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Übernahme des sowjetischen Modells in Osteuropa und China
ОглавлениеBesonders nach dem Zweiten Weltkrieg galt die Sowjetunion als Vorbild, wie ein rückständiges Agrarland eine rasante Industrialisierung und Urbanisierung vollziehen könne. Die sowjetische Kriegswirtschaft war in der Lage gewesen, zum Sieg über das stärker industriell entwickelte Nazi-Deutschland entscheidend beizutragen. Nach dem Beginn des Kalten Krieges 1947 setzte die Sowjetunion ihre Vorstellungen von Sozialismus in ihrem Machtbereich durch. Die „Volksdemokratien“ in Osteuropa (Polen, Ungarn, Tschechoslowakei, Rumänien, Bulgarien und Albanien) und die Sowjetische Besatzungszone in Ostdeutschland erlebten zunächst eine „demokratische Revolution“, in der feudaler Großgrundbesitz an die Landbevölkerung verteilt wurde. Nach wenigen Jahren gingen sie jedoch zur „sozialistischen Transformation“ über. Die Industrie wurde verstaatlicht und die Landwirtschaft kollektiviert. Die Regierungen orientierten sich am Modell der zentralistischen Planwirtschaft der Sowjetunion. Nur Jugoslawien ging ab 1948 nach dem Bruch zwischen Stalin und Josip Broz Tito einen eigenen Weg.
Im Unterschied zur radikalen „sozialistischen Offensive“ in der Sowjetunion von 1928 setzten die Regierungen der „Volksdemokratien“ auf eine graduelle sozialistische Umwälzung von Industrie und Landwirtschaft. Stalin selbst hatte zu dieser Politik geraten.12 So konnten bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen mit der Landbevölkerung und Hungersnöte im Unterschied zur Sowjetunion vermieden werden. Selbst Länder wie Nordvietnam und China, in denen starke lokale Bewegungen die Kommunistischen Parteien an die Macht gebracht hatten, orientierten sich am sowjetischen Modell. In China halfen Tausende sowjetische BeraterInnen dabei, den ersten Fünf-Jahresplan (1953−1957) aufzustellen und umzusetzen.
Zunächst schien das sowjetische Modell erfolgsversprechend. In den 1950er-Jahren gelang es vielen staatssozialistischen Ländern Schwerindustrien aufzubauen und beeindruckendes Wirtschaftswachstum zu erzeugen.13 Rasante Urbanisierungen beschleunigten Modernisierungsprozesse in der Gesellschaft. Bildung und Gesundheitsversorgung sollte der Bevölkerung kostenlos zugänglich gemacht werden. Neuen Wohnraum und Kulturangebote stellte der Staat der Bevölkerung zu symbolischen Preisen zur Verfügung. Die Verfassungen garantierten „das Recht und die Pflicht zur Arbeit“. Die Kommunistischen Parteien wollten darüber hinaus mit Maßnahmen der „positiven Diskriminierung“ Kindern von „Arbeitern und Bauern“ den Zugang zu Hochschulbildung und politischen Ämtern ermöglichen. Die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt und ihr Vordringen in sogenannte „Männerberufe“ wurde durch betrieblich organisierte Kinderbetreuung ermöglicht.
Nach der Spaltung Europas in zwei Lager durch den Kalten Krieg nach 1947 träumten nicht wenige sozialistische PolitikerInnen und ÖkonomInnen von einer Abkopplung vom kapitalistischen Weltmarkt. In einer transnationalen sozialistischen Wirtschaftsgemeinschaft sollten Ressourcen planmäßig und koordiniert entwickelt sowie solidarisch ausgetauscht werden.14 Die Regierungen der Agrarstaaten Osteuropas hofften, die periphere Stellung ihrer Länder der Zwischenkriegszeit überwinden zu können, indem sie selbst eine industrielle Basis aufbauten. Die Vision eines geschlossenen sozialistischen Weltmarktes war nicht zuletzt eine Alternative zum damals bestehenden Kolonialsystem in Afrika und Asien, in dem sich auch neue unabhängige Staaten nur schwer aus der hierarchischen Arbeitsteilung mit den kapitalistischen Zentren befreien konnten.