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Solche Überlegungen dürften die Zufriedenheit der Kommunisten kaum getrübt haben, als sie 1945 feststellen konnten, daß sie alle Regierungsgewalt zwischen der Elbe und dem Chinesischen Meer in Händen hielten. Ihrem Ziel – der Weltrevolution – waren sie sichtbar näher gekommen. Anstelle einer vereinzelten, schwachen und isolierten Sowjetunion waren etwa ein Dutzend Staaten aus der zweiten großen Welle der Weltrevolution aufgetaucht (oder gerade dabei, aufzutauchen), die von einer der beiden Weltmächte geführt wurden, die diesen Namen überhaupt verdienten. (Der Begriff »Supermacht« findet sich übrigens bereits in Unterlagen von 1944.) Und dabei war der Impetus der Weltrevolution noch immer nicht erschöpft, denn die Dekolonisation der alten imperialen Besitztümer in Übersee war noch in vollem Gang. Konnte man von ihr nicht noch weitere Fortschritte des Kommunismus erwarten? War nicht das internationale Bürgertum selbst – zumindest in Europa – voller Sorge um die Zukunft dessen, was vom Kapitalismus noch geblieben war? Die Verwandten eines jungen französischen Historikers – Industrielle, die gerade dabei waren, ihre Fabriken wiederaufzubauen – haben sich gefragt, ob am Ende nicht doch eine Verstaatlichung, oder ganz einfach die Rote Armee, die endgültige Lösung ihrer Probleme sein würde. Als älterer Konservativer erinnerte sich dieser Historiker, daß ihn nicht zuletzt solche Gefühle darin bestärkt hätten, 1949 der Kommunistischen Partei Frankreichs beizutreten (Ladurie, 1982, S. 37). Und hat nicht ein amerikanischer Handelsstaatssekretär im März 1947 Trumans Administration davon zu überzeugen versucht, daß die meisten Länder Europas »am Rande des Abgrunds stehen und jederzeit abstürzen können, während die anderen aufs schwerste bedroht sind« (Loth, 1988, S. 137)?

Das waren auch die Überlegungen derjenigen Männer und Frauen, die aus dem Untergrund auftauchten, aus den Kämpfen des Widerstands, aus Gefängnissen, Konzentrationslagern, oder aus dem Exil zurückkehrten, um Verantwortung für die Zukunft von Staaten zu übernehmen, die zumeist in Trümmern lagen. Es mag wohl vielen von ihnen bewußt gewesen sein, daß der Kapitalismus schon immer dort am einfachsten zu überwinden war, wo er schwach oder überhaupt kaum entwickelt war, und nicht in seinen Kernländern. Doch wer hätte damals schon bestreiten können, daß sich die Welt bereits dramatisch nach links bewegt hatte? Wenn sich die kommunistischen Herrscher und ihre Mitherrscher in den bereits transformierten Staaten unmittelbar nach dem Krieg überhaupt über irgendwas Sorgen machten, dann sicher nicht über die Zukunft des Sozialismus. Ihnen ging es erst einmal darum, verarmte, erschöpfte und ruinierte Länder mit manchmal durchaus feindselig gesinnter Bevölkerung wiederaufzubauen und die Gefahr eines Krieges abzuwehren, den die kapitalistischen Mächte gegen das sozialistische Lager führen könnten, bevor es durch einen gelungenen Wiederaufbau vollends etabliert wäre. Paradoxerweise aber waren westliche Politiker und Ideologen von denselben Ängsten geplagt. Wir werden noch sehen, daß der Kalte Krieg, der nach der zweiten Welle der Weltrevolution die Welt überzog, vor allem zum Wettkampf zwischen Alpträumen geraten sollte. Ob nun die Ängste des Ostens oder die des Westens gerechtfertigt waren – beide gehörten jedenfalls jener Ära der Weltrevolution an, die mit dem Oktober 1917 begonnen hatte. Doch diese Ära ging bald zu Ende, wenn es auch noch vierzig Jahre dauern sollte, bis es möglich war, ihr eine Inschrift in den Grabstein zu meißeln.

Dennoch hat diese Revolution die Welt verändert. Allerdings nicht auf die Weise, die Lenin und all jene, die durch die Oktoberrevolution inspiriert worden waren, erwartet hatten. Außerhalb der westlichen Hemisphäre genügen die Finger zweier Hände, um die Staaten aufzuzählen, die nicht irgendeine Kombination aus Revolution, Bürgerkrieg, Widerstand gegen und Befreiung von fremder Besatzung oder die prophylaktische Dekolonisation von Imperien durchlebt haben. Die Imperien selbst waren seit der Ära der Weltrevolution dem Untergang geweiht. (Großbritannien, Schweden, die Schweiz und vielleicht noch Island sind die einzigen Fälle in Europa, auf die dies nicht zutrifft.) Und selbst in der westlichen Hemisphäre – sieht man einmal von den vielen gewaltsamen Umstürzen ab, die vor Ort immer als »Revolutionen« dargestellt werden – haben große Sozialrevolutionen zumindest die lateinamerikanische Szene transformiert (Mexiko, Bolivien, die kubanische Revolution und ihre Nachfolger).

Die tatsächlichen Revolutionen, die im Namen des Kommunismus stattfanden, haben sich selbst erschöpft, wenn es auch noch zu früh scheint, ihnen eine Grabrede zu halten (jedenfalls solange Chinesen – ein Fünftel der Menschheit – noch in einem Land leben, das von einer Kommunistischen Partei regiert wird). Doch eine Rückkehr zu den anciens régimes der Welt scheint heute ebenso unmöglich wie einst die Rückkehr Frankreichs nach der revolutionären und Napoleonischen Ära in seinen alten Zustand oder wie die Rückkehr von Exkolonien zum präkolonialen Leben. Selbst dort, wo nach der Erfahrung des Kommunismus eine Umkehr stattgefunden hat, wird die Präsenz von exkommunistischen Staaten und vermutlich auch deren Zukunft von den spezifischen Merkmalen der Konterrevolution geprägt sein, die überall begonnen hat, die Revolution zu ersetzen. Aber das sowjetische Zeitalter ist weder aus der russischen noch aus der Weltgeschichte zu tilgen, so als hätte es nie stattgefunden. Es gibt keinen Weg für St. Petersburg, in die Zeiten von 1914 zurückzukehren.

Die indirekten Folgen aus dem Zeitalter der Aufstände nach 1917 waren ebenso tiefgreifend wie die direkten. Die Jahre nach der Russischen Revolution haben den Prozeß der kolonialen Emanzipation und der Dekolonisation eröffnet und sowohl die Politik der brutalen Konterrevolution (in Gestalt von Faschismus und anderen Bewegungen, siehe Fünftes Kapitel) als auch die Politik der Sozialdemokratie in Europa eingeleitet. Es wird häufig vergessen, daß bis 1917 alle Arbeiterorganisationen und sozialistischen Parteien (außerhalb des eher peripheren Ozeanien) die permanente Opposition gewählt hatten, bis der Moment des Sozialismus endlich gekommen wäre. Die ersten (nichtpazifischen) sozialdemokratischen Regierungen oder Koalitionsregierungen wurden 1917–19 gebildet (Schweden, Finnland, Deutschland, Österreich, Belgien). Nach nur wenigen Jahren folgten ihnen Großbritannien, Dänemark und Norwegen. Aber wir vergessen auch oft, daß die sehr gemäßigte Haltung dieser Parteien, ebenso wie die Bereitschaft des alten politischen Systems, sie zu integrieren, im wesentlichen nur eine Reaktion auf den Bolschewismus war.

Die Geschichte des Kurzen 20. Jahrhunderts kann ohne die Russische Revolution und ihre direkten wie indirekten Folgen nicht erklärt werden. Und das nicht zuletzt, weil sie sich als Retter des liberalen Kapitalismus erweisen sollte: Sie sollte es dem Westen ermöglichen, den Zweiten Weltkrieg gegen Hitlers Deutschland zu gewinnen; sie sollte dem Kapitalismus den Anstoß geben, sich selbst zu reformieren; und weil sich die Sowjetunion paradoxerweise gegen die Große Depression immun zeigte, sollte sie auch den Anstoß dazu geben, den orthodoxen Glauben an die freie Marktwirtschaft zu revidieren. Doch das führt uns ins nächste Kapitel.

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