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7 sich

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Es kam Anaïs wie Stunden vor, ehe sie es wagte, das Gitter aufzustoßen. Sie merkte erst an dem Schmerz, mit dem sich ihre Hand löste, wie krampfhaft sie sich an den Draht geklammert hatte, der die Klappe geschlossen hielt. Fast fühlte es sich an, als wäre ihr die Metallschlinge in die Haut gewachsen. So behände sie vorher in das Versteck geschlüpft war, so schwer fiel es ihr jetzt, wieder daraus hervorzukriechen. Mit steifen Gelenken schob sie ein Bein nach dem anderen durch die Luke, schleppte schwerfällig den Rest ihres Körpers hinterher und sackte auf der anderen Seite zu Boden.

Und wenn die Männer noch im Haus waren? Dann hatten sie das jetzt gehört und würden jeden Moment wiederauftauchen!

„Ihr könnt mich mal“, murmelte Anaïs. Und noch einmal: „Ihr könnt mich mal“, weil sich das so gut anfühlte. Sollten sie doch kommen, plötzlich war es ihr völlig einerlei. Sie war viel zu erschöpft, um sich noch Sorgen zu machen. Dieser Moment verflog jedoch schnell, dann kehrten mit unverminderter Heftigkeit Beklemmung und Angst zurück. Vorsichtig rubbelte Anaïs ihre Beine, um wieder Gefühl in die Gliedmaßen zu bekommen, und rappelte sich schließlich mit einem kleinen Stöhnen auf.

Das Regal hing schräg vor der Nische und die Scherben eines leeren Marmeladeglases lagen am Boden verstreut. Anaïs schnürte es die Kehle zu, als sie sah, wie nah ihre Verfolger gewesen waren. Wenn sie gewusst hätten … Der eine musste mit der Faust genau auf die Mauer geschlagen haben, hinter der Anaïs sich versteckt hatte.

Sie griff nach ihren Turnschuhen, zwängte sich an dem Regal vorbei und lief auf Zehenspitzen über den Dachboden. An der Tür zögerte sie einen Moment, den Kopf lauschend vorgereckt. Hatten die Männer nun das Haus verlassen oder warteten sie am Ende in der Wohnung auf sie? Besser vielleicht, wenn sie sich noch so lange versteckt hielt, bis irgendeiner von den anderen Hausbewohnern auftauchte. Allerdings war vor neun in den Büros nie etwas los und die Putzdienste machten dort immer schon abends sauber. Nein, ausgeschlossen, das dauerte viel zu lang. Anaïs streifte sich die Kapuze vom Kopf, schüttelte die Haare aus und tastete sich durch das dunkle Stiegenhaus hinunter.

Alles ruhig. Sie hörte, wie draußen auf der Straße ein Auto gestartet wurde und davonfuhr, ein anderes rauschte gedämpft brummend vorbei. Dann wieder Stille.

Die Wohnungstür war geschlossen, kein Zeichen von einem Einbruch. So leise sie konnte, sperrte Anaïs auf.

Sie zögerte einen Moment, die Tür hinter sich zu schließen. Für den Fall, dass die Männer doch noch da waren, ließ sie sie angelehnt, während sie in die Küche schlich, dann in die Schlafzimmer, das Bad. Nichts. Jetzt erst ließ ihre Selbstbeherrschung nach: Halb panisch rannte sie zum Eingang, ließ das Schloss heftig einrasten und legte die Sicherheitskette vor. Danach ließ sie sich aufatmend auf die Garderobenbank sinken.

Was jetzt? Das Telefonbuch. Die Nummer der nächsten Polizeidienststelle! Es war kurz vor sechs.

Die Stimme, die ihr antwortete, war munter und weiblich. Anaïs hätte fast aufgeschluchzt vor Erleichterung. Endlich würde ihr jemand helfen. So musste sich ein Schiffbrüchiger beim Anblick von Land fühlen.

„Hallo“, stammelte sie. „Hallo. Ich möchte eine Vermisstenmeldung machen. Könnten Sie mich weitervermitteln, oder kann ich …“

„Das geht bei mir auch.“ Die Stimme klang jetzt ganz geschäftsmäßig. „Ihren Namen bitte und wer wird vermisst?“

„Anaïs. Anaïs Palme und es handelt sich um meine Schwester, Maxine.“

„Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt zu Ihrer Schwester?“

„Vor ein paar Stunden, so gegen halb vier oder so. Da hat sie mich angerufen.“

„Das ist nun nicht so lange her, dass man sie gleich als vermisst melden muss, oder?“

„Nein, nein, Sie verstehen mich falsch, sie hat mitten in der Nacht angerufen und mich um Hilfe gebeten! Und sie hat im Bad unser altes Kindheitszeichen für Ich brauche absolut Hilfe auf den Boden gekritzelt! Ich glaube, sie ist entführt worden. ,Sie bringen mich nach Ta-’, hat sie noch gesagt, dann ist die Verbindung abgebrochen Ich bin ziemlich sicher, dass sie Tarifa in Südspanien gemeint hat. Vielleicht stecken ja irgendwelche Leute, die hinter ihrem neuen Freund her sind, dahinter. Bei uns in der Wohnung ist so eine Unordnung in der Küche, als hätte eine Schlacht stattgefunden, verstehen Sie?“ Anaïs verstummte. Wie schwierig es war, die Geschichte auf ein paar Sätze zu reduzieren.

In der Leitung blieb es einen Moment lang still. „Fürchten Sie, dass Ihre Schwester sich etwas antun könnte, oder stellt sie eine Gefahr für jemand anderen dar? Ist Ihre Schwester von lebenserhaltenden Medikamenten abhängig, die sie nicht mit sich führt? Oder fürchten Sie um die Sicherheit und das Leben Ihrer Schwester?“ Es klang, als würde die Frau Standardsätze von einem Zettel ablesen, ein Ton von Vorsicht schwang jetzt in ihrer Stimme mit.

„Was? Nein, nichts von Medikamenten oder sich oder anderen etwas antun, du liebe Güte! Aber ich fürchte schon um ihre Sicherheit. Ich habe Angst, dass sie entführt worden ist. Sie …

„Wie alt ist Ihre Schwester?“

„Einundzwanzig.“

„Als Volljährige hat sie das Recht, ihren Aufenthaltsort selbst zu bestimmen, ohne Familie oder Freunde davon in Kenntnis setzen zu müssen, das wissen Sie sicherlich. Nachdem Sie vor gerade mal zwei Stunden noch mit ihr telefoniert haben … Na ja, ganz ehrlich, junge Frau, wenn meine Tochter mit ihrem Freund auf einen Kurztrip geht, sieht es bei uns auch immer aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Und dass Ihre Schwester sich noch bei Ihnen gemeldet hat, ist doch eigentlich sehr nett! Ich würde mir da jetzt noch keine Sorgen machen. Aber ich kann natürlich die Personalien Ihrer Schwester aufnehmen, wenn Sie das wünschen, oder Sie kommen im Laufe des Vormittags selbst bei uns auf dem Revier vorbei und wir füllen den Zettel gemeinsam aus. An Ihrer Stelle würde ich jetzt erst mal zurück ins Bett gehen und noch ein bisschen zu schlafen versuchen.“

„Ich war noch gar nicht im Bett“, antwortete Anaïs mechanisch. „Und vorher am Abend waren auch hinter mir zwei Kerle her. Die haben dann unsere Wohnung durchsucht, aber ich konnte mich auf dem Dachboden verstecken.“

„Aha! Also wollen Sie gegen die beiden Anzeige erstatten?“

„Ich glaube, die beiden haben etwas mit dem Verschwinden von Maxine zu tun.“

„Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf?“

„Achtzehn.“

„Kommt es denn öfters vor, dass Sie die ganze Nacht durchmachen?“

„Wen interessiert das?“ Anaïs spürte, wie sie die Geduld verlor. „Ich arbeite öfters bis spät abends.“

„Verstehe.“ Die Stimme sprach Bände.

„Sie verstehen gar nichts. Ich arbeite als DJane, aber das heißt noch lange nicht, dass ich mir irgendwelche Drogen einwerfe und deswegen nicht zurechnungsfähig bin“, fauchte Anaïs.

„Würden Sie sich bitte im Ton mäßigen?“ Die Frau gab sich nicht mal mehr einen Anschein von Freundlichkeit.

„Tut mir leid“, flüsterte Anaïs. „Ich wollte nicht … Ich bin nur so in Sorge und … das Zeichen im Bad …“

„Wie gesagt, Sie können Anzeige gegen unbekannt erstatten, das beträfe die beiden Männer, die Sie belästigt haben. Sind Sie irgendwie zu Schaden gekommen?“

„Nein, nein, bin ich nicht.“

„Ist bei Ihnen eingebrochen worden? Das Schloss gewaltsam aufgebrochen, ein Fenster oder so?“

„Nein, auch nicht.“

„Tja. Also, wenn jetzt nicht direkt ein Delikt vorliegt, werden wir nach frühestens vierundzwanzig Stunden aktiv, und dann würde ich vorschlagen …“

„Schon gut! Dann komme ich eben im Laufe des Vormittags bei Ihnen vorbei.“

„Falls Ihre Schwester sich bis dahin nicht sowieso bei Ihnen gemeldet hat. Und mit diesem Zeichen aus Ihrer Kindheit, nehmen Sie mir’s nicht übel, aber das klingt mir eher nach einem Spaß, wenn Sie mich fragen.“

„Ja, dann. Danke.“ Anaïs legte auf. Sie spürte den bitteren Geschmack der Enttäuschung am Gaumen. Anzeige gegen unbekannt und im Laufe des Vormittags eine Vermisstenanzeige. Und dann? Würde erst mal gar nichts passieren. Vierundzwanzig Stunden. Bis dahin konnte ihre Schwester überall sein.

Wieder hörte Anaïs Maxines Stimme, als würde sie in diesem Moment an ihrem Ohr flüstern. Du musst mir helfen!

Sie kniete sich aufs Bett und klappte noch einmal Maxines Notebook auf. Tarifa. Raul Rosas. Keine weiteren Nachrichten. Das Batteriezeichen war im roten Bereich, der Akku würde in Kürze den Geist aufgeben.

Anaïs rieb sich die Stirn, als könnte ihr das beim Denken helfen. Warum googelte man seinen Freund? Genauer: Warum hatte Maxine den Namen Raul Rosas gegoogelt? Vielleicht war es ja irgendein anderer Raul. Also blieb die Frage, warum hatte sie ihn gegoogelt? Andererseits, manche googelten sich sogar selbst. Einfach um zu sehen, was so alles im Netz über sie herumschwirrte.

Weiter. Warum hatte Maxine in den letzten Wochen die Kontakte zu ihrer Schwester und ihren Freunden vernachlässigt? Und warum hatte sie ihr, Anaïs, so gar nichts mehr erzählt? Das jedenfalls ging auf das Konto von Raul. Seit Maxine mit ihm zusammen war, hatte sie angefangen, sich bedeckt zu halten. Hatte kaum mehr preisgegeben, was sie so machte, und alles, was mit Raul Loverboy zusammenhing, schien sowieso unter höchste Geheimhaltung zu fallen.

Und was war schließlich mit Tarifa, mit den Männern, die hinter Anaïs her waren, und mit Maxines Entführung? Denn was war es anderes als eine Entführung, wenn jemand gegen seinen Willen irgendwohin gebracht wurde?

Anaïs ließ den Kopf in die Hände sinken. Wie sie es auch drehte und wendete, all ihre Überlegungen mündeten immer wieder in die Frage: Welche Rolle spielte Raul bei dem Ganzen? Wie gesagt, wenn er einen Wochenendtrip mit Maxine vorgehabt hätte, hätte er sie doch einfach gefragt und wohl kaum verschleppt! Die einzige Erklärung war also, dass die Kerle Raul irgendwie ans Leder gewollt hatten, das nicht geschafft und sich stattdessen seine Freundin geschnappt hatten. Entweder aus Rache oder um ihn mit ihr zu erpressen. In jedem Fall würden die Männer sich anschließend mit Raul in Verbindung setzen, sonst machte weder das eine noch das andere Sinn. Wie würde er wohl reagieren? Schwer zu beurteilen, wenn man jemanden nicht kannte. Ob er völlig unschuldig in irgendwelche Sachen hineingeraten war? Anaïs hoffte es letztlich für ihre Schwester.

Blieb immer noch das größte Rätsel von allen, nämlich: Was wollte man von ihr, Anaïs? Was hatte sie mit alldem zu tun?

Hätte sie nur die Nummer von Raul gehabt, eine Mailadresse, irgendwas, aber Maxines Notebook gab absolut nichts her.

Anaïs stand auf und suchte den Schreibtisch ab, sie blätterte durch Maxines Studienunterlagen, zog die Schubladen auf. Kein Notizbuch, nichts. So ordentlich wie Maxine war, wäre jeder Zettel sofort aufgefallen.

Verdammt, wieso hatte diese Polizistin so gar nichts kapiert? Die hätte doch sofort einen Streifenwagen losschicken müssen, eine Fahndung einleiten, was auch immer. Meine Tochter lässt auch immer so eine Unordnung zurück. Anaïs stöhnte auf. Maxine war nicht auf einem Wochenendtrip, sie war in Gefahr, das Zeichen auf dem Badezimmerboden war niemals ein Scherz gewesen!

Sie sprang auf. Mit einem Mal wusste sie genau, was sie zu tun hatte.

Chicas, das Böse und das Meer

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