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Die Frau, die nicht mehr aufstand

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Ich habe vor einiger Zeit eine Geschichte gelesen, von der ich fürchte, dass sie wahr ist: Eine 34-jährige Frau in England bekommt eine Grippe. Der Arzt besucht sie und verordnet ihr, im Bett zu bleiben, bis er das nächste Mal vorbeikommt. Dieser Arzt taucht aber – aus welchen Gründen auch immer – nie wieder auf. Die Frau wird nach einigen Tagen wieder gesund, doch sie bleibt im Bett liegen. Genau so, wie es ihr der Arzt gesagt hat.

Nach einigen Wochen stellt die Frau fest, dass es ganz angenehm ist, im Bett zu bleiben und bedient zu werden. Als ihre Mutter nach einigen Jahren stirbt, übernimmt ein Schwager die Betreuung, und so bleibt die Frau 40 Jahre im Bett, bis ein neuer Arzt vorbeikommt und feststellt, dass die Frau, die mittlerweile 74 Jahre alt ist, im Grunde kerngesund ist. Aufstehen kann sie allerdings nicht mehr. Sie ist zu dick geworden und ihre Muskeln zu schwach. Durch gutes Zureden und Therapie wird die Frau sieben Monate später auf die Beine gestellt und lebt noch drei Jahre. Sie stirbt mit 78 Jahren. Mehr als die Hälfte davon hat sie im Bett verbracht.

Der Mensch kann sich an alles gewöhnen, sogar an sein Elend. Es ist ja durchaus auch bequem, sich festzulegen … auf einen Standpunkt, auf bestimmte Umstände oder eine bestimmte Rolle – oder auf das Bett der Tradition: »Das haben wir schon immer so gemacht« oder einer bestimmten Theologie: »Das was wir machen, funktioniert zwar nicht, ist aber theologisch richtig.«

Und ehe man sich versieht, ist man wie gelähmt. Selbst, wenn man jetzt noch anders wollte: Es geht nicht mehr. Kennen Sie das, dass Sie gerne mal so ganz anders sein möchten, dass Sie mal über Ihren Schatten springen, mal verborgene Seiten Ihrer Persönlichkeit aufdecken und entfalten wollen, aber Sie tun es nicht, denn Sie sind auf die eine oder andere Weise festgelegt? Ödön von Horváth bringt dieses Lebensgefühl gut auf den Punkt: »Eigentlich bin ich ganz anders. Ich komme nur so selten dazu.«

Wer das jemals empfunden hat, weiß: Das ist kein schönes Gefühl. Und doch kann sich glücklich preisen, wer diesen Schmerz noch verspürt. Denn das bedeutet, dass unsere Instinkte noch funktionieren, dass es einen Bereich unserer Seele gibt, der sich mit der vorgeblichen Wirklichkeit nicht arrangieren will. Wenn wir diesen Schmerz gar nicht mehr empfinden, bedeutet das, dass wir aufgegeben haben … und dass wir den Glauben verloren haben, dass es über diese vorfindliche Wirklichkeit hinaus noch andere Möglichkeiten gibt. Solange der Schmerz noch brennt, besteht Hoffnung. Es gibt wirklich gute Gründe, warum Jesus fragt: »Willst du gesund werden?«

Zwei Geschichten, eine Aussage: Wenn wir lange genug auf einer Matte festliegen, legt am Ende die Matte uns fest. Das gilt für den Mann am Teich wie für die Frau, die nicht mehr aufstand. Und es gilt leider auch für unsere Kirche.

Der evangelische Patient

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