Читать книгу Marktsozialismus - Ernest Mandel - Страница 8
Von der Oktoberrevolution zum klassischen Modell in der Sowjetunion
ОглавлениеNach der russischen Oktoberrevolution im Jahr 1917 übernahmen die Bolschewiki in einem Land die Macht, in dem über 80 Prozent der Bevölkerung außerhalb der Städte lebte. Die Vorstellungen, wie in einem rückständigen Agrarland Sozialismus aussehen könnte, waren umstritten und vage. Zunächst setzte die Sowjetregierung ein moderates ökonomisches Programm um – in Form einer Bodenreform und der Einführung von „Arbeiterkontrolle“ in Fabriken. Im Bürgerkrieg (1918−1920) entstand jedoch der sogenannte „Kriegskommunismus“, bei dem in den Städten der Staat die Wirtschaft übernahm und eine rationierte Verteilung einführte. Um die Rote Armee und Städte zu versorgen, ließ die Sowjetregierung auf den Dörfern zwangsweise Getreide requirieren, ohne den BäuerInnen dafür eine angemessene Gegenleistung bieten zu können. Geld wurde durch die hohe Inflation nahezu wertlos. Nach dem Sieg der Roten Armee über die konterrevolutionären Weißen brachen BäuerInnenaufstände los und die Flotte revoltierte in Kronstadt. Vor diesem Hintergrund setzte vor allem Lenin 1921 die sogenannte Neue Ökonomische Politik (NÖP) durch: Der Austausch mit den BäuerInnen sollte anhand dieser neuen ökonomischen Leitlinie nun über den Markt regelt werden. Tatsächlich stellte die neue Politik auch eine Legalisierung der schon existierenden städtischen und ländlichen Schwarzmärkte dar.
In der Partei gab es Diskussionen darüber, ob ein hybrides Wirtschaftssystem mit staatlicher und kollektiver Industrie, privatem Handel und bäuerlicher Kleinproduktion ein langfristig angelegtes Modell für den Aufbau des Sozialismus sei oder nur ein kurzzeitiger taktischer Rückzug. In den 1980er-Jahren bezogen sich Reformkräfte innerhalb kommunistischer Parteien auf die NÖP als Urform und Vorbild eines „Marktsozialismus“. Allerdings führte die NÖP nach einigen Jahren zu großen Problemen. 1928 kam es zu einer städtischen Versorgungskrise, da die BäuerInnen ihr Getreide nicht zu den festgelegten Preisen verkaufen wollten. In den Städten standen hohe Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit und der zur Schau gestellte Reichtum der HändlerInnen für viele ArbeiterInnen im Widerspruch zu den Idealen der Oktoberrevolution.
In der Partei setzte Stalin eine radikale Abkehr von der NÖP durch, indem zunächst in Sibirien wieder Zwangsmaßnahmen gegen die BäuerInnen stattfanden, um Getreide zu beschlagnahmen. Die AnhängerInnen einer Fortsetzung der NÖP um Nikolaj Bucharin, die sogenannte „rechte Opposition“, verlor den Machtkampf mit Stalin und wurde aus ihren Führungspositionen in der KPdSU entfernt. Schließlich ließ die Regierung mit Unterstützung von ArbeiterInnenaktivistInnen und Armee die Landwirtschaft in der Zeit von 1928 bis 1931 fast vollständig kollektivieren. Die Auseinandersetzungen mit der Landbevölkerung führten zur Deportation von „KulakInnen“ nach Sibirien und in einigen Regionen zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen. Es kam zu einer schweren Hungersnot mit 6 bis 8 Millionen Toten.9 Mit dem ersten Fünfjahresplan 1928 begann ein ambitioniertes Programm, um die Industrialisierung, die in Westeuropa schon fortgeschritten war, unter Führung des Staates in kürzester Zeit nachzuholen.
Bis Mitte der 1930er-Jahre hatte sich in der Sowjetunion das sogenannte „klassische Modell“10 des Staatssozialismus herausgebildet, das vor Stalins Tod 1953 nicht grundsätzlich in Frage gestellt wurde bzw. werden durfte: Eine leninistische Kaderpartei übte eine diktatorische Alleinherrschaft über alle Bereiche der Gesellschaft aus; die Industrie war verstaatlicht und die Landwirtschaft kollektiviert. Zentrale Fünf-Jahres-Pläne sollten den wirtschaftlichen Aufbau langfristig steuern. Konkrete Vorgaben für die Produktionsmengen aller wichtigen Produkte wurden zentral von Planungsbehörden festgelegt und die Umsetzung an die Betriebe und landwirtschaftlichen Kollektive, die Kolchosen, delegiert. Die staatlichen Behörden entschieden auch über die Verteilung von Investitionen und Gewinnen der Betriebe. Sie legten die Löhne und fast alle Preise fest. Die meisten Ressourcen flossen in den Aufbau der Schwerindustrie durch die „Ausbeutung“ der Landwirtschaft. Im Rahmen des staatlichen Monopols für den Auf- und Verkauf von Getreide setzte der Staat die Preise für den Aufkauf zu Ungunsten der BäuerInnen besonders niedrig an. Privater Konsum sollte generell beschränkt werden, um mehr Akkumulation und Investitionen durch den Staat zu ermöglichen. In diesem System gab es weiterhin Lohnarbeit, auch wenn die Kernbelegschaften wichtiger Industriebetriebe, zumindest nach dem Zweiten Weltkrieg, weitgehend vor Entlassungen geschützt wurden. Auf Planvorgaben und die Verwendung des gesellschaftlichen Mehrproduktes hatten die ArbeiterInnen auf Betriebsebene wenig Einfluss. Die offiziellen Gewerkschaften galten als „Transmissionsriemen“ zwischen Partei und Massen, Streiks waren nicht erlaubt.
Im Staatssozialismus fand ein Warenaustausch zwischen dem staatlichen, kollektiven und kleinen privaten Sektor statt. Außerdem wurde der Landbevölkerung erlaubt, innerhalb der Kolchosen auf „privatem Hofland“ für die Eigenversorgung und auch teilweise für Märkte, Kartoffeln und Gemüse anzubauen. Staatliche Zuteilung durch Rationierung von Lebensmitteln sah die sowjetische Regierung als Notbehelf in Krisenzeiten an. Im Warentausch galt Geld als allgemeines Äquivalent und im Verhältnis zum Weltmarkt gab es ein staatliches Außenhandelsmonopol.
Die sowjetische Parteiführung bezeichnete diese Verhältnisse schon Mitte der 1930er-Jahre als Verwirklichung des Sozialismus. Den Übergang zum Kommunismus stellte sich Stalin in seinen letzten Lebensjahren als die Übernahme aller Bereiche durch einen einheitlichen Sektor des Eigentums des ganzen Volkes vor. An den Ideen der Aufhebung der Arbeitsteilung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit sowie des Absterbens des Staates hielt er zwar formal fest, aber ihre Verwirklichung wurde auf eine ferne Zukunft vertagt.11