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Felix Wemheuer: Kann der Markt den Sozialismus retten? (Einleitung)

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„Der Versuch, heute dieses künftige Ergebnis des vollkommen entwickelten, vollkommen gefestigten und herausgebildeten, vollkommen entfalteten und reifen Kommunismus praktisch vorwegzunehmen, wäre gleichbedeutend damit, einem vierjährigen Kind höhere Mathematik beibringen zu wollen.“

Lenin (1920) 1

„Ob wir etwas mehr Plan oder Markt haben, ist kein grundlegender Unterschied zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Planwirtschaft ist nicht gleichbedeutend mit Sozialismus. Im Kapitalismus gibt es auch Planung. Marktwirtschaft ist nicht gleichbedeutend mit Kapitalismus, denn im Sozialismus gibt es auch Märkte. Plan und Markt sind beides wirtschaftliche Instrumente.“

Deng Xiaoping (1992) 2

Welche Bereiche der Gesellschaft sollen über den Markt geregelt und damit bestimmt von Profit, Gewinn und Verlust werden? Das ist eine der zentralen Fragen der Gegenwart. In der Hochphase des Neoliberalismus der 1990er-Jahre privatisierten Regierungen (im unterschiedlichen Ausmaß) auf allen Kontinenten öffentliche Betriebe und Wohnungen. Auch Bildung, Gesundheit, öffentliche Infrastruktur, Sicherheit, Altenpflege, Bahnen oder Post wurden teilprivatisiert und kommerzialisiert. Regierungen versprachen mehr wirtschaftliche Effizienz, besseren Service und Entlastung für den „Steuerzahler“. Spätestens seit der globalen Finanzkrise von 2008 scheint diese neoliberale Utopie gescheitert zu sein. Selbst der politische Mainstream tritt in vielen Ländern wieder für eine Stärkung der Rolle des Staates in der Wirtschaft und seiner Aufgaben in der öffentlichen Daseinsfürsorge ein.

Vor über 100 Jahren begann eine gegensätzliche Debatte. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde nach orthodoxer Auffassung des sowjetischen Marxismus-Leninismus der Sozialismus mit Planwirtschaft gleichgesetzt und Märkte mit Kapitalismus. Nach der russischen Oktoberrevolution von 1917 glaubten zum Beispiel linke Bolschewiki in der Phase des „Kriegskommunismus“ nicht nur Märkte, sondern auch den durch Geld vermittelten Warenaustausch sofort abschaffen zu können. Allerdings musste die Führung um Lenin vor dem Hintergrund von urbaner Hungersnot und Aufständen schon 1921 die „Neue Ökonomische Politik“ (NÖP) einführen, die den Austausch mit dem Land über den Markt regelte.

Dieses Buch führt in die Geschichte der Debatten zum „Marktsozialismus“ von den 1920er- bis zu den 1980er-Jahren ein. In ihnen ging es nicht nur darum, ob die Einführung von Marktmechanismen in die Planwirtschaft zu mehr wirtschaftlicher Effizienz führt, sondern auch um die Frage, ob der Sozialismus durch Wirtschaftsreformen gerettet werden könne. Die zentralen Fragen lauteten: Welche Elemente der „alten“ Gesellschaft braucht man noch in der „neuen“? Wenn Bereiche der Gesellschaft Marktmechanismen unterworfen werden sollen, dann welche? Kann man auf Gleichheit bei der Verteilung zugunsten ökonomischer Effizienz vorerst verzichten? Ist es unter den Bedingungen eines kapitalistischen Weltmarktes und globalen ökonomischen Verflechtungen überhaupt möglich, eine Gesellschaft aufzubauen, die nach ganz anderen Kriterien funktioniert?

Linke KritikerInnen des „Marktsozialismus“ warnten schon früh vor der Zunahme sozialer und regionaler Ungleichheiten oder sogar der Entstehung einer „neuen Bourgeoisie“. Während Reformen in Richtung „Marktsozialismus“ in Osteuropa die „Regimewechsel“ 1989 nicht verhindern konnten, hält sich die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) bis heute an der Macht. Das Land steigt gegenwärtig zur globalen Wirtschaftsmacht auf. Die KPCh bezeichnet offiziell ihr System als „Sozialismus mit chinesischer Besonderheit“ bzw. „sozialistische Marktwirtschaft“. Einige westliche WissenschafterInnen sprechen hingegen von „Staatskapitalismus“ oder „staatlich durchdrungenem Kapitalismus“.3 Die Einkommensunterschiede in China sind im globalen Vergleich sehr groß.4 Auch im Kontext dieser gegenwärtigen Entwicklung ist die Debatte um „Marktsozialismus“ im 20. Jahrhundert sehr lehrreich.

Marktsozialismus

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