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Fünftes Kapitel Hauptklassen des Interesses

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§ 83. Den Kenntnissen, welche die Erfahrung, den Gesinnungen, welche der Umgang bereitet, soll sich der Unterricht anschließen (§ 36). Der Erfahrung entspricht unmittelbar das empirische, dem Umgange das sympathetische Interesse. Bei fortschreitendem Nachdenken über die Erfahrungsgegenstände entwickelt sich das spekulative, beim Nachdenken über größere Verhältnisse des Umgangs das gesellschaftliche Interesse. Wir fügen auf der einen Seite noch das ästhetische, auf der andern das religiöse Interesse hinzu, welche beiden nicht sowohl in einem fortschreitenden Denken, als vielmehr in einer ruhenden Kontemplation der Dinge und der Schicksale ihren Ursprung haben.

§ 84. Man darf zwar nicht erwarten, daß alle diese Klassen des Interesses sich in jedem Individuo gleichmäßig entfalten werden; dagegen unter einer Menge von Schülern muß man sie alle erwarten, und der verlangten Vielseitigkeit wird desto besser entsprochen, je mehr auch der einzelne sich einer solchen Geistesbildung nähert, worin alle jene Interessen mit gleicher Energie sich regen würden.

§ 85. Daß den hier angegebenen sechs Klassen des Interesses eine Zweiteilung zum Grunde liegt, wurde schon oben (§ 37) durch Angabe der historischen und naturwissenschaftlichen Richtungen bemerkt, und hiermit stimmt die Beobachtung in den Gymnasien zusammen, daß die Schüler sich mehr auf die eine oder auf die andere Seite zu neigen pflegen. Allein man würde sehr fehlen, wenn man deshalb ein historisches und ein naturwissenschaftliches Interesse in Gegensatz stellen, oder gar statt dieser Namen ein philologisches und mathematisches setzen wollte, wie freilich nicht selten geschieht. Die Verwirrung, welche hier in den Begriffen obwaltet, darf nicht bleiben, sie würde ganz unrichtige Ansichten des gesamten Unterrichts hervorbringen. Man wird ihr am leichtesten durch Betrachtung der großen Menge von Einseitigkeiten begegnen, welche selbst innerhalb jener sechs Klassen noch vorkommen; wenigstens kann dadurch das Mannigfaltige, was hier zu unterscheiden ist, noch deutlicher auseinander gesetzt werden. Denn die möglichen Einseitigkeiten treten noch viel weiter auseinander, als durch Angabe jener sechs Klassen konnte gezeigt werden.

§ 86. Das empirische Interesse wird in seiner Art einseitig, wenn es eine gewisse Art von Erfahrungsgegenständen mit Vernachlässigung der übrigen ergreift. So wenn einer bloß Botaniker, oder Mineralog, oder Zoolog sein will; wenn er bloß Sprachen liebt, vielleicht nur alte, oder nur neuere, oder von allen nur eine; wenn er (wie manche sogenannte Touristen) als Reisender nur die vielbesprochenen Gegenden sehen will, um sie gesehen zu haben; wenn er als Sammler von Seltenheiten nur diese oder jene Liebhaberei verfolgt; wenn er als Historiker nur von einem Lande, einer Zeit, Kunde verlangt usw.

Das spekulative Interesse wird in seiner Art einseitig, wenn es nur logisch, oder nur mathematisch – vielleicht nur mathematisch nach Art der alten Geometer –, oder nur metaphysisch – vielleicht nur nach den Ansichten eines Systems –, oder nur physikalisch – vielleicht nur mit Verfolgung einer Hypothese –, oder nur pragmatisch historisch sein will.

Das ästhetische Interesse wirft sich bald ausschließend auf Malerei, Bildhauerei, bald ausschließend auf Poesie, vielleicht nur auf lyrische oder nur auf dramatische, – bald auf Musik, vielleicht nur auf eine bestimmte Gattung derselben usw.

Das sympathetische Interesse wird einseitig, wenn der Mensch nur mit seinen Standesgenossen, oder nur mit Landsleuten, oder nur mit seinen Familiengliedern leben mag, für alle anderen Menschen aber kein Mitgefühl hat.

Das gesellschaftliche Interesse wird einseitig, wenn einer nur seiner politischen Partei hingegeben ist und alles Wohl und Wehe nur nach deren Vorteilen abmißt.

Das religiöse Interesse wird einseitig nach Verschiedenheit der Dogmen und Sekten, denen es huldigt, mit Geringschätzung der Andersdenkenden.

Manche dieser Einseitigkeiten führt im späteren Leben der Beruf herbei, aber der Beruf soll den Menschen nicht isolieren. Er würde es tun, wenn schon in den Jugendjahren eine solche Beschränktheit sich geltend machte.

§ 87. Noch genauere Zergliederung der Einseitigkeiten wäre zwar möglich, aber es bedarf derselben nicht, um zu finden, welchen Platz die erwähnten Gymnasialstudien unter den Lehrgegenständen einnehmen, die zur Belebung des Interesses dienen sollen. Die Sprachen zuvörderst sind erfahrungsmäßig vorhanden; weshalb aber wählt man unter so vielen Sprachen vorzugsweise die römische und griechische? Offenbar wegen der von ihnen dargebotenen Literatur und Geschichte. Die Literatur mit ihren Dichtern und Rednern gehört dem ästhetischen Interesse; die Geschichte weckt Teilnahme für ausgezeichnete Männer und für gesellschaftliches Wohl und Wehe; durch beides wirkt sie mittelbar selbst für das religiöse Interesse. Man findet keinen besseren Vereinigungspunkt für so viele verschiedene Anregungen. Selbst das spekulative Interesse geht nicht leer aus, wenn Nachforschungen über den grammatischen Bau dieser Sprachen hinzukommen. Aber die Geschichte bleibt nicht bei dem Alten stehen, auch die Literaturkenntnisse erweitern sich, um noch vollständiger zur Belebung jener Interessen zu wirken. Geschichte, wenn sie pragmatisch behandelt wird, kommt von einer andern Seite dem spekulativen Interesse zu Hilfe. Jedoch hierin bleibt der Mathematik der Vorrang, nur muß sie, um sicherer Eingang und eine bleibende Wirkung zu gewinnen, sich mit den Naturwissenschaften verbinden, welche zugleich dem empirischen und dem spekulativen Interesse angehören.

Wenn nun diese Studien gehörig zusammenwirken, so leisten sie in Gemeinschaft mit dem Religionsunterricht sehr vieles, um dem jugendlichen Geiste diejenigen Richtungen zu geben, welche dem vielseitigen Interesse angemessen sind. Wollte man aber Philologie und Mathematik auseinanderfallen lassen, die Verbindungsglieder wegnehmen und einen jeden nach seiner Vorliebe die eine oder die andere wählen lassen, so würden ein paar nackte Einseitigkeiten herauskommen, die durch das Vorhergehende hinreichend bezeichnet sind.

§ 88. Es wird jetzt anerkannt, daß auch die höheren Bürgerschulen gerade die nämliche vielseitige Bildung zu veranstalten, das heißt, gerade die nämlichen Hauptklassen des Interesse zu berücksichtigen haben, wie die Gymnasien. Der Unterschied liegt nur darin, daß die später nötige Berufsübung den Schülern der Gymnasien weniger nahe bevorsteht; daher auf den Bürgerschulen neuere Literatur und Geschichte einiges Übergewicht bekommt und den weiterstrebenden Köpfen die Hilfsmittel einer mannigfaltigen geistigen Tätigkeit nicht vollständig können dargeboten werden. Ähnliches gilt von allen denjenigen niederen Schulen, welche die Erziehung zu besorgen haben. (Anders verhält es sich bei Gewerbeschulen, polytechnischen Schulen, kurz bei denen, welche die Erziehung als schon geschehen, soweit sie nach den Umständen geschehen konnte, voraussetzen.)

Hat demnach eine höhere Bürgerschule einen richtigen Lehrplan, so kann man darin ebensogut, als in dem Lehrplan eines Gymnasiums, nachweisen, daß man dadurch wenigstens eine so große Einseitigkeit zu verhüten sucht, wie sich ergeben würde, wenn eine von jenen sechs Hauptklassen des Interesses zurückgesetzt wäre.

§ 89. Kein Unterricht aber ist imstande, diejenigen besonderen Einseitigkeiten zu verhüten, welche noch innerhalb jeder Hauptklasse entstehen können (§ 86). Ist Beobachtung, Nachdenken, Sinn fürs Schöne, Mitgefühl, Gemeinsinn und religiöse Erhebung einmal angeregt, wenn auch nur in einem engen Kreise von Gegenständen, so bleibt es großenteils dem Individuum und der Gelegenheit überlassen, für weitere Ausbreitung auf eine größere Menge und Mannigfaltigkeit der Gegenstände zu sorgen. Den Talenten, vollends dem Genie, kann man wohl die nötige Umsicht durch den Unterricht schaffen, der ihnen zeigt, was anderwärts von andern Talenten und anderem Genie geleistet wird; aber ihre Eigentümlichkeit müssen sie behalten und selbst verantworten.

Auch sind nicht alle jene partiellen Einseitigkeiten gleich nachteilig, denn nicht alle machen sich in gleichem Maße ausschließend geltend. Zwar jene alle können hochmütig werden, aber nicht alle sind dazu in gleichem Maße geneigt.

§ 90. Unter günstigen Umständen der Zeit und Gelegenheit, wie Gymnasien und höhere Bürgerschulen besitzen, beschränkt man sich bekanntlich nicht auf die ersten Anregungen, und es kommt in Frage, in welcher Folge die angeregten Interessen fortzubilden seien? Am Lehrstoff ist kein Mangel, man hat zu wählen und zu ordnen; hierbei dient im allgemeinen, was über die Bedingungen der Vielseitigkeit und des Interesse gesagt worden. Also: Fortschritt vom Einfacheren zum Zusammengesetzten, und Sorge für die Möglichkeit des unwillkürlichen Aufmerkens. Dabei darf man sich aber die Erfordernisse und die Schwierigkeiten nicht verhehlen.

§ 91. Das empirische Material (in Sprachen, Geschichte, Geographie usw.) erfordert bestimmte Komplexionen und Reihen von Vorstellungen samt deren Verwebung. Schon die Wörter bestehen aus Stämmen und dem was zur Biegung und Ableitung gehört; dies wieder aus den einzelnen Sprachlauten. Die Geschichte hat ihre Zeitreihen, die Geographie ihre räumliche Verwebung. Die psychologischen Reproduktionsgesetze bestimmen das Einprägen und Behalten.

Den fremden Sprachen dient die Muttersprache zur Vermittlung des Verstehens; aber sie widerstrebt zugleich den fremden Lauten und Wortfügungen; überdies dauert es lange, ehe dem jüngeren Knaben der Gedanke geläufig wird, daß in weiter Ferne des Ortes und der Zeit Menschen sind und waren, die anders reden und geredet haben; Menschen, um die man sich hier und jetzt bekümmern solle. Höchst gewöhnlich und zugleich sehr schädlich ist auch die Täuschung der Lehrer, daß ihr Ausdruck, weil er deutlich ist, darum schon von dem Knaben verstanden werde, dessen Kindersprache sich nur langsam erweitert. Diese Hemmungen sind zu überwinden. – Die Geographie hilft in Ansehung der örtlichen Entfernungen; aber dem Bewohner des flachen Landes fehlt die anschauliche Vorstellung der Gebirge; dem, der in Tälern aufwächst, die Anschauung der Ebene; den meisten die Vorstellung des Meeres. Daß die Erde eine Kugel sei, sich um ihre Achse drehe, die Sonne umkreise, klingt den Kindern lange wie ein Märchen, und es gibt gebildete Jünglinge, die an den Lehren vom Planetensystem zweifeln, weil sie nicht begreifen, wie man dergleichen wissen könne. Diese Hindernisse muß man heben und nicht unnötig anhäufen. – Für Geschichte könnten alte Ruinen eine Anknüpfung darbieten, wäre diese nicht viel zu dürftig und zu sehr in der Nähe, wo die frühere Jugend schon in jüdisches, griechisches, römisches Altertum soll versetzt werden. Hier helfen nur Erzählungen, die ein sehr lebhaftes Interesse erwecken; solche schaffen Stützpunkte für den Gedanken einer längst verschwundenen Vorzeit; aber es fehlt noch an der Schätzung chronologischer Distanzen bis zu unserer Zeit. Diese läßt sich nur sehr allmählich durch Einschaltungen erreichen.

§ 92. Zur Übung im Denken, und hiermit zur Anregung des spekulativen Interesses, bietet sich alles dar, was in der Natur, in menschlichen Angelegenheiten, im Bau der Sprachen, in der Religionslehre einen Zusammenhang nach allgemeinen Regeln erkennen oder auch nur vermuten läßt. Überall jedoch – selbst schon beim Gebräuchlichsten, dem gemeinen Rechnen und der Grammatik – begegnen dem Schüler allgemeine Begriffe, Urteile, Schlüsse. Er klebt am Einzelnen, Bekannten, Sinnlichen; das Abstrakte steht ihm fern, selbst die geometrischen Figuren, fürs Auge hingezeichnet, sind ihm einzelne Dinge; nur mit Mühe erkennt er ihre allgemeine Bedeutung. Das Allgemeine soll die Besonderheiten aus seinen Gedanken verdrängen, aber umgekehrt drängt sich das Bekannte in den gewohnten Vorstellungsreihen hervor, und vom Allgemeinen bleiben ihm fast nur die Worte, womit man es bezeichnet. Soll er einen Schluß machen, so verliert er eine Prämisse über der andern; man muß vielmals von vorn anfangen, die Beispiele den Begriffen unterlegen, die Begriffe scheiden und verbinden, die Sätze allmählich einander nähern. Sind die Mittelbegriffe in den Prämissen glücklich verschmolzen, so ist doch die Verbindung anfangs lose; die nämlichen Sätze werden oft vergessen, und man darf sie nicht zu oft wiederholen, wenn man nicht das Interesse vertreiben will, anstatt es zu erregen.

Es ist ratsam, vieles von dem, was schon durch Schlüsse eingesehen war, für eine Zeitlang dem Vergessen preiszugeben, da man dies nicht hindern kann, und dagegen späterhin auf andern Wegen zu den Hauptsachen zurückzukehren. Die ersten Vorübungen erreichen ihren Zweck, wenn sie das Allgemeine im einzelnen erblicken lassen, noch ehe die Begriffe zu Gegenständen von Lehrsätzen werden, und ehe man die Sätze zu Schlußreihen verbindet. Zwischen dem ersten Zeigen der Allgemeinheiten und dem systematischen Lehren ihres Zusammenhangs darf das Assoziieren (§ 69) nicht fehlen.

§ 93. Die ästhetische Kontemplation kann man zwar durch mancherlei andere Interessen, auch durch aufgeregte Affekte, veranlassen, sie selbst aber erfolgt nicht anders, als bei so ruhiger Lage des Gemüts, daß es das simultane Schöne genau zusammenfassen und dem successiven in entsprechender Bewegung nachkommen kann. Faßliche Gegenstände müssen dargeboten sein; zur Betrachtung darf nicht getrieben werden, wohl aber können unangemessene Äußerungen, – vollends Beschädigungen solcher Gegenstände, die ästhetischen Wert haben und denen Respekt gebührt, zurückgewiesen werden. Oft ist Nachahmung, – wenn auch anfangs sehr roh, – Nachzeichnen, Nachsingen, lautes Nachlesen, – späterhin Übersetzen ein Zeichen der Aufmerksamkeit; dies Nachahmen mag begünstigt, nur nicht gelobt werden. Die rechte Wärme, welche bei ästhetischer Bildung von selbst sich erhebt, wird sehr leicht durch Erhitzung verdorben. Überhäufung schadet, Kunstwerke, die einer höheren Bildungsstufe angehören, darf man nicht zu einer niederen herabziehen, Kunsturteile und Kritiken soll man den Schülern nicht aufdringen.

§ 94. Die Interessen der Teilnahme hängen noch mehr vom Umgange und dem häuslichen Leben ab, als die vorigen von der Erfahrung. Wenn Kinder oft den Platz wechseln, dann kann ihre Anhänglichkeit nirgends wurzeln, schon der Wechsel der Lehrer und der Schulen ist schädlich, die Schüler machen Vergleichungen nach ihrer Weise; eine Autorität, die nicht dauert, gilt wenig, das Streben nach Ungebundenheit wirkt dagegen. Der Unterricht kann solche Übel nicht heben, um desto weniger, da er selbst oft die Form wechseln muß, was eine scheinbare Verschiedenheit der Lehrer mit sich bringt. Allein desto nötiger ist es, daß der Unterricht in der Geschichte diejenige Wärme fühlen lasse, welche den historischen Personen und Begebenheiten gebührt. Aus diesem für die ganze Erziehung wichtigen Grund hat man sehr Ursache, die Geschichte nicht wie ein chronologisches Skelett erscheinen zu lassen. Besonders ist dies beim früheren historischen Unterricht zu beachten, von welchem es großenteils abhängt, was für Eindruck auch späterhin die gesamte Geschichte machen wird.

Vom Religionsunterricht braucht nicht erst gesagt zu werden, wie sehr er die Abhängigkeit des Menschen muß fühlen lassen, und wie sehr von ihm erwartet wird, daß er die Gemüter nicht kalt lasse. Allein der historische Unterricht muß mit ihm zusammenwirken, sonst stehen die Religionslehren allein und laufen Gefahr, in das übrige Lehren und Lernen nicht gehörig einzugreifen.

Johann Friedrich Herbart: Umriß pädagogischer Vorlesungen

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