Читать книгу Fritz Gezeiten des Lebens-Ebbe,Flut und Sturmfluten - Ernst-Otto Constantin - Страница 14

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Das Heimweh

1989: Fritz war schon 24 Jahre lang verheiratet und hatte einen 20-jährigen Sohn. Fritz wollte unbedingt noch einmal nach Hause, nach Wargienen. Das gelang. Fritz war hochrangiger Sekretär der Gewerkschaft öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr (ÖTV). Über deren Kontakte zur russischen Fischereigewerkschaft erhielt er eine Einladung nach Ostpreußen. Über Moskau fuhr der Zug durch die endlosen Weiten Weißrusslands nach Königsberg. Seine Frau und sein Sohn begleiteten ihn, dazu noch ein Dolmetscher aus Moskau, der sich als Germanist erwies und sich in der deutschen Literatur richtig gut auskannte. Vermutlich war ihm der wohl auch als Aufpasser an die Seite gestellt worden. Stunden stand Fritz am Fenster des Zuges, aufgeregt und aufgewühlt. Die ganze Vergangenheit, die seine Kindheit war, zog an ihm vorbei.

Immer wieder füllten sich seine Augen mit Tränen. Fritz hatte seine Frau und seinen Sohn darauf vorbereitet, dass man sicherlich Vorbehalte gegen sie haben würde. Der Zug fuhr in Königsberg ein. Den Bahnhof erkannte er sofort wieder. Am Bahnsteig vor der Tür des Wagons stand ein Komitee von 8 Russen.

Sie breiteten ihre Arme aus. „Willkommen in deiner Heimat“. Der Boden unter seinen Füßen schien zu wanken. Damit hatte er wirklich nicht gerechnet. Fritz war inzwischen 52 Jahre alt. Ein hartgesottener Kerl. Ein Tornado der Gefühle tobte in ihm. Man hatte ein richtig schönes Hotel für sie ausgesucht. Bei einem guten Essen gab es viel zu viel Wodka. Ein Reiseplan nach Fritz‘ Wünschen wurde aufgestellt. Zuerst wollte er gerne nach Arnau. Dort stand einst mitten in einem kleinen Dorf die Kirche, zu der Wargienen gehörte. Dann nach Wargienen und nach Trömpau, zum Schluss nach Rauschen und Kranz, den beiden Ostseebädern, die ebenfalls zum Erinnerungsschatz von Fritz gehörten.

Los ging es in einem relativ neuen Ford Transit nach Arnau. Da stand sie nun, die Kirche. Der Turm fehlte, in der Frontseite war ein großes Holztor. Es war verschlossen. Die Kirche hatte zuerst als Landmaschinenreparaturwerkstatt gedient und war jetzt Getreidelager. Sie war mit hohen Unkräutern und Büschen umgeben. Darunter waren irgendwo die Gräber seiner Vorfahren. Fritz ging alleine um die Kirche herum und sah vor sich den träge und unendlich friedlich dahinfließenden Pregel. Er schlängelte sich durch das flache grüne Land. Ein alter Mann mit einer breiten Ordensbrust stand plötzlich vor ihm. Fritz ahnte nichts Gutes.

Der Dolmetscher kam mit Frau und Sohn im Gefolge dazu. Schnell wurde dem Mann erklärt, wer diese deutschen Menschen seien. Dann eine Reaktion, die vollkommen unerwartet war. Der alte Mann umarmte den Sohn und sagte: „Bitte kommt immer wieder. Ich stand im Panzer, als wir in Königsberg einrückten. Es war eine schreckliche Trümmerwüste mit unendlich vielen toten Menschen.“ Dabei liefen ihm Tränen über die Wangen. „Ihr müsst immer wieder kommen. So etwas darf sich nie wiederholen.“ Fritz war tief berührt von dieser Begegnung.

Jetzt ging es nach Wargienen. Es war keine lange Fahrt. Da erschien vor seinen Augen der Pillenberg, mehr ein Hügel, und gleich danach konnte man schon von Weitem den Pferdestall sehen, an den so viele Erinnerungen geknüpft waren. Er schien unverändert.

Die Hofeinfahrt gab es noch. Das Elternhaus auch. Allerdings war das Obergeschoss abgetragen. Die Hecke und die Kastanienbäume gab es nicht mehr. In dem ehemaligen Büro seiner Eltern stand in einer Ecke die Wahlurne für die erste freie Wahl des russischen Präsidenten. Ach, der Kuhstall und der Kutschstall mit dem Storchennest standen noch, und auch die Schmiede war völlig unbeschädigt. Es war für ihn, als sei er erst gestern dort gewesen, nur die Birken an der Schmiede gab es nicht mehr, auch keine der großen Scheunen. Den Teich hatte man zugeschüttet. Wargienen war inzwischen eine Kolchose, das Elternhaus „Haus der Freundschaft“. Sein Schulweg war betoniert. Das ungeliebte Schulhaus stand noch, nur die Fenster des früheren Klassenzimmers waren zugemauert. Vor dem Haus saß eine Katze und sonnte sich. Die Kleinbahn gab es nicht mehr, aber das Transformatorenhäuschen auf der Weide stand noch so da wie früher. Tränen stiegen Fritz in die Augen. Er umarmte seine Frau. „Georgie, hier war ich so glücklich.“

Jetzt noch nach Trömpau. Die Stallgebäude waren noch alle da. Das herrschaftliche Gutshaus sei vor wenigen Jahren einfach in sich zusammengestürzt. Ursache sei gewesen, dass die Kellerräume als Salzund Kalilager gedient hatten. Das Zeug habe die Fundamente zerstört, sodass erst vor wenigen Jahren das große Gebäude krachend in sich zusammengefallen sei. Hier und da wuchsen Birkenbäumchen und Sträucher aus dem Trümmerberg heraus. Das Gärtnerhaus gegenüber dem Herrenhaus gab es noch, und die wunderbaren großen Rotbuchen im ehemaligen Park des Gutshauses standen auch noch. Der Park war hoch mit Unkraut überwuchert. Irgendwo darin befände sich das Grab des letzten Verwalters von Trömpau. Es war ein Deutscher. Ein guter Mensch sei er gewesen. Eine ältere Russin kam aus dem Schweinestall. Sie hatte nur noch einen Zahn und war ganz gut beleibt. Sie hatte rosige Wangen und das Haar unter einem Kopftuch versteckt. An ihren Gummistiefeln hing frischer Schweinemist. Ihre Schürze sah nicht besser aus. Sie erzählte: „Wir hatten hier einen Deutschen, als wir nach Trömpau kamen. Wir alle hatten Hunger und machten eine ganz schwere Zeit durch. Er hat alles mit uns geteilt und uns vor allem sehr beschützt. Ich würde ihn so gerne noch einmal wiedersehen und mich noch heute bei ihm bedanken.“ Heinrich habe er geheißen. Sein Familienname war Opfer der Vergessenheit. So sehr sie sich anstrengte, sie kam nicht mehr drauf, auch sonst niemand, der ihn kannte.

Viele andere Erinnerungen wurden wach. Vor allem an die Omi Denks. Wenn Fritz in Trömpau war, kümmerte sie sich liebevoll um ihn. Sein Zimmer lag gleich neben ihrem Schlafzimmer. Manches Mal schlüpfte er in ihr Bett. Dann las sie ihm Geschichten vor. Jeden Abend stellte sie ein Tellerchen mit geschälten Apfelstücken ans Bett. Es gab eine Gärtnerei mit einem Gewächshaus. Wie oft war er dort und durfte Tomaten pflücken, Radieschen ernten und Himbeeren gleich vom Strauch verzehren. Bis auf Großvater mochte er Trömpau sehr.

Übrigens züchtete Großvater Remonten (Pferde für die Wehrmacht) und viel Vieh. Er verkaufte nur an Juden. Als es die nicht mehr gab, weigerte er sich, an Nazis zu verkaufen. Nicht ein Stück bekamen die von ihm. Das brachte ihm große Schwierigkeiten ein. Allein Vater war es zu verdanken, dass das keine größeren Folgen hatte.

Von dort ging es nach Rauschen und Kranz, zwei Ostseebädern. Die waren damals sehr beliebt. Manches erkannte Fritz wieder. Zurück nach Königsberg. Der Dom stand noch. Innen ein Trümmerfeld. An einer Außenmauer das Grab von Immanuel Kant mit einer Gedenktafel. Immer wurden dort frische Blumen niedergelegt. Bis heute wird er verehrt von der russischen Bevölkerung. Er, dieser Deutsche, der Königsberg niemals verlassen hatte, ist noch immer lebendig bei den neuen Bürgern Königsbergs, vor allem in der Universität. Ja, und dann stand da noch die frühere Börse ganz unbeschädigt, und das Geburtshaus von Fritz gab es auch noch.

Nach einem Besuch im Hafen ging es wieder zurück nach Moskau. Der gebuchte Schlafwagen war von bewaffneten Soldaten besetzt. Sie fuhren mit, weil es inzwischen häufiger vorkam, dass Züge auf freier Strecke von Banditen angehalten und ausgeraubt wurden.

Fritz hatte das Ergebnis eines furchtbaren Krieges nachempfunden. Zorn und Wut stiegen in ihm auf beim Gedanken an die Tatsache, dass ein Mann, der offensichtlich vom Wahnsinn besessen war, noch dazu ein Österreicher, ganz legal Reichskanzler werden konnte, denn ja, – er war demokratisch gewählt worden. Für Fritz sind die heutigen Nazis und die sie tragenden Parteien Volksverräter. 12 Millionen Flüchtlinge, 6 Millionen in den KZs ermordet. Millionen Kriegstote. Angesichts dieser Katastrophen ist Fritz fassungslos, wenn er sieht, dass es wieder Parteien gibt, die dem Verbrecher von damals huldigen. Es spricht den Opfern Hohn, sie alle werden von solchen Typen entehrt. Es empört ihn entsetzlich, dass der Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag der AfD von einem Vogelschiss der Geschichte sprach.

Zorn, Trauer und Wehmut mischten sich. Fritz kann nicht verstehen, dass wieder so viele Menschen diesen Rattenfängern nachlaufen und sie auch noch wählen. Vater hatte das zu spät erkannt und sein Bruder, der sich mit Graf von der Schulenburg und den anderen Widerständlern einig wusste, fiel zu früh. Gerne wäre Fritz wieder zurückgekehrt nach Ostpreußen, in das Land seiner Sehnsucht. Die Umstände seines Lebensalters ließen ihn erkennen, dass es dafür nun zu spät ist. Aber die Heimat lebt noch immer tief verborgen in seinem Herzen.

Fritz Gezeiten des Lebens-Ebbe,Flut und Sturmfluten

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