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Erste Flucht

Der Winter 1944/1945 war bitterkalt. Mutter und Großmutter wurde es langsam zu gefährlich in Ostpreußen. Sie beschlossen, dass Großmutter mit den Kindern Wargienen verlassen soll. Mit der Kleinbahn ging es nach Königsberg. Auf dem Gleis am Bahnsteig stand ein langer Zug mit einer großen Dampflok davor. Großmutter trug ihre Dienstuniform, die Tracht einer Schwester des Roten Kreuzes, als sie Fritz samt Schwester abholte. Mutter blieb da. Sie sagte, sie müsse sich hier um die Menschen kümmern, für die sie verantwortlich war.

Der Zug war überfüllt. Nichts ging mehr rein noch raus. Es hieß, es sei der letzte Zug, der Königsberg verlassen würde. Verwundete Soldaten sahen die Rotkreuzschwester und riefen: „Reichen Sie uns die Kinder durch das Fenster!“, was auch geschah. Fritz fand sich samt seiner drei Jahre alten Schwester im Gepäcknetz wieder. Wie durch ein Wunder war Großmutter am Eingang des Abteils zu sehen. Als der Zug pfeifend aus dem Bahnhof fuhr, ahnte Fritz, dass sein Leben nie mehr so sein würde wie in seinem geliebten Wargienen.

Der Zug fuhr ohne Halt nach Westen. Es hieß, das Ziel sei Stettin. Unterwegs hielt er plötzlich mit kreischenden Bremsen auf freier Strecke, so als habe jemand die Notbremse gezogen. „Raus, raus! Tiefflieger kommen!“ Wer konnte, kroch wie die beiden Geschwister unter den Wagon. Im Schnee liegend hörten sie voller Angst Flugzeuge und Maschinengewehrfeuer. Als die Tiefflieger weg waren, hieß es schnell einsteigen. Es schien, als ob die drangvolle Enge etwas weniger eng geworden war. Es mussten wohl Menschen getroffen worden sein. Einige waren verletzt. Großmutter kümmerte sich um die Verletzten so gut es ging. Nach einigen Stunden kam der Zug in Stettin an. Großmutter und die beiden Kinder wurden vom Bahnhof mit Pferd und Wagen abgeholt. Es ging auf ein Gut, das einer Familie von Steinecker gehörte. Das seien Freunde von Vater, hieß es. Dort in Pommern blieben sie einige Zeit, bis es hieß, die Russen kommen. Steineckers wollten noch nicht trecken. Man konnte schon Kanonendonner hören, da wurde es Großmutter zu viel. Sie erbat Pferd und Wagen, um über die Oder zu fahren. Dort angekommen wollte man sie nicht mehr hinüberlassen, weil die Brücke gesprengt werden sollte. Schließlich hieß es: „Schnell, schnell, rüber, Schwester!“ Dann flog die Brücke auch schon in die Luft.

Das Gefährt gelangte an einen Fliegerhorst der Luftwaffe. Der Kommandant war froh, eine Krankenschwester zu haben, die sich um die Verwundeten kümmern konnte. Nach wenigen Tagen hieß es: „Schwester, Sie müssen den Fliegerhorst verlassen. Wir haben keine Möglichkeit, Sie nach Berlin oder Potsdam zu bringen, weil wir kein Benzin mehr haben. Die Flugzeuge werden gesprengt. Wir können Sie nur noch an die Autobahn bringen.“

Da stand sie nun mit den Kindern. Ein Auto war nicht zu sehen. Plötzlich nahte ein Kübelwagen der Wehrmacht mit einem Soldaten. Die Bremsen kreischten. „Rein, Schwester, schnell, schnell!“ Die Kinder saßen hinten auf einem MG und jeder Menge Munition und Großmutter vorne. Wie wild raste der Wagen die leere Autobahn entlang und erreichte schließlich den Bahnhof Erkner bei Berlin. Blitzschnell war der gute Mann verschwunden. Es war ein Deserteur. Großmutter stieg mit den Kindern in die S-Bahn und fuhr mit ihnen nach Potsdam, wo sie bis dahin zu Hause gewesen war. Sie wohnte in der Wilhelmstraße, nicht weit vom Schloss Sanssouci in einem wunderschönen Villenviertel. Dort war sie mit den Kindern in ihrem eigenen Zuhause.

Sicherheit und Geborgenheit kehrten ein. Fritz ging oft zum Sommerschloss des Alten Fritz. Er soll ein großer König gewesen sein. Fritz war begeistert von den Geschichten, die man ihm über ihn erzählte. Schließlich tauchte eine freundliche Frau auf, von der es hieß, sie sei schon die Lehrerin von Vater und Onkel Dieter gewesen, Frau Papendick hieß sie. Auweh! Eine nette Frau, aber leider auch etwas streng. Sie unterrichtete Fritz. So richtig angenehm fand er das nicht. Sie war jedoch sehr geduldig und keineswegs bösartig.

Eines Tages erschien Mutter. Rechte Freude wollte sich nicht einstellen. Sie hatte einen großen, stattlichen Mann an ihrer Seite. Er hatte schwarze, nach hinten gekämmte Haare. Sie habe ihn geheiratet und heiße jetzt Matysiak, Hans sei sein Vorname. Er wäre jetzt der neue Vater. Für die SS-Uniform und den ganzen Kerl empfand Fritz eine tiefe Abneigung. Dieser Mensch ignorierte seine Stiefkinder und behandelte sie wie Luft. Er erschien in den Augen von Fritz ziemlich arrogant und überheblich. So mochte er ihn von Anfang an nicht. Auch Großmutter war überhaupt nicht begeistert von diesem Typen. Mutter verschwand nach kurzer Zeit wieder, wohl zu den neuen Schwiegereltern. Als sie und der neue Mann weg waren, war die Luft irgendwie wieder rein.

Eines Tages gab es Fliegeralarm. Nichts wie rein in den Keller. Bombeneinschläge waren zu hören. Angst machte sich breit. Nach Stunden gaben die Sirenen Entwarnung. Man konnte wieder raus. Die Angriffe wiederholten sich. Das war einmal so heftig, dass Putz von der Decke des Kellers fiel.

Großmutter beschloss, mit den Kindern weiter nach Westen nach Bückeburg zu Freunden zu fahren. Die hießen Peitmann. Es waren sehr nette Menschen. Deren Haus lag ganz am Stadtrand und grenzte an eine große Wiese. In mehreren Erdlöchern war die Flak zur Luftabwehr positioniert. Fritz besuchte die Soldaten gerne. Eines Tages ging Fritz aus dem Haus, als es einen heftigen Schusswechsel gab. Fritz schmiss sich auf den Gehweg, dicht an die Gartenmauer gedrängt. Auf der Straße schlugen die Geschosse der Tiefflieger ein. Geschockt floh Fritz ins Haus. Zu den Soldaten ging er fortan nicht mehr.

Nach einigen Wochen kam Mutter. Ihr Mann, der neue Vater, sei im Krieg vermisst. Das sollte im Baltikum passiert sein. Aber das stimmte nicht. Der war in Halbe im Brandenburgischen gefallen, wie sich später herausstellte. Er war dereinst von der Gruppe Canaris2 angeblich zur Waffen-SS strafversetzt worden, nachdem die Gruppe Canaris wegen Kontakten zum Widerstand bei Hitler in Ungnade gefallen war. Canaris wurde Anfang April 1945 von einem SS-Standgericht im Konzentrationslager Flossenbürg zum Tode verurteilt und gehängt. Die Gruppe wurde aufgelöst. Mutter war nun zum zweiten Mal Witwe geworden. Aber sie hatte auch ihren Vater wiedergefunden. Großvater Overkamp lebte bei einem Freund in der Altmark bei Osterburg. Mutter wollte in seiner Nähe sein und nahm die Kinder mit.

2 Wilhelm Canaris (1887-1945) war bis 1944 Leiter des militärischen Geheimdienstes der Wehrmacht.

Fritz Gezeiten des Lebens-Ebbe,Flut und Sturmfluten

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