regierung im Juni 1917 versuchte, die Armee in eine neue Militäroffensive zu treiben, da hatten die Bauernsoldaten endgültig genug. Sie kehrten zurück in ihre Dörfer, um gemeinsam mit ihren Familien an der Verteilung des Landes teilzuhaben. Die Revolution breitete sich denn auch entlang der Eisenbahnschienen aus, die sie in ihre Heimatorte zurückführten. Noch war die Zeit für den Sturz der Provisorischen Regierung nicht reif, doch ab Sommer nahm die Radikalisierung in der Armee und in den größeren Städten immer mehr zu, vor allem aber immer mehr zugunsten der Bolschewiken. Die Unterstützung der Bauern galt in überwältigendem Maße den Sozialrevolutionären, den Nachkommen der Narodniki5, deren linksradikaler Flügel sich den Bolschewiken immer mehr annäherte und nach der Oktoberrevolution für kurze Zeit sogar mit ihnen die Regierungsgewalt teilte.

Nachdem die Bolschewiken – damals im wesentlichen eine Arbeiterpartei – die Mehrheit in den großen russischen Städten und vor allem in der Hauptstadt Petrograd und in Moskau errungen hatten und nachdem sie auch in der Armee an Boden gewinnen konnten, war das Überleben der Provisorischen Regierung nur noch eine Frage der Zeit. Im August hatte sie an die revolutionären Kräfte in der Hauptstadt appellieren müssen, den Versuch eines konterrevolutionären Staatsstreichs durch einen monarchistischen General niederzuschlagen. Die radikale Grundströmung in ihrer Gefolgschaft drängte die Bolschewiken unaufhaltsam zur Machtübernahme. Als der Augenblick dann da war, mußte die Macht nicht einmal mehr erfochten, sondern brauchte einfach nur noch übernommen zu werden. Es heißt, daß mehr Menschen während der Dreharbeiten zu Eisensteins großem Film Oktober (1927) verletzt wurden als während des tatsächlichen Sturms auf den Winterpalast am 7. November 1917. Die Provisorische Regierung hatte sich schlichtweg in Luft aufgelöst, nachdem niemand mehr zu ihrer Verteidigung übriggeblieben war.

Von dem Augenblick, an dem der Sturz der Provisorischen Regierung sicher war, bis heute wurde die Oktoberrevolution mit Polemiken überschüttet, die größtenteils völlig in die Irre führen. Der eigentliche Punkt ist nicht die Frage (wie antikommunistische Historiker gerne behaupten), ob es ein Putsch oder ein Staatsstreich des fundamental antidemokratischen Lenin war; es ging vielmehr darum, wer oder was auf den Sturz der Provisorischen Regierung folgen sollte oder konnte. Seit dem frühen September hatte Lenin die zögernden Elemente in seiner Partei davon zu überzeugen versucht, daß ihnen die Möglichkeit der Machtübernahme schnell wieder entgleiten würde, wenn sie sie nicht mit geplanten Aktionen in der wahrscheinlich nur kurzen Zeit an sich reißen würden, in der sie auch in der Lage wären, die gleichermaßen drängende Frage zu beantworten: »Können die Bolschewiken die Staatsmacht halten?« Was hätte überhaupt irgendwer tun können, der den Versuch unternahm, die vulkanische Eruption im revolutionären Rußland zu beherrschen? Keine Partei, außer Lenins Bolschewiken, war darauf vorbereitet, dieser Verantwortung allein ins Auge zu blicken – und Lenins Pamphlet legt nahe, daß nicht einmal unter den Bolschewiken alle im gleichen Maße dazu bereit waren, wie er es war. Die günstige politische Lage in Petrograd, Moskau und in den nördlichen Armeen sprach zwar auf kurze Sicht gesehen dafür, die Macht jetzt zu übernehmen und nicht erst die weiteren Entwicklungen abzuwarten. Die militärische Konterrevolution hatte gerade erst begonnen. Eine verzweifelte Regierung hätte Petrograd an die deutsche Armee übergeben können (die bereits an den nördlichen Grenzen des heutigen Estland stand, also nur wenige Kilometer von der Hauptstadt entfernt), anstatt den Räten ihren Platz zu überlassen. Lenin hatte noch nie gezögert, den finstersten Tatsachen ins Auge zu blicken. Wenn die Bolschewiken den Moment nicht ergreifen würden, »könnte die Woge echter Anarchie stärker werden als wir«. Mit dieser letzten Analyse konnte Lenins Argument seine Partei nicht anders als überzeugen. Wenn eine Revolutionspartei die Macht nicht ergriffe, wenn der Augenblick und die Massen es fordern, was würde sie dann noch von einer nichtrevolutionären Partei unterscheiden?

Es war diese langfristige Perspektive, die problematisch war, selbst wenn man davon ausging, daß die Macht, die in Petrograd und Moskau errungen worden war, tatsächlich auf den Rest Rußlands ausgedehnt und gegen Anarchie und Konterrevolution beibehalten werden könnte. Lenins Programm, in dem er die neue sowjetische Regierung (d.h. in erster Linie: die bolschewistische Partei) zur »sozialistischen Transformation der Russischen Republik« verpflichtete, war im wesentlichen das Wagnisunternehmen, die Russische Revolution in eine weltweite oder zumindest europäische Revolution zu verwandeln. Oft genug hatte er gefragt, wie man sich den »Sieg des Sozialismus auf andere Weise vorstellen« könnte »als durch die völlige Zerstörung des russischen und europäischen Bürgertums«. In der Zwischenzeit war Ausharren die wichtigste und im Grunde einzige Aufgabe der Bolschewiken. Das neue Regime tat denn auch wenig für den Sozialismus, außer zu erklären, daß es sein Ziel sei, die Banken zu übernehmen und die »Kontrolle der Arbeiter« über die existierenden Betriebe auszurufen. Das hieß, sie verpaßten allem, was die Arbeiter sowieso schon seit Beginn der Revolution getan hatten, einen offiziellen Stempel und drängten sie nun, die Produktion am Laufen zu halten. Mehr hatte das Regime ihnen nicht zu sagen.6

Das neue Regime hat ausgeharrt. Es überlebte einen Diktatfrieden, der von Deutschland, nur wenige Monate bevor es selbst geschlagen wurde, in Brest-Litowsk verhängt wurde und durch den Polen, die baltischen Provinzen, die Ukraine und große Gebiete im russischen Süden und Westen, wie auch – de facto – Transkaukasien abgespalten wurden (die Ukraine und Transkaukasien wurden wiedergewonnen). Die Alliierten sahen keinen Grund, weshalb sie dem Zentrum der Weltverschwörung gegenüber generös sein sollten. Verschiedenste konterrevolutionäre (»Weiße«) Armeen und Regime erhoben sich gegen die Sowjets, finanziert von den Alliierten, die auch amerikanische, britische, französische, japanische, polnische, serbische, griechische und rumänische Truppen auf russischen Boden entsandt hatten. In den schlimmsten Momenten des brutalen und chaotischen Bürgerkriegs von 1918–20 war Sowjetrußland auf einen landumschlossenen Rumpf in Nord- und Mittelrußland reduziert worden, irgendwo zwischen dem Ural und den heutigen baltischen Staaten, abgesehen von der kleinen, ungeschützten Landzunge von Leningrad, die in den Finnischen Meerbusen ragt. Die einzigen Trümpfe des neuen Regimes, nachdem es aus dem Nichts die schließlich siegreiche Rote Armee improvisiert hatte, waren die Inkompetenz der »Weißen« Truppen und deren Streitigkeiten untereinander; die Tatsache, daß diese sich die russische Bauernschaft zum Feind gemacht hatten; und der wohlbegründete Verdacht der Westmächte, daß sie ihren meuternden Soldaten und Matrosen nicht den zuverlässigen Befehl erteilen konnten, gegen die Bolschewiken zu kämpfen. Ende 1920 stand der Sieg der Bolschewiken fest.

Entgegen allen Erwartungen hatte Sowjetrußland also überlebt. Die Bolschewiken konnten ihre Macht nicht nur wahren und länger als die Pariser Kommune von 1871 halten (wie Lenin nach zwei Monaten und fünfzehn Tagen mit Stolz und Erleichterung feststellte), sondern auch über Jahre nie dagewesener Krisen und Katastrophen hinweg, trotz deutscher Eroberung und diktierten Friedens, trotz des Verlustes ganzer Regionen, trotz Konterrevolution, Bürgerkrieg, Interventionen ausländischer Armeen, trotz Hunger und Wirtschaftskollaps. In einer solchen Lage konnte Sowjetrußland einfach keine Strategien oder Perspektiven entwickeln, die über die Tag für Tag geforderte Entscheidung zwischen unmittelbarem Überleben und dem Risiko eines unmittelbaren Desasters hinausgingen. Wer konnte es sich schon leisten, all die Entscheidungen, die jetzt getroffen werden mußten, im Hinblick auf die möglichen langfristigen Auswirkungen auf die Revolution zu bedenken? Hätten sie es getan, wäre die Revolution am Ende gewesen, und es hätte keine langfristigen Auswirkungen mehr gegeben. Schritt für Schritt wurden also die notwendigen Entscheidungen getroffen. Als die neue sowjetische Republik aus ihrer Agonie erwachte, stellte sich heraus, daß sie eine Richtung eingeschlagen hatte, die weit von der entfernt lag, die Lenin bei seiner Ankunft im Finnlandbahnhof im Sinn gehabt hatte.

Doch auch die Revolution überlebte, und dies hauptsächlich aus drei Gründen. Erstens besaß sie ein einzigartig mächtiges, ja effektiv staatsbildendes Instrument: ihre 600000 Mitglieder starke, zentralisierte und disziplinierte Kommunistische Partei. Was immer ihre Rolle vor der Revolution gewesen sein mag, nun war dieses Organisationsmodell, das Lenin seit 1902 unermüdlich propagiert und verteidigt hatte, bestimmend und präsent. Effektiv alle Revolutionsregime des Kurzen 20. Jahrhunderts sollten sich mehr oder weniger nach ihr ausrichten. Zweitens war dies offensichtlich die einzige Regierung, die in der Lage und willens gewesen war, Rußland als Staat zusammenzuhalten. Daher wurde sie selbst von sonst gegnerischen russischen Patrioten unterstützt – etwa den Offizieren, ohne die die neue Rote Armee nicht hätte aufgebaut werden können. Für diese Patrioten, wie auch für den rückblickenden Historiker, hatte es 1917–18 keine Wahl zwischen einem liberaldemokratischen oder einem illiberalen Rußland gegeben, sondern nur zwischen Rußland und dessen Auflösung – also dem Schicksal der anderen veralteten und besiegten Imperien Österreich-Ungarn und Türkei. Anders als sie konnte die bolschewistische Revolution fast die gesamte multinationale territoriale Einheit des alten zaristischen Staates für vierundsiebzig folgende Jahre bewahren. Der dritte Grund war, daß die Revolution den Bauern gestattet hatte, Land zu übernehmen. Als diese Entscheidung anstand, war die Mehrheit der russischen Bauern – das Herz des Staates wie seiner neuen Armee – davon überzeugt gewesen, daß ihre Chancen, das Land zu behalten, mit den Roten besser stehen würden als mit einem zurückkehrenden Landadel. Diese Entscheidung gereichte den Bolschewiken im Bürgerkrieg 1918–20 zum eigentlichen Vorteil. Wie sich herausstellen sollte, waren die russischen Bauern zu optimistisch gewesen.

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