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1.Willst du gesund werden?
ОглавлениеDer Gelähmte am Teich Betesda – Johannes 5,1–15
»Willst du gesund werden?« Etwas eigenartig klingt die Frage schon. Schließlich liegt der Mann seit 38 Jahren krank darnieder. Das ist eine lange Zeit. Und der Mann hat sich weitgehend an den Zustand seiner Krankheit gewöhnt. Vielleicht hat er sich anfangs dagegen aufgelehnt, aber sich, nachdem er merkte, dass alle Bemühungen vergeblich waren, mit seiner Krankheit arrangiert und einigermaßen in ihr eingerichtet.
Der Punkt dabei ist: Jede Krankheit nimmt uns etwas. Sie schränkt unsere Lebensmöglichkeiten ein, unsere Lebensfreude und unsere Lebenskraft. Jede Krankheit gibt uns aber auch etwas. So bringt Krankheit es in vielen Fällen mit sich, dass man von Alltagspflichten entbunden wird. Und man erfährt viel Aufmerksamkeit, Anteilnahme und Mitgefühl seitens der Menschen ringsum. Psychologinnen und Psychologen sprechen in solchen Fällen vom »sekundären Krankheitsgewinn«. Dieser ist keineswegs verwerflich. Für viele Krankheiten zahlen wir einen hohen Preis, und es ist nur fair, wenn uns das Leben zumindest ein wenig davon in Form von kleinen Entlastungen zurückgibt.
Freilich hat der sekundäre Krankheitsgewinn seine Tücken. Überlegen Sie mal: Dieser Mensch ist 38 Jahre krank. Er hat sich daran gewöhnt, nicht mehr aufstehen zu können. Ab und zu unternimmt er einen neuen Versuch, aber er schafft es einfach nicht. Immer halbherziger werden im Lauf der Zeit seine Anstrengungen, immer mehr verfestigt sich in seinem Inneren die Überzeugung: »Es geht einfach nicht.« Mehr und mehr gibt er sich mit seinem Zustand zufrieden. Mehr, so sagt er sich, kann man vom Leben eben nicht erwarten. Immer wieder sucht seine Seele nach Begründungen dafür, warum das Leben, das er führt, so sein muss – und findet sie auch. Warum es so, wie es ist, gut und richtig ist, warum es nicht anders geht und: warum es auch gar nicht anders sein sollte.
Vielleicht ist die Frage Jesu: »Willst du gesund werden?« gar nicht so absurd, wie sie im ersten Moment anmutet. Bedenken Sie, was der Kranke alles aufgeben müsste. Nicht nur die genannten kleinen Vorteile, die mit der großen Benachteiligung einhergehen – das wäre noch okay. Aber er müsste sich auch eingestehen, dass die ganzen Argumente und Gründe, die er im Lauf der Jahrzehnte zur Rechtfertigung seines Zustandes aufgeboten hatte, lediglich dazu dienten, ein falsches Selbst- und Weltbild zu stützen. So etwas gibt niemand gerne zu. Und noch etwas käme hinzu: Er müsste sich anstrengen. Gesundwerden ist nämlich durchaus mühevoll. Wenn man 38 Jahre fest gelegen hat, ist es alles andere als leicht, aufzustehen, sein Bett (und sei es nur eine Matte) unter den Arm zu nehmen und loszulaufen. In unserer Geschichte liest sich das so leicht. In aller Regel aber ist das ein überaus mühsamer Prozess.