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Die Jahre des Aufstands ließen ein riesiges rückständiges Land zurück, das nun von Kommunisten regiert wurde und sich dem Aufbau einer zum Kapitalismus alternativen Gesellschaft verpflichtet hatte. Aber sie hinterließen auch eine Regierung, eine disziplinierte internationale Bewegung und, vielleicht von ebenso großer Bedeutung, eine Generation von Revolutionären, die sich der Vision einer Weltrevolution unter jener Fahne verschrieben hatten, die im Oktober gehißt worden war; und alle standen sie unter der Führung jener Bewegung, die ihr Hauptquartier ganz eindeutig in Moskau hatte. (Mehrere Jahre lang hatte man gehofft, es bald nach Berlin verlegen zu können; und Deutsch, nicht Russisch, war die offizielle Sprache der Internationale zwischen den Kriegen.) Die Bewegung wußte wahrscheinlich selbst nicht so recht, wie die Weltrevolution vorangetrieben werden könnte, nachdem sich Europa stabilisiert hatte und Asien geschlagen geben mußte. Versuche in dem einen oder anderen Land, bewaffnete kommunistische Aufstände zu organisieren, führten zu Desastern (Bulgarien und Deutschland 1923, Indonesien 1926, China 1927 und – erst spät und völlig regelwidrig – Brasilien 1935). Doch die große Wirtschaftskrise und der Aufstieg Hitlers sollten bald schon zeigen, daß die Weltlage zwischen den Kriegen kaum dazu geeignet war, apokalyptische Befürchtungen zu beruhigen (siehe Drittes bis Fünftes Kapitel). Nur, das allein erklärt noch nicht die plötzliche Kehrtwende der Komintern in den Jahren zwischen 1928 und 1934 zu einer ultrarevolutionären und linkssektiererischen Rhetorik. Denn die Bewegung hatte sich seit 1923 in der Praxis nie ernsthaft darauf vorbereitet, irgendwo auf der Welt, außer etwa in China, die Macht zu übernehmen. Dieser Wandel, der sich als politisch verhängnisvoll erweisen sollte, läßt sich eher durch die interne Politik der sowjetischen Kommunistischen Partei erklären, nachdem Stalin die Kontrolle übernommen hatte. Vielleicht war es aber auch ein Kompensationsversuch für die immer wahrnehmbareren Interessendivergenzen der Sowjetunion: einerseits als Staat, der unvermeidlich mit anderen Staaten koexistieren mußte – seit 1920 begann das Regime11 zunehmend internationale Anerkennung zu gewinnen –, andererseits als Bewegung, deren Ziel es war, subversiv auf alle anderen Regierungen einzuwirken und sie zu stürzen. Am Ende überwogen die Staatsinteressen der Sowjetunion die weltrevolutionären Interessen der Kommunistischen Internationale, die von Stalin zu einem Instrument der sowjetischen Staatspolitik unter strikter Kontrolle der sowjetischen Kommunistischen Partei reduziert worden war und in deren Reihen er Säuberungen, Ausschlüsse und Reformen vornahm, wie es ihm gerade beliebte. Die Weltrevolution war nur noch Rhetorik. Eine Revolution wurde denn auch tatsächlich nur dann geduldet, wenn sie (a) nicht dem Staatsinteresse der Sowjetunion entgegenstand und wenn sie (b) unter direkte sowjetische Kontrolle gebracht werden konnte. Westliche Regierungen, die den Vormarsch kommunistischer Regime nach 1944 im wesentlichen als Ausdehnung der sowjetischen Macht ansahen, deuteten damit Stalins Intentionen gewiß richtig. Das taten auch die nicht neugebildeten revolutionären Regierungen, die Moskau bittere Vorwürfe machten, daß es eine Machtergreifung der Kommunisten nicht wollte und jeden Versuch in dieser Richtung entmutigte, sogar jene, die sich, wie in Jugoslawien und China, als erfolgreich erwiesen.

Dennoch war Sowjetrußland bis zu seinem Ende sogar in den Augen vieler Mitglieder seiner eigenen korrupten und selbstbereichernden Nomenklatura mehr als nur eine Großmacht geblieben. Die weltweite Emanzipation und der Aufbau einer Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft waren immerhin seine fundamentale Existenzgrundlage. Aus welchem anderen Grund hätten die sturen Moskauer Bürokraten die Guerilla des mit den Kommunisten verbündeten Afrikanischen Nationalkongresses immer weiter finanzieren und hochrüsten sollen, wo doch deren Chancen, das Apartheidsystem in Südafrika zu stürzen, jahrzehntelang so gering schienen und dies auch waren? (Merkwürdigerweise gibt es keinen Nachweis für eine vergleichbare Unterstützung von Befreiungsbewegungen der Dritten Welt durch das kommunistische Regime Chinas, obwohl es die Sowjetunion nach dem Bruch zwischen beiden Ländern heftigst beschuldigt hatte, die revolutionäre Bewegung zu verraten.) Die Sowjetunion hatte schon längst begriffen, daß die Menschheit nicht durch eine von Moskau gelenkte Revolution transformiert werden konnte. In der langen Dämmerung der Breschnew-Jahre schwand selbst Nikita Chruschtschows lang gehegte Überzeugung dahin, daß der Sozialismus den Kapitalismus allein schon durch seine ökonomische Überlegenheit »begraben« würde. Gut möglich, daß die endgültige Zerstörung dieses Glaubens an die universelle Berufung des Systems eine Erklärung dafür ist, weshalb es sich am Ende ohne jeden Widerstand auflösen konnte (siehe Sechzehntes Kapitel).

Die erste Generation, die noch vom strahlenden Licht der Oktoberrevolution inspiriert war, ihr Leben der Weltrevolution zu weihen, war nicht von derartigen Zweifeln geplagt. Wie die frühen Christen hatten auch die meisten Sozialisten vor 1914 an die große apokalyptische Wende geglaubt, die alles Übel vernichten und eine Gesellschaft hervorbringen würde, in der es keine Sorgen, Unterdrückung, Ungleichheit und Ungerechtigkeit geben würde. Der Marxismus hatte der Hoffnung des Jahrtausends die Garantie durch die Wissenschaft und die historische Unvermeidlichkeit hinzugefügt; die Oktoberrevolution hatte den Beweis geliefert, daß der große Wandel begonnen hatte.

Die Anzahl der Soldaten jener notwendigerweise skrupellosen und disziplinierten Armee zur Emanzipation der Menschheit belief sich auf nur wenige zehntausend; die internationalen Berufsrevolutionäre, die ihre Länder öfter als ihre Schuhe wechselten, wie Bertolt Brecht in einem Gedicht schrieb, zählten insgesamt nicht mehr als ein paar hundert – nicht zu verwechseln mit dem »kommunistischen Volk«, wie Italiener es zu der Zeit nannten, in der ihre Kommunistische Partei Millionen von Mitgliedern und Sympathisanten hatte, die in Reih und Glied bereitstanden, um ihren höchst realen Traum von einer neuen und guten Gesellschaft zu verwirklichen (wenn sie auch in der Praxis nichts weiter als den täglichen Aktivismus der alten sozialistischen Bewegung betrieben, die eher klassen- und gemeinschaftsorientiert war, denn als persönliche Hingabe zu honorieren). Doch trotz ihrer geringen Zahl kann das 20. Jahrhundert ohne den Beitrag dieser Berufsrevolutionäre nicht erklärt werden. Ohne diesen leninistischen »neuen Parteitypus«, dessen Kader die Soldaten der Emanzipationsarmee waren, wäre kaum begreiflich, weshalb sich knapp dreißig Jahre nach der Oktoberrevolution ein Drittel der Menschheit unter kommunistischer Herrschaft befand. Der Glaube an das – und die unbedingte Loyalität gegenüber dem – Hauptquartier der Weltrevolution in Moskau gab den Kommunisten die Möglichkeit, sich selbst (soziologisch gesehen) als Teil der Weltkirche und nicht als eine Sekte zu betrachten. Moskauorientierte kommunistische Parteien haben durch Sezessionen und Säuberungen zwar immer wieder Führungsfiguren verloren, doch bis der Herzschlag der Bewegung nach 1956 schwächer zu werden begann, waren sie von Spaltungen verschont geblieben – ganz anders als die Splittergruppen der marxistischen Dissidenten, die Trotzki nachfolgten, und die noch mehr zerfaserten »marxistisch-leninistischen« Konventikel des Maoismus seit den sechziger Jahren. Wie gering ihre Zahl letztlich auch gewesen sein mag (1943, nach Mussolinis Sturz in Italien, bestand die Kommunistische Partei Italiens beispielsweise nur noch aus etwa 5000 Männern und Frauen, die größtenteils aus Gefängnissen und Exil zurückgekehrt waren), so bildeten sie dennoch den Kern einer Armee von Millionen und waren das, was die Bolschewiken im Februar 1917 waren: potentielle Herrscher über ein Volk und einen Staat.

Für diese Generation – vor allem für jene, die trotz ihrer Jugend schon jahrelangen Aufstand erlebt hatten – gehörte Revolution zu ihrer Lebensgeschichte; für sie waren die Tage des Kapitalismus unweigerlich gezählt und war das gesamte Zeitgeschehen nur ein Vorspiel für den endgültigen Sieg, auch wenn ihn viele Revolutionssoldaten nicht mehr erleben würden (»die Toten auf Urlaub« nannte sie der russische Kommunist Leviné, kurz bevor ihn jene, die für den Sturz der Münchener Räte von 1919 verantwortlich waren, exekutierten). Wenn die bürgerliche Gesellschaft selbst soviel Anlaß hatte, an ihrer Zukunft zu zweifeln, weshalb sollten diese Soldaten dann noch an ihr Überleben glauben? Ihr eigenes Leben war der Beweis dafür.

Nehmen wir das Schicksal zweier junger Deutscher, für kurze Zeit ein Liebespaar, dessen ganzes Leben durch die bayerische Räterevolution 1919 dann aber völlig verändert wurde: Olga Benario, die Tochter eines wohlhabenden Münchener Rechtsanwalts, und der Lehrer Otto Braun. Olga sollte schließlich für die Revolution in der westlichen Hemisphäre arbeiten, gemeinsam mit ihrem späteren Ehemann Luis Carlos Prestes, einem aus dem Militär stammenden Rebellen, der Moskau davon überzeugen konnte, 1935 einen Aufstand in Brasilien zu unterstützen. Der Aufstand wurde niedergeschlagen und Olga von der brasilianischen Regierung an Hitlers Deutschland ausgeliefert, wo sie später in einem Konzentrationslager starb. Inzwischen hatte der erfolgreichere Otto begonnen, in China als Militärexperte der Komintern den Osten zu revolutionieren. Wie sich herausstellen sollte, war er der einzige Nichtchinese, der am berühmten »Langen Marsch« der chinesischen Kommunisten teilgenommen hatte, bevor er wieder nach Moskau und später in die DDR zurückkehrte. (Diese Erfahrung sollte in ihm tiefe Zweifel an Mao hinterlassen.) Wann, außer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hätten zwei ineinander verwobene Leben solche Formen annehmen können?

Für die Generation nach 1917 hatte der Bolschewismus alle anderen Sozialrevolutionären Traditionen absorbiert, oder er hatte sie an den Rand der Politik gedrängt. Vor 1914 war Anarchismus unter den revolutionären Aktivisten in weiten Teilen der Welt eine weitaus stärker motivierende Ideologie gewesen, als es der Marxismus war. Und außerhalb von Osteuropa war Marx eher als Guru von Massenparteien angesehen worden, deren unausweichlichen, wenngleich nicht unmittelbar bevorstehenden Sieg er wissenschaftlich bewiesen hatte. Aber in den dreißiger Jahren hatte der Anarchismus überall, außer in Spanien, seine Bedeutung als signifikante politische Kraft verloren, sogar in Lateinamerika, wo die schwarz-rote Fahne traditionell viel mehr Kämpfer zu inspirieren vermochte als die rote. (Sogar in Spanien sollte der Bürgerkrieg den Anarchismus schließlich zerstören, während er den bis dahin unbedeutenden Kommunisten den politischen Aufstieg ermöglichte.) Ja, sogar für alle nicht moskautreuen sozialrevolutionären Gruppen blieben Lenin und die Oktoberrevolution der konstante Bezugspunkt, obwohl sich Moskau auf immer brutalere Hexenjagd auf Ketzer begab und Stalin seinen Griff um die sowjetische Kommunistische Partei und die Internationale immer härter werden ließ. Beinahe unterschiedslos wurden solche Gruppen von Komintern-Dissidenten oder Ausgeschlossenen geleitet oder zumindest intellektuell geprägt. Doch nur wenige dieser bolschewistischen Dissidentenzentren konnten sich auch als politische Parteien etablieren. Nicht einmal der bei weitem angesehenste und berühmteste Ketzer, der exilierte Leo Trotzki – einer der Führer der Oktoberrevolution und der Architekt der Roten Armee –, dessen praktische Bemühungen alle fehlschlugen. Seine »Vierte Internationale«, die dazu ausersehen war, gegen die stalinisierte Dritte Internationale anzutreten, blieb vollkommen unsichtbar. Als er auf Stalins Befehl 1940 in seinem mexikanischen Exil ermordet wurde, war er politisch bedeutungslos geworden.

Kurzum, Sozialrevolutionär zu sein hieß immer mehr, Anhänger von Lenin und der Oktoberrevolution und Mitglied oder Vertreter einer der moskauorientierten kommunistischen Parteien zu sein; und das um so mehr, als diese Parteien nach dem Sieg Hitlers in Deutschland die Politik der antifaschistischen Einheit zu der ihren gemacht hatten, was ihnen ermöglichte, aus der sektiererischen Isolation herauszutreten und Massenunterstützung unter Arbeitern und Intellektuellen zu gewinnen (siehe Fünftes Kapitel). Die Jungen unter ihnen, die danach dürsteten, den Kapitalismus zu stürzen, wurden zu orthodoxen Kommunisten und identifizierten ihre Sache mit der moskauzentrierten internationalen Bewegung. Und der Marxismus, der aus der Oktoberrevolution als Ideologie der revolutionären Wende wiedererstanden war, wurde nun vom Moskauer Marx-Engels-Lenin-Institut propagiert, das zur Zentrale für die weltweite Verbreitung der großen klassischen Texte geworden war. Niemand sonst wollte oder schien besser in der Lage zu sein, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern auch zu verändern. Und so sollte es bis nach 1956 bleiben, als der Zerfall der stalinistischen Orthodoxie der Sowjetunion und der moskauorientierten internationalen kommunistischen Bewegung bis dahin marginalisierte Denker, Traditionen und Organisationen linker Heterodoxie zum Vorschein brachte. Doch bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie im gigantischen Schatten der Oktoberrevolution gestanden. Wer auch nur die geringste Ahnung von Ideologiegeschichte hatte, erkannte, daß die radikale Studentenbewegung von 1968 sehr viel mehr vom Geiste Bakunins oder sogar Netschajews umweht war als vom Geiste Marx’. Dennoch kam es zu keiner bedeutenden Wiederbelebung von anarchistischen Theorien oder Bewegungen. Im Gegenteil: Das Jahr 1968 brachte eine enorme Popularität des theoretischen Marxismus unter den Intellektuellen (zumeist in Versionen, die Marx überrascht hätten) und eine ganze Anzahl von unterschiedlichen »marxistisch-leninistischen« Sekten und Gruppen hervor, vereint durch die Zurückweisung von Moskau und den alten kommunistischen Parteien als nichtrevolutionär und nichtleninistisch.

Paradoxerweise fand diese nahezu vollständige Rückkehr zu sozialrevolutionären Traditionen in just dem Moment statt, als sich die Komintern von den revolutionären Strategien der Jahre 1917–23 abgewandt und sich völlig anderen machtpolitischen Strategien verschrieben hatte als 1917 (siehe Fünftes Kapitel). Ab 1935 war die Literatur der kritischen Linken plötzlich gespickt mit Anschuldigungen gegen die von Moskau gelenkten Bewegungen, daß sie die Chancen zu einer Revolution verpaßt, verhindert, ja sogar verraten hätten. Doch bis die stolze »monolithische« sowjetzentrierte Bewegung im Innern endgültig zu bröckeln begann, sollten diese Argumente nur wenig Wirkung zeigen. Solange die kommunistische Bewegung ihre Einheit, Kohäsion und faszinierende Immunität gegenüber Spaltungen bewahren konnte, blieb sie für die meisten, die an die Notwendigkeit einer Weltrevolution glaubten, der einzige Joker im Spiel. Und wer hätte überdies bestreiten können, daß die Staaten, die während der zweiten großen Welle der sozialen Weltrevolution in den Jahren 1944–1949 mit dem Kapitalismus brechen sollten, unter den Auspizien der orthodoxen, sowjetisch orientierten kommunistischen Parteien standen? Erst nach 1956 hatten die revolutionären Denker eine wirkliche Wahl zwischen verschiedenen Bewegungen, von denen wenigstens einige auch politische oder revolutionäre Effizienz für sich in Anspruch nehmen konnten. Sogar die verschiedenen trotzkistischen, maoistischen oder von der kubanischen Revolution beeinflußten Gruppen leiteten sich im wesentlichen noch immer vom Leninismus ab (siehe Fünfzehntes Kapitel). Die alten kommunistischen Parteien waren noch immer die größte Gruppe auf der extrem linken Seite, aber der Herzschlag der alten kommunistischen Bewegung war zu dieser Zeit schon sehr schwach geworden.

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