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Kapitel 1 Hamdi und Ramdi
ОглавлениеZwischen den weiß getünchten Häusern von Al Hurgha war es noch kühl zu dieser Morgenstunde. Noch vertrieb eine frische Brise die Hitze des Vorabends aus den Räumen. Doch schon bald, wenn die Sonne höher stieg, würden die Winde die Glut der Wüste mit sich bringen, und die Schatten würden kürzer werden. Sobald die grell leuchtende Scheibe den Zenit erreichte, würde einem die Luft vor Augen flimmern und der Sand jedem die Fußsohlen verbrennen, der es wagte, ohne Schuhwerk umherzulaufen. Es würde ein heißer Tag werden, so wie immer.
»Ah, Shanli ist schon dabei, den Karren zu beladen!« Der alte Taliman hatte gerade einen Fensterladen aufgestoßen und im Hof das wohlbeleibte Nachbarsmädchen bei seiner Arbeit entdeckt.
Sein Eheweib, Golroo, die bei einem Fenster nebenan die Läden öffnete, erwiderte: »Ja, heute ist doch Markt. Sie will dort, wie ihr Vater, die Ware verkaufen. Irgendwie muss sie schließlich Geld verdienen.«
Der grauhaarige Mann seufzte und stützte sich auf den Fenstersims. »Das wird nicht leicht werden für sie, nach Omids Tod.«
»Ja. Aber wir werden ihr helfen, wo wir können«, sagte die ältere Frau und eilte zur Tür, um sie aufzuschließen.
Taliman humpelte zu seiner Frau und beobachtete von dort aus, wie Shanli eine Kiste nach der anderen in den Handkarren lud.
»Schau mal, Golroo! Ich glaube, sie hat abgenommen. Ihr Kleid scheint nicht mehr so eng zu sitzen.«
Golroos Augen wurden schmal, als sie das Mädchen genauer inspizierte. »Ja. Sie wirkt nicht mehr ganz so dick wie an Omids Beisetzung.«
»Oder ist es nur ein neues Kleid?«, fragte Taliman und kratzte sich dabei sein graues Kinnbärtchen.
Golroo legte ihren Kopf schief. »Ja, das könnte natürlich auch sein.«
Plötzlich tönte die Stimme des jungen Mädchens zu ihnen hinüber. »Guten Morgen, ihr zwei. Ich kann euch übrigens hören, und nur, damit ihr es wisst: Es ist kein neues Kleid.«
Als Shanli die letzte Kiste auf dem Wagen abgestellt hatte, drehte sie sich zu dem älteren Ehepaar um. Sie schmunzelte, denn wieder einmal hatten Taliman und Golroo es geschafft, ihr ein fragwürdiges Kompliment zu machen, und das auf ihre ganz besondere Art. Sie wusste selbst, dass man sie nicht als Schönheit bezeichnen konnte. Dazu waren ihre Waden zu stark, die Schenkel zu voll und der Bauch zu rund. Über ihren breiten Hintern wollte sie lieber nicht nachdenken, denn der konnte es locker mit dem eines Kamels aufnehmen. Ihr einziger Trost war, dass ihr praller Busen ausladender war als ihr Bauch und sie eine schmalere Körpermitte besaß. Zwar hatte jene immer noch ein gewaltiges Ausmaß, aber immerhin war eine Taille auszumachen. Irgendwo, zwischen den Teigröllchen. Dies verlieh ihrer fülligen Figur zumindest einen Hauch von Weiblichkeit. Ihre runden Wangen und das kurze Kinn ließen ihre Nase noch kleiner erscheinen. Würde sie nicht frech in die Höhe ragen, würde sie vermutlich gar nicht auffallen in ihrem Gesicht. Ein Glück, dass sie ohne großen Buckel zwischen ihren dunkelbraunen Augen lag. Wenigstens diese vermochten, ein bisschen von ihren Pausbacken abzulenken.
Golroo lachte, und ihr Gesicht gewann zusätzliche Falten. »Guten Morgen, Shanli, meine Liebe. Das ist doch wunderbar. Und wenn du noch weniger isst, wirst du irgendwann richtig hübsch werden.«
Shanlis schwarze Augenbrauen hoben sich in entsetzter Überraschung.
»Jaha«, erwiderte sie mit einem säuerlichen Grinsen. Und gerade, als sie glaubte, es könne nicht noch schlimmer werden, nickte Taliman ihr aufmunternd zu.
»Dann kommen auch endlich die Männer und wollen dich alle heiraten. Du wirst sehen, die werden dir das Haus einrennen.«
Unglücklich lächelnd verzog das Mädchen sein Gesicht. »Ja, danke, Taliman. Da kann ich ja nur hoffen, dass du richtig liegst. Aber jetzt – muss ich erstmal auf den Markt.«
Mit einem genervten Aufstöhnen verschloss sie die Tür ihres bescheidenen Heims und packte danach den Handkarren. Entschlossen zog sie ihn hinter sich her, auf die Straße.
Shanli versuchte, die trüben Gedanken, die Golroo und Taliman geweckt hatten, aus ihrem Kopf zu verscheuchen. Aber das war gar nicht so leicht. Als wäre der Tod ihres Vaters nicht schrecklich genug, musste sie sich auch noch mit solchen Dingen auseinandersetzen. Gut, sie war ein wenig runder als die meisten Mädchen. Ja, vielleicht sogar auch um ein ganzes Stück runder. Na und? Warum sollte sie deshalb keinen Mann finden? Aber … sicher würde es doch irgendwo einen geben, der sich von ihrem Kamelhintern nicht abschrecken ließ, schließlich hatte ihr Kopf keine Ähnlichkeit mit dem eines Tieres. Es musste ein Mann sein, dem der Charakter wichtiger war als das Äußere. Und wenn der ihr nicht über den Weg laufen würde, dann blieb sie halt allein. Sie würde auch ohne einen männlichen Beschützer durchs Leben kommen.
Wie sehr sie doch ihren Vater vermisste!
Shanlis Traurigkeit verwandelte sich in Wut. Trotzig zerrte sie ihren Wagen durch die engen Gassen und kam nach einer Weile am Markt an. Die junge Frau wusste genau, wo ihr Vater all die Jahre seinen Stand aufgebaut und die süßen Backwaren feilgeboten hatte. Sie würde sein Handwerk weiterführen, denn nichts anderes hatte sie gelernt und konnte sie so gut wie dies. Sogar ihr Vater hatte stets behauptet, dass ihr Talent zum Backen seines bei Weitem überträfe. Ja, ihre Leckereien waren wirklich von besonderer Güte. Sie hatte genug Süßigkeiten von anderen Händlern gegessen, um das beurteilen zu können. Von irgendwoher mussten ihre Rundungen ja kommen. Dank der außergewöhnlichen Gewürze und des reinen Mehls, auf das sie großen Wert legte, schmeckten ihre Backwaren außerordentlich gut.
Sie verwendete auch nur die besten Mandelkerne und die süßesten Früchte, die sie auftreiben konnte. Es machte ihr Freude, die kleinen Köstlichkeiten zuzubereiten, und sie liebte es, neue zu erfinden.
Viele der anderen Kaufleute, Händler und Bauern waren schon da und bauten ihre Stände auf. Es herrschte reges Treiben. Die Luft war geschwängert von dem Geruch des reifen Schafskäses, der jungen Zwiebeln und der frisch gefangenen Fische. Das leise Gackern der Hühner, die zum Verkauf angeboten wurden, vermischte sich mit den Rufen der Händler und den dröhnenden Schreien der Esel, welche die Lasten schleppten.
Nach allen Richtungen grüßend bahnte sich Shanli einen Weg durch das Getümmel. Sie liebte den Markt, denn er sprühte vor fröhlicher Lebendigkeit. Eine Horde Kinder tobte lautstark an ihr vorüber und brachte sie zum Schmunzeln. Oft nahmen die Händler ihre ganze Familie mit, und während sie die Ware ausluden, kümmerten sich ihre Ehefrauen hinter den Ständen um den Nachwuchs.
Die Bäckerstochter kam an Tuchhändlern vorbei, die ihre bunten Stoffballen zu gefährlichen Türmen aufeinanderstapelten. Diesen folgten Verkaufsstände, an denen mit Holzgeschirr und Keramik gehandelt wurde. Danach kamen Bauern, die Eier, Käse und Honig unter die Leute bringen wollten. Die Fischer und Fleischer hatten ihre Stände hinter den Olivenbauern, welche ihre grüne und schwarze Ernte, Seifen und Öle feilboten. Dann kamen die Gewürzstände, die ebenso farbenfroh waren wie jene der Tuchhändler. Diese mochte Shanli besonders, denn die unzähligen Gewürzsäcke lagerten offen, vor und auf den Verkaufstischen, sodass man ungehindert einen Blick hineinwerfen konnte. Dunkelrotes Paprikapulver, gelbes Curry, braunes Piment, schwarzer Kümmel, grüne Kardamomkapseln und vieles mehr verströmten einen eigenen herrlichen Duft.
Vieles erinnerte sie, auf tröstliche Weise, an ihren Vater. Bald gelangte sie zu der Stelle, an der er gewöhnlich seinen Stand aufgebaut hatte.
Doch zu Shanlis Verblüffung hatte bereits ein anderer Händler diesen Platz bezogen. Es war ein Bäcker, der seine Fladenbrote verkaufen wollte.
»Seid gegrüßt, Fremder«, sagte Shanli und stellte ihren Karren vor dem Mann ab. »Bestimmt war es ein Versehen, aber Ihr steht hier auf Omids Platz.«
Der Bäcker warf ihr einen mürrischen Blick zu und verteilte nebenher seine Ware auf dem Tisch. »Nein, das war Omids Platz. Aber nun ist es meiner.«
»Nein. Ich bin Omids Tochter, das ist nun mein Verkaufsplatz«, herrschte Shanli den Mann an.
Dieser drehte sich zu ihr um, und unverhohlene Verachtung machte sich auf seiner Miene breit. »Marktplätze können nur von den Söhnen übernommen werden. Niemals von Töchtern.«
Mit großen Augen sah Shanli den Bäcker an. »Aber mein Vater hatte keinen Sohn, ich verkaufe nun die Backwaren.«
»Das kannst du von mir aus auch tun«, meinte der Mann hämisch. »Aber nicht auf dem Markt und schon gar nicht auf meinem Platz.« Er wandte ihr den Rücken zu und beschäftigte sich erneut mit dem Ordnen seiner Ware.
Entrüstet tippte Shanli gegen sein Schulterblatt. »Nein. Das hier ist mein Platz, und du wirst ihn jetzt räumen.«
Zornig drehte der Bäcker sich zu ihr um. »Falsch, du wirst hier verschwinden. Schlepp dein breiten Hintern und dein freches Maul von meinem Stand fort.«
Wütend schnaubte Shanli unter der Nase des Mannes: »Ich sag dir, wohin ich meinen breiten Hintern schleppe: vor den Marktaufseher. Der wird dir dann sagen, wo du dein dämliches Gesicht hinschleifen darfst.«
Mittlerweile hatten die anderen Händler, die um sie herumlagerten, aufgehört, ihre Verkaufsstände aufzubauen und schauten den Streitenden zu. Zu Shanlis Entsetzen kamen einige näher und mischten sich ein.
»Frauen haben auf dem Markt keinen Stand. Das gab es noch nie!«
»Soweit kommt es noch, dass Frauen Handel betreiben dürfen.«
»Als würde irgendjemand von einer wie dir etwas kaufen wollen.«
»Soll sie ihr Zeug doch lieber selbst fressen. So wie sie aussieht, macht sie das sowieso den ganzen Tag.«
Im Chor lachten die Männer Shanli aus, hielten sich die Bäuche und zeigten mit dem Finger auf sie.
Die Wut und der Ärger der jungen Frau wuchsen mit jedem Lacher, denn zu ihres Vaters Zeiten wäre man mit ihr nicht so umgesprungen.
»Nur, weil ich eine Frau bin, soll ich hier nicht verkaufen dürfen? Ihr habt doch nicht mehr alle Datteln an der Palme!«, schrie sie in die Runde. »Meine Ware ist genauso gut wie eure, wenn nicht noch besser.«
»Worte eines dummen, fetten Weibs!«
»Ist es das, wovon du nachts träumst, abgesehen vom Essen?«
»Verschwinde von hier!«
»Du hast hier nichts verloren, Weib!«, riefen die Händler durcheinander.
Doch Shanli wollte nicht klein beigeben und schüttelte störrisch den Kopf. »Ihr könnt mich mal gernhaben! Ich werde einfach stehen bleiben und hier meine Waren verkaufen.«
»Das wirst du nicht!«, bellte ein Verkäufer, packte Shanlis Wagen und schob ihn weg.
»Halt, du Dieb! Lass sofort meinen Karren los!« Shanli spurtete dem Mann hinterher und sprang ihm auf den Rücken.
Der Fladenbrotverkäufer eilte ihr ebenso nach und versuchte, sie von dem Dieb hinunterzureißen, der ging durch das wilde Gezerre schließlich zu Boden. Letztlich purzelten alle drei übereinander.
Zwischenzeitlich hatte einer der Händler den Marktaufseher geholt, der nun mit stolz geschwellter Brust angetrabt kam.
»Was ist denn hier los?«, brüllte er auf die Meute nieder, die sich im Staub zu seinen Füßen wälzte.
Aus den drei Streitenden waren mittlerweile sechs geworden. Während Shanli auf den vermeintlichen Karrendieb einschlug, versuchte einer, diesen außer ihrer Reichweite zubringen, was jener allerdings als Angriff wähnte und sich nun an zwei Fronten wehrte. Der Bäcker, der Shanli um die Taille gepackt hatte, wurde unterdessen von einem anderen zurückgehalten, da es als unsittlich galt, eine fremde Frau anzufassen, geschweige denn, auf ihr zu liegen. Ein anderer Verkäufer wollte Shanli ebenfalls aus dem Getümmel entfernen und zog entschlossen an einem ihrer Fußgelenke. Nichtsdestotrotz fing er sich dafür fortwährend saftige Tritte von ihr ein.
Da keiner der Balgenden dem Marktaufseher Beachtung schenkte, nickte der seinem Gehilfen zu, welcher umgehend einen Eimer Wasser besorgte.
Erst als die sechs Streithähne vor Nässe trieften und sich die Augen rieben, kehrte Ruhe ein.
Mit nassen, verstrubbelten Haaren und geröteten Wangen schaute Shanli grimmig zu dem Marktaufseher auf. »Da seid Ihr ja endlich, Marktaufseher.« Atemlos zeigte sie auf den Fladenbrotverkäufer neben sich. »Der Trottel will mir meinen Platz streitig machen.« Als Nächstes zeigte sie auf den Karrendieb. »Und der Esel hier wollte meine Ware stehlen.«
Doch sogleich wetterten die Männer dagegen.
»Sag ihr, dass du mir selbst diesen Platz zugeteilt hast, Marktaufseher.«
»Stimmt doch gar nicht. Dein Wagen stand im Weg, ich wollte ihn bloß zur Seite schieben«, schrie der andere Shanli an.
»Welcher Marktplatz? Der von Omid?«, fragte der Marktaufseher und verschaffte sich Gehör.
»Ja!«, schrie der Bäcker, und Shanli nickte selbstsicher.
»Ja, Omid war mein Vater. Also geht der Platz an mich über!«
Der Marktaufseher schüttelte den Kopf. »Nein. Auf dem Markt handeln keine Frauen. Verkauf deine Ware zum Küchenfenster hinaus, wie es die andern Weiber tun.«
Bestätigendes Gemurmel der Männer trieb Shanli die Zornesröte ins Gesicht. Davon hatte sie noch nie etwas gehört. »Seit wann ist das so? Überall sind hier Frauen hinter den Ständen.«
Mit stoischer Miene sprach der Marktaufseher: »Ja, aber sie verkaufen nicht. Das Recht auf einen Marktplatz liegt schon immer bei den Männern.«
Trotzig zogen Shanli ihre Augenbrauen zusammen. »Aber Ihr wisst genau, dass man in den Gassen nichts einnimmt. Die Käufer tummeln sich hier auf dem Markt, wo sie die Waren vergleichen können.«
»Dennoch bist du eine Frau und wirst, gemäß den Vorschriften, keinen Marktstand bekommen«, widersprach der Marktaufseher.
»Warum, überhaupt, dürfen Frauen keinen Handel auf dem Markt betreiben? Es ist höchste Zeit, dass diese altbackenen Vorschriften geändert werden.«
Laut gaben die Männer ihre Entrüstung über diese dreiste Forderung kund.
Die Brust des Marktaufsehers schwoll an, und in Rage brüllte er auf Shanli hinunter: »Was glaubst du, wer du bist? Meinst du, ein dahergelaufenes, feistes Weib kann die althergebrachten Vorschriften einfach so außer Kraft setzten? Aus gutem Grund wurden die Frauen aus dem Markthandel ausgeschlossen, weil nämlich genau immer das passiert, was jetzt auch geschehen ist. Streit und Zwietracht liegen euch im Blut. Tratsch und Ränkespinnerei sind nicht die Beschäftigungen der Männer, wohl aber die der Weiber. Vor langer Zeit, nachdem man teures Lehrgeld bezahlt hatte, beschloss man diese Vorschrift. Die wird nicht nur in Al Hurgha eingehalten, sondern auch in Hesch Tael, wo der Markt doppelt so groß ist. Sogar in Pallagur hält man daran fest.«
Plötzlich erklang Hufgetrappel, und das erregte Murmeln der umstehenden Zuschauer wurde stetig lauter. Es waren die riesigen Pferde der Leibgarde des Schahs, denen eine Gasse freigeräumt wurde und die vor ihnen stehen blieben.
Hastig stand Shanli auf und brachte ihre Kleider in Ordnung. Das fehlte ihr gerade noch, dass sie in diesem Aufzug Schah Parviz vor die Augen treten sollte. Sie hatte ihn hin und wieder aus großer Entfernung gesehen, wenn er durch Al Hurgha ritt, denn sein Palast lag am Ende der Stadt, auf einem Hügel. Wie oft hatte sie sich vorgestellt, er würde von seinem Rappen aufschauen, wenn er durch die Gassen ritt, und sie an ihrem Schlafzimmerfenster bemerken? Eindeutig zu oft. Denn auch jetzt spielte sich der Traum in ihrem Geiste ab.
Wie eh und je würde Parviz ihr von seinem Pferd aus ein strahlendes Lächeln schenken, das ihr Herz flattern ließ. Natürlich verliebte er sich auf den ersten Blick in sie. Sobald er sie bemerkte, würde er die Zügel seines Rappens anziehen und elegant aus seinem Sattel gleiten. Seine obsidianfarbenen Haare würden ganz langsam, bei jeder einzelnen seiner Bewegungen, im Wind schwingen. Ohne sie einen Moment aus den Augen zu lassen, würde er behände die Kisten hochklettern (die selbstverständlich immer rein zufällig unter ihrem Fenster herumstanden). Und dann, wenn er bei ihr auf dem Fenstersims angelangt war, dann würde er sie stürmisch in die Arme ziehen und …
»Nenne dem Schah jetzt endlich deinen Namen, du einfältiges Huhn!«, schrie der Marktaufseher in Shanlis Ohr.
Erschrocken fuhr die junge Frau zusammen und erwachte aus ihrem Tagtraum. Sie fand sich tatsächlich Schah Parviz gegenüber und stellte fest, dass er noch viel attraktiver war, als sie sich vorgestellt hatte. Aber eigentlich überraschte sie das nicht. Groß und stattlich stand er vor ihr.
Als Parviz Shanlis Geistesabwesenheit wahrnahm, verzogen sich seine vollen Lippen zu einem atemberaubenden Schmunzeln. Dieses verleitete das Mädchen wiederum zu einem leisen Seufzen. Die zimtbraunen Augen des Schahs waren nicht nur wunderschön, sondern strahlten auch wahre Güte aus.
Hatte er sie schon angesprochen? Wie lange hatte sie so weggetreten da gestanden? War ihr etwa der Sabber aus dem Mund gelaufen? Denn immer, wenn sie von ihm träumte, war am nächsten Morgen ihr Kopfkissen nass!
Gebannt stierte Shanli auf Parviz' Mund, und weil der Schah so groß war, musste sie den Kopf in den Nacken legen.
»Nun, verrätst du mir heute noch deinen Namen, oder soll ich morgen noch mal vorbeikommen?«
Ein hysterisches Kichern entwich Shanli, nachdem sie sich dazu überwinden konnte, dem Schah zu antworten. »Nein, ich verrate ihn Euch, aber Ihr könnt morgen gerne noch mal kommen.«
»Und?«, fragte Parviz, während seine Stirn sich in Erwartung kräuselte.
»Und was?«, erwiderte Shanli und beobachtet, wie der Schah zweifelnd zum Marktaufseher blickte.
Der schüttelte grummelnd den Kopf und schrie der jungen Frau abermals ins Ohr, die immer noch völlig in Parviz' Anblick versunken war.
»Deinen Namen, Weib!«
Auf ein Neues zuckte das Mädchen zusammen. »Oh, Shanli, Euer Hoheit. Ich heiße Shanli Farhad.«
Parviz nickte. »Gut. Und warum hast du hier eine Prügelei angezettelt?«
Enttäuscht über diese Unterstellung, die nicht richtig war (zumindest nicht ganz), zog Shanli beleidigt den Kopf ein.
»Ich habe keine Prügelei angezettelt, sondern nur den Idioten dort davon abgehalten, meine Ware zu stehlen. Und ich habe versucht, mein Recht auf den Marktplatz meines Vaters durchzusetzen.«
Erneut brach ein Streitgespräch aus, denn die Händler wollten die Anschuldigungen nicht auf sich sitzen lassen. Parviz hörte jedem der Männer aufmerksam zu, und erneut verfiel Shanli ins Träumen. Mit leerem Gesichtsausdruck verfolgte sie, wie Parviz von einem zum Nächsten schritt. Nachdem er mit dem Marktaufseher einige Worte gewechselt hatte, wandte er sich wieder ihr zu.
»Nun, Panli, so wie es aussieht …«
»Ich heiße Shanli, nicht Panli«, unterbrach das Mädchen den jungen Schah schüchtern.
Zerstreut schüttelte dieser den Kopf. »Ja, sagte ich doch. Wie dem auch sei, leider kannst du den Marktplatz nicht bekommen. Die Vorschriften dazu sind eindeutig: Keine Frau darf auf dem Markt ihre Ware verkaufen.«
Traurig schlug Shanli die Augen nieder, denn wenn der Schah ihr dies untersagte, gab es nichts daran zu rütteln. Sie musste dem Markt fernbleiben und auf anderem Wege ihre Backwaren verkaufen. Die Frage war nur, wie? Niemals würde sie genügend Geld einnehmen, um die Kosten decken und sich selbst versorgen zu können.
Sanft legte Parviz einen Finger unter Shanlis Kinn und hob es an. »Nun hadere nicht, Ramdi.«
»Shanli!«, flüsterte die junge Frau und war zu tiefst betrübt, dass der Schah sich nicht mal ihren Namen merken wollte.
»Ja, genau«, ging der Schah ungerührt über seinen Fauxpas hinweg. »Was willst du denn verkaufen?«
Shanli schniefte und zeigte hinter sich auf den Karren. »Süßwaren.«
Parviz ließ ihr Kinn los und linste an ihr vorbei auf die Kisten, die mit allerlei Backwaren gefüllt waren. Ein leichtes Grinsen legte sich auf seine Züge, als er Shanli wieder betrachtete. »Wenn ich dich so anschaue, dann können sie doch nur wunderbar schmecken.«
Die anderen Händler prusteten leise in die Hände, als hätte Parviz sie beleidigt, doch Shanli wusste es besser. In den Augen des jungen Schahs war nämlich kein Spott zu finden, sondern nur offene Freundlichkeit, die ihr Inneres erwärmte.
Auch Parviz ließ sich von dem leisen, hämischen Gelächter nicht beirren. »Komm heute Nachmittag in den Palast und bring mir von deinem Gebäck. Wenn es meine Mutter und mich begeistern kann, wirst du vielleicht der neue Hoflieferant.«
Das Gelächter der Männer verstummte abrupt, und Shanli bekam riesige Augen. »Ist das Euer Ernst, Hoheit?«
Parviz nickte mit einem Schmunzeln. »Natürlich.« Dann drehte er sich um und ging auf seinen Rappen zu. Ein Strahlen machte sich auf Shanlis Gesicht breit, und mit klopfendem Herzen sah sie zu, wie Parviz sich in den Sattel schwang. Er nahm die Zügel in die Hand, und bevor er davonritt, zwinkerte er ihr zu. »Nasche nicht zu viel von deinen Leckereien, Hamdi, das würde nur deiner Schönheit schaden.«
Voller Verlegenheit begann Shanli, zu kichern. Noch nie hatte ein Mann zu ihr gesagt, dass sie schön war. Selbst dass er ihren Namen schon wieder verunstaltet hatte, machte ihr nichts aus. Denn bald würde sie Hoflieferant werden und jeden Tag in den Palast gehen, um Parviz zu sehen. Ja, sie würde den Schah verwöhnen und ihn mit ihren Süßigkeiten in den Bann ziehen. Ob er sie dabei Hamdi oder Ramdi nannte, das war ihr völlig gleich.