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Der evangelische Patient

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Nun steht da eine beseelte Frau und freut sich aus ganzem Herzen, dass sie wieder aufrecht gehen kann. Halleluja! Und was passiert: Der Synagogenvorsteher fängt an sich zu beschweren. So wie in unseren Gemeinden vermutlich auch einige Leute verstört gucken würden, wenn jemand neben ihnen einen Freudentanz aufführen würde.

Symbolisch gesprochen geschieht hier folgendes: Die geheilte Frau richtet ihren Blick weg von sich selbst (worauf er wegen ihrer Verkrümmung 18 Jahre lang gerichtet war) hin zu Gott – und der Vertreter der Institution holt sie zurück in die Niederungen des religiösen Betriebs. Was sich vor allem darin zeigt, dass er erstaunlicherweise weder Jesus noch die Frau angreift, sondern die gesamte Gemeinde, die er mit harschen Worten daran erinnert, was sich gehört und was nicht: »Da antwortete der Vorsteher der Synagoge, denn er war unwillig, dass Jesus am Sabbat heilte, und sprach zu dem Volk: ›Es sind sechs Tage, an denen man arbeiten soll; an denen kommt und lasst euch heilen, aber nicht am Sabbattag.‹«

Anstatt das Wunder zu würdigen, sich mit der Frau zu freuen und sich zu fragen, ob es ihm eventuell selbst guttun könnte, den Blick frohgemut nach vorne zu richten, fängt er an, Gebote und Kirchenordnungen zu zitieren. Und diese Haltung finden wir in unseren Gemeinden öfter, als uns lieb sein darf. Sie glauben, das wäre übertrieben? Ist es nicht! Wir haben von einer Kollegin gehört, die durch ihr Zweites Theologisches Examen gefallen ist, allein weil sie sich falsch herum zum Altar gedreht hat. Wirklich! Insider wissen: In fast allen protestantischen Kirchen Deutschlands darf sich der Liturg nur über die Herzseite zum Herrn wenden, also linksherum. Sich rechtsrum zum Altar drehen gilt als grober Fehler. Die Frage bei dieser Kandidatin war also nicht, ob sie eine grandiose, bewegende Predigt gehalten hat, sondern, ob sie ein äußeres, von kaum jemanden verstandenes und zudem unbiblisches Ritual ausführen konnte oder nicht. Als hätte sich Jesus jemals dafür interessiert, in welche Richtung sich ein Mensch zum Altar dreht.

Das mag ein extremes (und auch schon etwas älteres) Beispiel für institutionelle Verkrümmung sein, aber wenn es darum geht, bandscheibenzerstörende (Folter-) Bänke in Kirchen gegen bequeme Stühle auszutauschen, den Gottesdienst familienfreundlich von 9.00 Uhr auf 11.00 Uhr zu verlegen, ein nach dem Jahr 2000 komponiertes Lied zu singen oder an der Liturgie von 1853 erste Aktualisierungen durchzuführen, dann erleben wir oft sehr eindrücklich, wie sich eine an die Tradition gefesselte Kirche selbst lähmen kann. Wie der Blick nach innen den Blick nach außen verhindert.

Wir reden zwar vom Aufrecht-Gehen, schauen uns aber ständig auf die Füße, beziehungsweise auf die Fußstapfen, die hinter uns liegen, anstatt den Weg zu betrachten, der vor uns liegt. Vermutlich hat Jesus deshalb den berühmten Satz vom Pflügen in die Welt gesetzt: »Wer die Hand an den Pflug legt und zurückschaut, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.« Denn es gilt: Wer eine gerade Furche im Acker ziehen will, der muss dort hingucken, wo er hinwill. Wer dagegen nach hinten oder unten schaut, der fängt an, Schlangenlinien zu laufen. Sprich: Wer das Reich Gottes bauen will, der darf sich nicht von dem beherrschen lassen, was vergangen ist.

Das klingt jetzt womöglich harsch, aber letztlich passiert in der Evangelischen Kirche heute an vielen Stellen das, was auch Jesus damals mit diesem Vorsteher erleben musste: Tradition ist vielerorts wichtiger als »Heilung«. Und da, wo Ansätze für heilende Prozesse erkennbar sind, werden Menschen aufgrund der kirchlichen Strukturen kritisiert oder ausgebremst. Noch einmal: Die Perspektive des hier für alle reaktionären Kräfte stehenden Synagogenvorstehers ist so eng, dass er im Grunde verkündet: »Gott darf nicht wirken, wenn er sich nicht an die vorgeschriebenen Traditionen hält.« Womit wir am Knackpunkt dieses von einer Heilung ausgelösten Konflikts wären: Die Institution ist wichtiger geworden als das Evangelium.

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