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»Mehr desselben«

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Das Ganze erinnert ein wenig an Paul Watzlawicks Ausführungen zu Lösungen erster und zweiter Ordnung. In seinem Buch »Anleitung zum Unglücklichsein« erzählt er den alten Witz von dem Betrunkenen, der unter einer Straßenlaterne verzweifelt nach seinem verlorenen Schlüssel sucht. Ein freundlicher Polizist kommt daher und hilft ihm. Als sie nichts finden, fragt der Polizist: »Sind Sie sich ganz sicher, den Schlüssel hier verloren zu haben?« Darauf antwortet der Betrunkene: »Nein, nicht hier, sondern dort hinten. Aber da ist es viel zu dunkel zum Suchen.« – Wenn Menschen ein Problem haben, neigen sie dazu, sich noch mehr anzustrengen – und zwar in die gleiche Richtung. Watzlawick nennt das »Lösungen erster Ordnung«. Eine »Lösung zweiter Ordnung« hingegen würde bedeuten, etwas völlig anderes zu tun, wenn etwas dauerhaft nicht funktioniert. Logisch, oder? Albert Einstein soll einmal gesagt haben, es sei geradezu die Definition von Irrsinn, immer wieder das Gleiche zu machen und dabei auf unterschiedliche Ergebnisse zu hoffen.

Leider aber neigen wir Menschen dazu, in Problemfällen lieber »mehr desselben« statt etwas völlig Neues zu machen. Dieses »Mehr desselben« hält nicht nur das ursprüngliche Problem instand, sondern verschlimmert es oft sogar, weil es das Problem zementiert und Ressourcen bindet, die für »Lösungen zweiter Ordnung« nicht mehr zur Verfügung stehen. Das heißt: Die vermeintliche Lösung (erster Ordnung) wird selbst zum Problem.

Vielleicht tun wir unserer Kirche Unrecht, aber wir glauben, das beschreibt viel von dem, was wir in den letzten Jahren erlebt haben. Wie oft haben wir erlebt, dass innovative Aufbrüche, die von unten kamen, einfach abgebügelt wurden: »Das ist im geltenden Gesetz nicht vorgesehen.« Aber auch umgekehrt: dass Kirchenleitende neue Wege einleiten wollten, die dann an der Kirchenbasis gestoppt wurden, weil man lieber so weiter machen wollte wie bisher. Die Leitfrage der meisten Reformen, die wir in den letzten Jahrzehnten beobachten konnten, lautet: »Wie können wir das Bisherige unter der Maßgabe geringer werdender Finanzen in größtmöglichem Maße beibehalten?« – eigentlich eine kluge Frage. Und doch: Wenn man unter der Laterne sucht …

Ich habe in der Schule noch mit dem Rechenschieber gearbeitet. Damals kamen gerade die ersten Taschenrechner auf. Und was wurde da nicht alles an Argumenten aufgefahren: Das sei stillos, es sabotiere das »richtige« Rechnen. Und doch setzten sich die kleinen elektronischen Ketzerlein durch. Daraufhin kam der frühere Marktführer für Rechenschieber auf eine tolle Idee und verkaufte »Rechenschieber deluxe« in Mahagoniausstattung mit goldfarbener Prägung. Die machten echt etwas her. Trotzdem kaufte in unserer Klasse nicht ein Einziger so ein Mahagoni-Teil.

Könnte es sein, dass viele binnenkirchliche Wege zu solchen »Lösungen erster Ordnung« gehören? Dass sie die Frage stellen, wie wir trotz allgemein zurückgehenden Interesses und rückläufiger Mittel so viel wie möglich am Alten, Bisherigen festhalten können, statt die Türen zu öffnen für echte Innovationen und Weiterentwicklungen? Dass wir zwar jede Menge Reformen durchgeführt haben, uns aber an eine »neue Reformation« nicht herangetraut haben? Sie fragen, was der Unterschied ist? Ganz einfach: Eine Reform ist eine Verbesserung innerhalb eines bestehenden Systems. Eine Reformation hingegen ist ein Systemwechsel. Reformen wirken immer systemstabilisierend. Reformationen hingegen stellen das System als solches infrage.

Jesus sagt: »Wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, (nur) der wird’s finden« (Matthäus 16,25). Wir tun gut daran, dieses Wort nicht nur auf andere, sondern auch auf uns selbst und unsere kirchlichen Strukturen und Traditionen anzuwenden und unsere gängigen Wege einer grundlegenden Überprüfung zu unterziehen. Vor allem, wenn wir – wie heute weithin der Fall – an unsere Grenzen stoßen und nicht mehr weiterkommen. Ganz offensichtlich kann etwas, was früher einmal richtig war, heute richtig falsch sein. Die große Frage ist natürlich: Was kommt am Ende dieses Prozesses heraus? Sind wir, wenn wir nach einem grundlegenden Systemwechsel innerhalb unserer Kirche fragen, dann noch »evangelisch«? Wir finden: ja. Gerade dann. Denn die Reformation hat nicht allein im 16. Jahrhundert stattgefunden. Da hat sie vielleicht begonnen. Aber sie steht – wenn wir uns auf Luther berufen wollen – als bleibende Aufgabe vor uns.

Der evangelische Patient

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