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Diese Bewegungen müssen zu den Verursachern des Niedergangs und des Untergangs des Liberalismus im Zeitalter der Katastrophe hinzugezählt werden. Denn obgleich der Aufstieg und Sieg des Faschismus den Rückzug der Liberalität natürlich am dramatischsten verkörperte, wäre es ein Fehler, diesen Rückzug ausschließlich mit ihm erklären zu wollen – nicht einmal, wenn es um die dreißiger Jahre geht. Am Ende dieses Kapitels müssen wir uns also fragen, was diesen Rückzug nun tatsächlich verursacht hat. Aber zuvor sollte noch eine zwar allgemein übliche, aber falsche Gleichsetzung von Faschismus und Nationalismus berichtigt werden.

Daß faschistische Bewegungen eine starke Anziehungskraft auf nationalistische Leidenschaften und Vorurteile hatten, ist offenkundig, obwohl ja semifaschistische Gesellschaften, wie Portugal und Österreich 1934–38, die unter starkem katholischem Einfluß standen, ihren hemmungslosen Haß eher für gottlose Völker und Nationen oder für solche mit anderen Religionen reservierten. Außerdem war simpler Nationalismus schwierig für faschistische Bewegungen in Staaten, die von Deutschland oder Italien besiegt und besetzt worden waren oder deren Schicksal davon abhing, ob einer dieser beiden Staaten die eigene Regierung besiegen würde. Solche Bewegungen konnten sich höchstens dann mit den Deutschen identifizieren, wenn beide als Angehörige einer größeren teutonischen Rassengemeinschaft galten (Flandern, Niederlande, Skandinavien); doch paradoxerweise war es weit beliebter, eine internationalistische Haltung einzunehmen (die Goebbels’ Propaganda während des Krieges immer stark unterstützt hat). Deutschland wurde als Kernstaat und als einziger Garant für eine zukünftige »europäische Ordnung« betrachtet, wobei üblicherweise auf Karl den Großen und den Antikommunismus verwiesen wurde – eine Entwicklungsphase der Europa-Idee, an die sich die Historiker der Europäischen Gemeinschaft in der Nachkriegszeit nur ungern erinnern. Auch nichtdeutsche Militäreinheiten, die im Zweiten Weltkrieg meist als Teil der SS unter deutscher Flagge gekämpft haben, betonten für gewöhnlich dieses transnationale Element.

Auf der anderen Seite muß ebenso klar sein, daß nicht jeder Nationalismus mit dem Faschismus sympathisiert hat. Und das nicht nur, weil Hitlers (und zum Teil auch Mussolinis) Ambitionen für viele Nationalisten eine Bedrohung darstellten, etwa für die Polen und die Tschechen, sondern weil die Mobilmachung gegen den Faschismus in einigen Staaten sogar auch einen linken Patriotismus hervorrufen konnte (siehe Fünftes Kapitel) – vor allem während des Krieges, als der Widerstand gegen die Achsenmächte von »Nationalen Fronten« geleistet wurde oder von Regierungen, die das ganze politische Spektrum umfaßten, Faschisten und ihre Kollaborateure aber ausschlossen.17 Ob sich der regionale Nationalismus also auf die Seite des Faschismus schlug, war davon abhängig, ob er vom Vormarsch der Achsenmächte mehr zu gewinnen oder mehr zu verlieren hatte und ob sein Haß auf Kommunisten – oder auf einen anderen Staat, eine andere nationale oder ethnische Gruppe (Serben, Juden) – heftiger war als seine Abneigung gegen Deutsche oder Italiener. So haben etwa die Polen kaum mit Nazideutschland kollaboriert, waren jedoch heftig antirussisch und antisemitisch eingestellt, wohingegen Litauer und einige Westukrainer (1939–41 von der Sowjetunion besetzt) in der Tat kollaborierten.

Weshalb also ist der Liberalismus zwischen den Kriegen sogar in jenen Staaten zurückgewichen, die den Faschismus nicht akzeptierten? Westliche Radikale, Sozialisten und Kommunisten, die diese Zeit erlebten, neigten dazu, diese Ära der weltweiten Krise als letztes Aufbäumen des kapitalistischen Systems anzusehen. Ihrer Meinung nach konnte sich der Kapitalismus nicht länger den Luxus erlauben, mittels der parlamentarischen Demokratie und unter bürgerlichen Freiheitsrechten zu herrschen, die ja auch in der Tat den Aufstieg von gemäßigten, reformistischen Arbeiterbewegungen erst ermöglicht haben. Konfrontiert mit unlösbaren wirtschaftlichen Problemen und/oder einer zunehmend revolutionären Arbeiterklasse, mußte das Bürgertum ihrer Meinung nach nun einfach wieder zu Gewalt und Zwang zurückfallen – also zu dem, was dem Faschismus gleichkam.

Da sowohl der Kapitalismus als auch die liberale Demokratie nach 1945 ein siegreiches Comeback hatten, vergißt man leicht, daß in dieser Sichtweise, in der so viel agitatorische Rhetorik steckte, durchaus ein Kern Wahrheit lag. Demokratische Systeme funktionieren nur dann, wenn bei der Mehrheit ihrer Bürger ein Grundkonsens über die Akzeptabilität ihres Staates und ihres Gesellschaftssystems besteht oder zumindest die Bereitschaft, für Kompromißlösungen offen zu sein. Beides wird vom Wohlstand gefördert. Zwischen 1918 und dem Zweiten Weltkrieg waren solche Bedingungen in den meisten europäischen Ländern einfach nicht gegeben. Soziale Katastrophen schienen sich bedrohlich anzukündigen oder waren bereits geschehen. Die Angst vor einer Revolution war in den meisten Gebieten von Ost- und Südosteuropa und unter den Mittelmeeranrainern derart groß, daß es den kommunistischen Parteien dort kaum gelingen konnte, aus der Illegalität auch nur aufzutauchen. Die unüberbrückbare Kluft zwischen der rechten und selbst der gemäßigten linken Ideologie richtete 1930–34 die österreichische Demokratie zugrunde, obwohl sie ab 1945 im selben Land und unter genau demselben Zweiparteiensystem von Katholiken und Sozialisten funktionieren sollte.18 Auch die spanische Demokratie zerbrach in den dreißiger Jahren unter diesem Druck. Der Kontrast zu dem am Verhandlungstisch zustande gekommenen Übergang von der Franco-Diktatur zu einer pluralistischen Demokratie in den siebziger Jahren ist drastisch zu nennen.

Welche Chancen für Stabilität diese Regime auch hatten, sie konnten die Große Depression nicht überleben. Die Weimarer Republik brach vor allem deshalb zusammen, weil die stillschweigende Vereinbarung zwischen Staat, Arbeitgebern und Arbeiterorganisationen, die sie über Wasser gehalten hatte, in der Weltwirtschaftskrise unmöglich aufrechtzuerhalten war. Industrie und Regierung glaubten, daß sie keine andere Wahl hätten, als wirtschaftliche und soziale Beschneidungen vorzunehmen, und den Rest besorgte dann die Massenarbeitslosigkeit. Mitte 1932 konnten die Nationalsozialisten und Kommunisten dann die absolute Stimmenmehrheit an sich ziehen; und Parteien, die sich der Republik verpflichtet hatten, wurden auf einen Stimmenanteil von nur knapp über einem Drittel zurückgeworfen.

Umgekehrt ist unbestreitbar, daß die Stabilität der demokratischen Regierungen nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht zuletzt die der Bundesrepublik Deutschland, auf dem Wirtschaftswunder der Nachkriegsjahrzehnte beruhte (siehe Neuntes Kapitel). Wo Regierungen genug zu verteilen haben, um alle, die Anspruch erheben, zufriedenstellen zu können, und wo sich der Lebensstandard der meisten Bürger ständig verbessert, da wird die Temperatur der demokratischen Politik nur selten zum Siedepunkt ansteigen. Kompromisse zu schließen und Konsens herzustellen stand meist an erster Stelle. Selbst diejenigen, die ungeduldig daran glaubten, daß der Kapitalismus stürzen würde, fanden den Status quo in der Praxis weit erträglicher als in der Theorie, und selbst die kompromißlosesten Verfechter des Kapitalismus empfanden die sozialen Sicherungssysteme und regelmäßigen Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften als etwas Selbstverständliches.

Aber auch das Auftreten der Weltwirtschaftskrise ist nur eine Teilantwort. Obwohl die Lage in Deutschland und Großbritannien ähnlich war – Arbeiterorganisationen wehrten sich gegen die Lohnkürzungen der Depression –, konnte sie in Deutschland zum Zusammenbruch der parlamentarischen Regierung und schließlich zu Hitlers Ernennung als Regierungschef führen, während sie in Großbritannien nur zu einem scharfen Wechsel von einer Labour-Regierung zu einer (konservativen) »Nationalen Regierung« innerhalb eines stabilen und recht gefestigten parlamentarischen Systems führte.19 Die Depression mußte also nicht automatisch die Suspension oder gar völlige Abschaffung der repräsentativen Demokratie herbeiführen, wie ja auch an den Folgen der Depression in den USA (Roosevelts New Deal) oder Skandinavien (Sieg der Sozialdemokratie) abzulesen ist. Nur in Lateinamerika, wo die Staatsfinanzen zum größten Teil vom Export eines oder zweier Rohstoffe abhängig waren, führte die Wirtschaftskrise, als die Preise für Rohstoffe plötzlich und dramatisch verfallen waren (siehe Drittes Kapitel), fast augenblicklich, automatisch und beinahe immer durch einen Militärputsch zum Sturz von Regierungen. Es sollte aber angemerkt werden, daß es auch hier Umstürze in die Gegenrichtung gab, nämlich in Chile und in Kolumbien.20

Im Grunde war jede liberale Politik verwundbar, denn ihre charakteristische Regierungsform – die repräsentative Demokratie – war kaum die überzeugendste Art und Weise, einen Staat zu lenken; und die Umstände im Zeitalter der Katastrophe konnten kaum jene Bedingungen garantieren, die eine solche Demokratie lebensfähig erhalten und effizient machen konnten.

Die erste dieser Bedingungen hieß, daß sich liberale Politik des allgemeinen Konsens und der Legitimation erfreuen sollte. Demokratie an sich beruht zwar auf diesem Konsens, schafft ihn aber nicht selbst herbei, abgesehen davon, daß in wohletablierten und stabilen Demokratien regelmäßige Wahlen den Bürgern (selbst den Minoritäten unter ihnen) die Vorstellung vermitteln, daß dieser Wahlprozeß jene Regierung legitimiert, die aus ihm hervorgeht. Doch nur wenige Demokratien der Zwischenkriegszeit waren wohletabliert. Bis ins frühe 20. Jahrhundert waren Demokratien außerhalb der USA und Frankreichs sogar höchst selten gewesen (siehe Das imperiale Zeitalter, Kapitel 4). Und in der Tat waren zumindest zehn europäische Staaten nach dem Ersten Weltkrieg entweder vollkommen neu, oder sie unterschieden sich so stark von ihren Vorgängern, daß ihre Bewohner keine spezifische Legitimation mehr erkennen konnten. Und noch weniger Demokratien waren außerdem auch noch stabil. Die Politik der Staaten war im Zeitalter der Katastrophe so gut wie ausschließlich Krisenpolitik.

Die zweite Bedingung hieß, daß ein gewisses Maß an Kompatibilität zwischen den verschiedenen Komponenten »des Volkes« bestehen mußte, dessen souveräne Stimme die gemeinsame Regierung bestimmen sollte. Die offizielle Theorie der liberalen bürgerlichen Gesellschaft hat »das Volk« jedoch nicht als eine aus Gruppen, Gemeinschaften und anderen Kollektiven bestehende Entität mit jeweils eigenen Interessen anerkannt (wenngleich Anthropologen, Soziologen und praktizierende Politiker es durchaus so sahen). Offiziell wurde das Volk – eher ein theoretisches Konzept denn ein realer Gesellschaftskörper aus lebendigen Menschen – als eine Ansammlung von unabhängigen Individuen betrachtet, deren Wählerstimmen sich zu arithmetischen Mehrheiten und Minderheiten zusammenfügten und in der Folge zu einer gewählten Mehrheitsregierung und Minderheitenopposition führten. Wo das demokratische Wahlsystem die Grenzen innerhalb der nationalen Bevölkerung durchlässig machte oder wo es möglich war, Konflikte innerhalb der Bevölkerung zu schlichten oder zu entschärfen, da war Demokratie lebensfähig. Doch in einem Zeitalter der Revolution und radikaler sozialer Spannungen hat sich eher Klassenkampf in Politik umgesetzt, als daß Klassenfrieden zur Regel geworden wäre. Und ideologische oder klassenspezifische Unversöhnlichkeiten konnten eine demokratische Regierung ruinieren. Mehr noch: Die stümperhaften Friedensvereinbarungen nach 1918 verstärkten nur noch das, was wir am Ende des 20. Jahrhunderts als tödlichen Virus für eine Demokratie kennenlernen sollten: die Spaltung von Bevölkerungen entlang ethnisch-nationaler oder religiöser Grenzen (Glenny, 1992, S. 146–48), wie im ehemaligen Jugoslawien oder in Nordirland. In Bosnien bildeten in den neunziger Jahren drei ethnisch-religiöse Gemeinschaften drei unterschiedliche Blöcke; in Ulster zwei unversöhnliche Gemeinschaften; und in Somalia gab es zweiundsechzig politische Parteien, wobei jede von ihnen einen anderen Klan oder Stamm repräsentierte – so kann die Grundlage für ein demokratisches politisches System nicht aussehen. Derartige Spaltungen können nur Instabilität und Krieg hervorrufen, es sei denn, eine der beteiligten Gruppen, oder eine Autorität von außen, ist stark genug, um eine (undemokratische) Dominanz herzustellen. Mit dem Sturz der drei multinationalen Reiche, Österreich-Ungarns, Rußlands und des Osmanischen Reiches, waren auch drei supranationale Staaten abgelöst worden, deren Regierungen zwischen den unzähligen Nationalitäten in ihrem Herrschaftsbereich Neutralität bewahrt hatten; ersetzt wurden sie durch eine viel größere Anzahl von Staaten, die fast genauso multinational waren, doch in jedem Fall nur einer, höchstens zwei oder drei der ethnischen Gruppen des Landes »gehörten«.

Die dritte Bedingung hieß, daß demokratische Regierungen nicht viel zu regieren hatten. Parlamente waren nicht in erster Linie zum Regieren, sondern zur Machtkontrolle über Herrscher geschaffen worden. Diese Funktion kommt noch immer deutlich in den Beziehungen zwischen dem Kongreß und dem Präsidenten der USA zum Ausdruck. Parlamente waren eine Erfindung, die als Bremse gedacht war, aber als Motor fungieren mußte. Souveräne Nationalversammlungen, die mit begrenztem, aber ständig erweitertem Stimmrecht gewählt wurden, waren natürlich seit dem Zeitalter der Revolution allgemein üblicher geworden. Nur, die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts war davon ausgegangen, daß das Leben der Mehrheit ihrer Bürger nicht in staatlich kontrollierten Sphären stattfinden würde, sondern in einer sich selbst regelnden Wirtschaft und einer Welt der privaten und nichtstaatlichen Gruppierungen (»Zivilgesellschaft«).21 Und sie wich den Schwierigkeiten des Regierens durch gewählte Versammlungen auf zweifache Weise aus. Sie erwartete von ihren Parlamenten nicht allzuviel Regierungstätigkeit oder gar Gesetzgebung, und sie traf Maßnahmen, welche die Kontinuität der Regierung oder, besser gesagt, der Verwaltung trotz der Launen der parlamentarischen Politik gewährleistete. Eine unabhängige und auf unbegrenzte Zeit berufene Beamtenschaft war ein wesentliches Mittel für die Regierungsführung moderner Staaten geworden (siehe Erstes Kapitel). Eine parlamentarische Mehrheit war nur dann notwendig, wenn wichtige und kontroverse Entscheidungen der Exekutive getroffen oder bestätigt werden mußten; und die Hauptaufgabe der Regierungen bestand in der Suche nach dauerhaften Mehrheiten in ihren Parlamenten. (Außerhalb Amerikas wurde die Exekutive in parlamentarischen Regierungen in der Regel nicht direkt gewählt.) In Staaten mit begrenztem Wahlrecht (also mit einer Wählerschaft, die hauptsächlich aus der Minderheit der Wohlhabenden, Mächtigen und Einflußreichen bestand) wurde dies noch durch den allgemeinen Konsens über das gemeinsame Interesse (»nationales Interesse«) vereinfacht, einmal ganz abgesehen von der Überzeugungskraft der politischen Protektion.

Im 20. Jahrhundert vervielfältigten sich die Situationen, in denen es unerläßlich für Regierungen wurde, auch tatsächlich zu regieren. Jener Staat, der sich darauf beschränkt hatte, die Grundregeln für das Wirtschaften und die Zivilgesellschaft aufzustellen und für effizient funktionierende Polizei, Gefängnisse und Armee zu sorgen, um interne wie externe Gefahren in Schach halten zu können, also der »Nachtwächterstaat« aus den politischen Witzen, war genauso überholt wie der Nachtwächter, der zu dieser Metapher angeregt hatte.

Die vierte Bedingung hieß Wohlstand und Prosperität. Die Demokratien der zwanziger Jahre waren entweder unter den Spannungen von Revolution und Konterrevolution zusammengebrochen (Ungarn, Italien, Portugal) oder aufgrund von Nationalitätenkonflikten (Polen, Jugoslawien); die Demokratien der dreißiger Jahre stürzten unter den Spannungen der Weltwirtschaftskrise. Man braucht nur die politische Atmosphäre im Deutschland der Weimarer Zeit und im Österreich der zwanziger Jahre mit der in der Bundesrepublik und im Nachkriegsösterreich zu vergleichen, um von dieser These überzeugt zu sein. Sogar Nationalitätenkonflikte waren leichter zu bewältigen, wenn Politiker aller Minderheiten aus einem gemeinsamen Staatstrog gefüttert wurden. Das war auch die Stärke der Agrarpartei in der einzig wirklichen Demokratie von Mittelosteuropa gewesen, der Tschechoslowakei, die allen und über alle nationale Grenzen hinweg Vorteile geboten hatte. Aber in den dreißiger Jahren konnte selbst die Tschechoslowakei nicht mehr die Tschechen, Slowaken, Deutschen, Ungarn und Ukrainer zusammenhalten.

Unter all diesen Bedingungen war Demokratie nur noch ein Mechanismus, mit dem die Spaltungen zwischen unversöhnlichen Gruppen formalisiert wurden. Häufig konnte sie nicht einmal mehr unter den bestmöglichen Umständen eine stabile Basis für eine demokratische Regierung schaffen; vor allem dann, wenn das Konzept der demokratischen Repräsentation nur noch in seiner rigidesten Form, nämlich als Verhältniswahlsystem, praktiziert wurde.22 Wo in der Krisenzeit keine parlamentarische Mehrheit zur Verfügung stand, wie in Deutschland (und im Unterschied zu Großbritannien)23, da war die Versuchung, sich in anderer Richtung zu orientieren, riesengroß. Sogar in stabilen Demokratien tendieren viele Bürger ja dazu, die politischen Teilungen, die das System impliziert, eher als Kosten denn als gewinnbringenden Vorteil des Systems anzusehen. Schon die politische Rhetorik versucht ja Kandidaten und Parteien eher als Repräsentanten des nationalen Interesses darzustellen denn als Vertreter der begrenzteren Parteiinteressen. In Zeiten der Krise schienen die Kosten eines solchen Systems untragbar und sein Gewinn höchst unsicher zu sein.

Unter all diesen Umständen ist leicht zu verstehen, daß parlamentarische Demokratien in den Nachfolgestaaten der alten Imperien sowie in den meisten Mittelmeerländern und in Lateinamerika empfindliche Pflänzchen waren, die auf steinigem Boden wuchsen. Selbst das stärkste Argument zugunsten der Demokratie – daß sie, so schlecht sie auch sein mag, noch immer besser sei als jedes andere System – ist letztlich nur eine halbherzige Fürsprache. Zwischen den Kriegen konnte ein solches Argument denn auch nur selten realistisch und überzeugend klingen; und sogar die vehementesten Verfechter der Demokratie hatten nur noch gedämpftes Zutrauen zu ihr. Ihr Rückzug schien unvermeidlich, als sogar in den Vereinigten Staaten ernstzunehmende (aber unnötig schwarzsehende) Beobachter meinten: »It Can’t Happen Here.«24 Niemand hat die Wiederauferstehung der Demokratie in der Nachkriegszeit ernsthaft erwartet oder vorhergesagt; und noch weniger, daß sie sich in den frühen neunziger Jahren als vorherrschende Regierungsform in der Welt etablieren sollte – wenn auch nur für kurze Zeit. Und für viele, die aus der Perspektive der neunziger Jahre auf diese Periode zwischen den Kriegen zurückblickten, schien der Untergang der liberalen politischen Systeme nur eine kurze Unterbrechung ihres säkularen Eroberungszugs durch die Welt gewesen zu sein. Unglücklicherweise aber schienen die Ungewißheiten im Umkreis der politischen Demokratie nicht mehr so fern zu liegen, je näher das neue Jahrtausend rückte. Und es könnte durchaus möglich sein, daß die Welt zu ihrem Unglück erneut in eine Ära eintritt, in der ihre Errungenschaften längst nicht mehr so offensichtlich sind, wie sie es zwischen 1950 und 1990 gewesen waren.

Das Zeitalter der Extreme

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