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Flüchtlingskind auf einem norddeutschen Bauernhof

Es war kalt. Schnee lag über dem fremden Land. Endlich hielt der Wagen vor der Hofeinfahrt eines Bauernhauses mit einem Reetdach und einem großen grünen Tor an der Giebelseite. Sie standen wie angewurzelt in einer Schneewehe. Fritz hatte Kniestrümpfe an. Seine Zähne klapperten vor Kälte. Da ging die Tür auf. Eine alte Frau mit Kopftuch und einer erhobenen Mistgabel schrie: „Haut ab, ihr Polacken!!“ Die Frau wurde von dem Jungbauern, Gott sei Dank, eingefangen. Sie durften über die Tenne an Kühen und Pferden vorbei ins Haus. Es war warm, Fritz bekam kein Wort heraus. Die Alte verlor er nicht aus den Augen. Sie bekamen ein Zimmer zugewiesen. Die Betten waren mit dicken Federkissen ausgestattet. Sie wärmten gut. Varenesch bei Goldenstedt im Südoldenburger Land, – bei einer Familie Huntemann war man gelandet.

Mutter arbeitete als Magd auf dem Hof. Sie molk die Kühe, mistete den Stall aus und half im Haushalt. Fritz freundete sich mit Werner, dem Jungbauern, an. Seine Mutter hieß Tante Frieda, – eine warmherzige, sehr liebe Frau, sie ganz anders als die Altbäuerin, die sie so unfreundlich empfangen hatte. Sie durften in der Küche mit allen andern essen. Beeindruckend war das riesige viereckige Schwarzbrot. Zuerst wurde in der Mitte der Stirnseite des Brotes ein tiefer Schnitt gesetzt. Das Abschneiden der Scheiben erfolgte immer wechselseitig. Es schmeckte hervorragend. Ein so gewaltig großes Brot hatte Fritz noch nie gesehen. Die Sprache war aber so ganz anders. Das meiste verstand Fritz anfangs nicht. Der Südoldenburger Dialekt war so ganz anders als das ostpreußische Platt.

Schlimm war nur, dort gab es eine Schule, und in die musste er. Viel lieber war er im Kartoffelfeld, um Kartoffelkäfer zu sammeln. Er fühlte sich bei den Bauern richtig wohl. Man hatte auch einen Trecker. Geheizt wurde mit Torf. So etwas hatte er auch noch nie gesehen. Im Frühjahr ging es ins Moor zum Torfstechen. Es gab braunen und schwarzen Torf. Der schwarze Torf war besonders gut zum Heizen geeignet. Er wirkte fast wie Kohle. Der Torf wurde kunstvoll gestapelt, damit er in der Sommerzeit trocknen konnte. Torfstechen war eine unglaublich schwere Arbeit. Einen Sommer verbrachte er in Varenesch. Die Ernte des Getreides, später der Kartoffeln, alles war so ähnlich wie in Ostpreußen. Sehr bald starb die Altbäuerin. Ihre Tochter – Tante Frieda – kümmerte sich liebevoll um Fritz, wohl auch, weil er tüchtig mit anfasste. Sie sah in ihm immer auch ihren zweiten Sohn, der im Krieg geblieben war. Jede Woche wurde frische Butter gestampft. In Spätherbst wurde aus den Zuckerrüben Sirup in einem großen Kessel gekocht. Schinken und Würste wurden geräuchert von einem schwarz geschlachteten Schwein. Schwarzschlachtungen waren streng verboten. Fritz lebte wieder auf. Er war 9 und gehörte bald zur Familie. Seit 1950 fuhr er jeden Sommer in den Schulferien nach Varenesch. Das waren für ihn glückliche Wochen.

Was er nicht ganz verstand: Varenesch war evangelisch und Goldenstedt, 2 km weiter, katholisch. Man verkehrte nicht mit denen. Ja, es gab sogar wüste Schlägereien, wenn man aufeinander traf. Der Sohn der Familie – Werner – heiratete später ein hübsches Mädchen. Sie war ein Flüchtling, also keine „Einheimische“. Fortan wandte sich die gesamte Dorfgemeinschaft von den Huntemanns ab. Mariechen wurde dennoch von der Familie liebevoll aufgenommen und gegen alle Angriffe in Schutz genommen. Mariechen brachte zwei Jungen und eine Tochter zur Welt. Sie alle hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Aber die Sprachlosigkeit zwischen ihnen und der Dorfgemeinschaft hatte nie aufgehört. Sie waren und blieben demonstrativ ausgeschlossen.

Als Fritz dies alles aus seinen Erinnerungen in der Weihnachtszeit 2019 hervorholte, wurden Dinge lebendig, vor denen er sich heute wieder fürchtet. Was geht bloß in den Köpfen so vieler Menschen vor, die Juden und Flüchtlinge wieder hassen und mit Tod bedrohen. Rechts- und Linksradikale bringen wieder aufgrund ihrer Ideologie Menschen um. Wie zu Hitlers Zeiten sitzen im Bundestag und den Landesparlamenten wieder Nazis, die sich bürgerlich geben, es aber nicht sind. Wie damals fangen sie an, die Institutionen zu unterwandern, die Bundeswehr, die Polizei, die Gemeindeverwaltungen und das öffentliche Leben. Vergessen? Sie geben vor, das christliche Abendland retten zu wollen, haben aber mit Jesus nichts am Hut.

Vergessen? Jesus war schließlich Jude. Auch seine Eltern mussten kurz nach seiner Geburt mit ihrem Kind nach Ägypten fliehen, weil Herodes verfügt hatte, jeden Erstgeborenen zu töten. Die drei Weisen aus dem Morgenland hatten berichtet, dass den Juden ein König geboren sei. Diese Konkurrenz sollte beseitigt werden. Auch Jesus wurde also zum Immigranten.

Im Nachkriegsdeutschland sollten Flüchtlinge ohne Obdach aus Ostpreußen mit einer Mistgabel vom Hof gejagt werden. Werner Huntemann wurde aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen, weil er ein Flüchtlingsmädchen heiratete. Man schlug aufeinander ein, weil man einer anderen Konfession angehörte.

Heute wird auf Synagogen wieder geschossen und werden Deutsche jüdischen Glaubens angegriffen. Vielen ehemaligen Russlanddeutschen hatte Bundeskanzler Helmut Kohl die Übersiedlung nach Deutschland ermöglicht und ihnen enorm geholfen, in Deutschland wieder Fuß zu fassen. Wer will das verstehen, wenn zu viele von ihnen jetzt rechtsradikalen Parteien hinterherlaufen und diejenigen verachten, die ihnen bereitwillig eine neue Heimat boten. Dabei steht es ihnen doch frei, wieder dorthin zu gehen, wo sie herkamen.

Hass, Drohungen, und abgrundtiefe Verachtung werden hemmungslos verbreitet. Selbst vor Mord und Totschlag schreckt man nicht zurück, nicht nur begangen aus Hass gegen die Flüchtlinge von Heute, sondern besonders auch gegen Deutsche jüdischen Glaubens und Menschen, die sich für sie engagieren. Die Übergriffe sind alltäglich geworden.

Fritz versteht das alles nicht mehr. Er versteht nicht die Justiz, die allzu milde Urteile erlässt, falls sie überhaupt ermittelt. Er versteht die Politiker nicht, die jedes Mal versprechen, mit der ganzen Härte des Gesetzes durchgreifen zu wollen. Was passiert? Meistens nichts. Die Richter begnügen sich allzu oft gerade mal mit Bewährungsstrafen. Schwupps, laufen die Täter wieder frei herum und machen diesen Staat auch noch lächerlich.

Zorn und Trauer erfüllen Fritz heute. Es scheint sich zu wiederholen, was längst vergangen war.

Fritz Gezeiten des Lebens-Ebbe,Flut und Sturmfluten

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