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Das Geheimnis der Verkrümmung
ОглавлениеWissenschaftler überlegen seit langem, ob die verkrümmte Frau wohl eher Skoliose, Osteoporose oder eine Psychoneurose hatte. Antwort: Das ist für die Geschichte irrelevant. Das Neue Testament nennt als Ursache ihres Leidens wörtlich: »Sie hatte einen Geist der Schwachheit!« Eine prägnante Formulierung, die (ähnlich wie im oben behandelten Wunder) deutlich macht, dass hier Ursache und Wirkung fast austauschbar sind: Ist die Frau verkrümmt, weil sie schwach ist … oder ist sie schwach, weil sie verkrümmt ist?
In unserem Fall: Ist die Evangelische Kirche schwach, weil sie nur mit sich selbst beschäftigt ist … oder beschäftigt sie sich nur mit sich selbst, weil sie schwach ist? Egal! Die entscheidende Botschaft lautet: »Um-sich-selbst-Kreisen« ist ein Zeichen von Schwachheit. Die Frau zumindest ist so schwach, dass es von ihr heißt: »Sie konnte sich selbst nicht mehr aufrichten!«
Traurigerweise ist die Frau so sehr in sich verkrümmt, dass sie von sich aus gar keinen Versuch wagt, mit Jesus in Kontakt zu kommen. Viele Heilungsgeschichten im Neuen Testament erzählen davon, wie Menschen sehnsuchtsvoll auf Jesus zustürmen, weil sie sich von ihm Hilfe erhoffen. Doch diese Frau ist derart auf sich fixiert, dass sie die Quelle ihrer Rettung zwar wahrnimmt, aber nicht als solche identifiziert. Mit anderen Worten: Die Frau hört das Evangelium, erwartet aber anscheinend nicht, dass diese Botschaft für sie Konsequenzen haben könnte.
Die skurrile Szenerie erinnert uns an ein Seminar über »Gottesdienste«, in dem wir die Teilnehmenden zu Beginn neugierig gefragt haben: »Wer von Ihnen erwartet eigentlich noch, dass Gott im Gottesdienst spürbar und erfahrbar wirkt?« Von den etwa 40 Anwesenden meldeten sich … zwei! Die anderen Frauen und Männer des Seminars erklärten anschließend zwar auch, dass es grundsätzlich zu ihren Hoffnungen gehöre, dass Gott im Gottesdienst gegenwärtig sei. Dass er aber konkret Leben verändern könnte – in diesem sonntäglichen Geschehen –, das war für die meisten ein eher ungewohnter Gedanke. Und so haben wir anschließend lange und intensiv darüber diskutiert, was es wohl ändern würde, wenn alle Anwesenden eines Gottesdienstes in Zukunft mit der Gewissheit in der Kirche säßen: Hier und jetzt kann und will etwas Himmlisches geschehen!
Eine herausfordernde Vorstellung, die sich übrigens sofort auf unsere Fragestellung übertragen lässt: »Erwarte ich eigentlich noch, dass Gott mich heilen kann?« Erwarten wir als Kirche noch, dass Gott uns heilen kann? Eine wichtige Klarstellung für alle Glaubenden … und ein nötiger Selbsttest: »Was erwarte ich von Gott?« … »Was traue ich ihm überhaupt noch zu?«
Aber schauen wir uns erst noch einmal das Geschehen in der Synagoge an. Denn es lohnt sich, jetzt ganz genau hinzugucken: »Als Jesus die verkrümmte Frau sah, rief er sie zu sich und sprach zu ihr: ‚Frau, du bist erlöst von deiner Krankheit!‘« Punkt. Jesus spricht ein wirkmächtiges Wort, er sagt der Verkrümmten mit all seiner Vollmacht Erlösung zu … und … nichts passiert. Oh! Verrückt, oder?
Dieser kranken Frau wird vom Sohn Gottes Heilung für ihr Leiden verheißen, aber das reicht offensichtlich nicht. So, wie es anscheinend auch nicht reicht, dass jeden Sonntag in Deutschland von Tausenden von Kanzeln den Menschen die Botschaft von der Liebe Gottes verkündet wird. Das »Wort allein« scheint selbst bei Jesus nicht genug zu sein. Zumindest nicht bei einer verkrümmten Persönlichkeit, die nicht mehr damit rechnet, dass sie Heilung erfahren kann. Deren Erwartung so gering ist, dass sie inzwischen eine Art Schutzschild um sich aufgebaut hat. Es braucht mehr. Und genau das passiert jetzt auch.