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Eine neue Katastrophe bahnt sich an

Mai 1945. Mutter fand eine Unterkunft in Gladigau bei Osterburg in der Altmark (Sachsen-Anhalt, Landkreis Stendal). Sie bewohnte zwei Zimmer in einem Anbau eines Bauernhauses. Die Küche und die Toilette waren außerhalb des Wohnbereichs. Gekocht wurde auf einem Herd, den man mit Holz aufheizen musste. Den Großvater hatte Fritz in dieser Zeit nie gesehen. Er vermisste ihn auch nicht. Mutter war öfter bei ihm. Eines Tages rollten Panzer durch das Dorf, aus allen Fenstern hingen weiße Betttücher als Zeichen, dass man sich ergeben habe. Die Amerikaner hatten das Land besetzt. Mutter brachte von den Freunden ihres Vaters immer wieder etwas zu essen mit.

Fritz ging in den nahen Wald, um Holz zu sammeln und es anschließend zu hacken, als Brennmaterial für den Kochherd. Eine Schule gab es nicht. Die hatte er auch nicht vermisst. Im Mai wurde er acht Jahre alt, seine Schwester war schon fünf.

Mutter erklärte oft, sie wisse nicht, was sie zu Mittag machen könne. Sie habe nichts. Brot und etwas Margarine habe sie noch. Das ging immer öfter so. Sie war zunehmend traurig und hilflos.

Beim Holzhacken passierte es. Das Beil traf seinen linken Zeigefinger. Das untere Gelenk sprang aus dem Knochen und hing an einem Hautlappen. Es blutete fürchterlich. Einen Arzt gab es nicht. Mutter nahm den abgetrennten Knochen, drückte ihn wieder in das Gelenk und schmierte ganz dick Lebertransalbe um den Finger. Die Schmerzen ertrug er unter Tränen. Täglich wechselte sie den Verband. Das Verbandmaterial schnitt sie aus einem ihrer Unterhemden. Tatsächlich wuchs das Fingerteil wieder an. Es bildete sich eine große Fingerkuppe. Diese Verunstaltung des Fingers ist bis heute geblieben und Zeugnis des damaligen Dramas.

Immer öfter ging Mutter mit seiner Schwester in den Wald, um Beeren und Brennholz zu suchen. Fritz erbettelte sich bei Bauern etwas Milch. In der Zeit der Kartoffelernte ging Fritz über die abgeernteten Kartoffelfelder. Er fand immer genug übriggebliebene Knollen, die vergessen worden waren. Sein Beutel füllte sich ordentlich.

Mutter wurde krank. Sie hatte hohes Fieber und Ruhr. Eine entsetzliche Situation. Es passierte ihr öfter, dass ihr Stuhlgang auf dem Weg zum WC verloren ging und sich auf dem Fußboden wiederfand. Manchmal ging das Ganze auch ins Bett. Fritz war verzweifelt. Mit Massen an Wasser sich selbst übergebend machte er die Fußböden sauber. Er wusch seine Mutter und sorgte für frische Bettwäsche. Mit der Hand versuchte er das Bettzeug zu waschen. Es gab auch nichts mehr zu essen. Hunger trieb ihn in den kleinen Kaufmannsladen, in dem ein paar Leute was auch immer einkauften. Fritz hatte gerade 10 Pfennige. Hinter ihm in einem Regal lag ein duftendes Brot. Blitzschnell griff er danach und wollte, so schnell er konnte, aus dem Laden raus, – vergeblich. Die Ladenbesitzerin zog ihn an den Ohren hinter den Tresen in einen kleinen Raum. „Was machst du da, warum tust du das?“

Fritz zitterte am ganzen Körper. Weinend und schluchzend sagte er, dass Mutter sehr krank sei und man nichts mehr zu essen habe.

Die Kaufmannsfrau hielt ihn fest an seinem Arm und wollte wissen, wo er wohnt. Sie ging ihn immer noch festhaltend mit ihm nach Hause. Was sie sah, erschütterte sie. Sie umarmte Fritz, half Mutter und sorgte für Essen. Es war eine gottesfürchtige Familie. Heidmann hießen sie.

Mutter kam langsam wieder auf die Beine. Sie war anfangs sehr schwach und tat, was ihr möglich war. Irgendwoher trieb sie Lebertran auf. Davon nahm sie reichlich. Die Kinder bekamen auch täglich einen Teelöffel davon. Das Zeug schmeckte scheußlich.

Mutter war mal wieder im Wald. Die Bauern riefen aufgeregt: „Die Russen kommen!“ Fritz alleine zu Hause überfiel eine unvorstellbare Angst, waren sie doch so viele Monate vor denen weggelaufen.

Mutter hatte etwas Schmuck und eine Mappe mit wichtigen Papieren. Fritz nahm das alles samt einem Reisewecker und steckte es in den Aschekasten des Kachelofens.

Vom Wohnzimmer aus gelangte man über vier Treppenstufen ins Schlafzimmer. Diese Treppe konnte man anheben und gelangte so in einen Keller. Fritz schloss den Einstieg über sich. Es war stockfinster. Er hockte vor Angst schlotternd in einer Ecke. Feuchtigkeit und Kälte krochen in ihm hoch. Keller und Haus bebten, als die Panzer ins Dorf fuhren. Er hörte Stimmen über sich und einige Schüsse. Dann wurde es ruhig. Er betete: „Lieber Gott, gib mir meine Mama wieder.“ Stunden vergingen. Plötzlich wurde angstvoll nach ihm gerufen. Fritz stieg aus dem Keller aus und fiel in die Arme seiner Mutter. Noch immer sorgten Heidmanns so gut sie konnten für Mutter und ihre zwei Kinder.

„Kinder, morgen ist Nikolaus.“ Hätte sie das doch bloß nicht gesagt. Fritz hing natürlich einen Strumpf an die Tür. Morgens fand er den Strumpf schlaff an der Türklinke. Nur unten in der Spitze befand sich etwas.

Heraus kam ein halbes knochentrockenes Brötchen. Tränen schossen ihm in die Augen, Tränen der Enttäuschung und Wut, dass man nicht in Wargienen geblieben sei. Von da an hing er nie wieder zu Nikolaus einen Strumpf an die Türklinke.

Fritz Gezeiten des Lebens-Ebbe,Flut und Sturmfluten

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