Читать книгу Chicas, das Böse und das Meer - Fe Mars - Страница 11
8 um
ОглавлениеAnaïs zerrte den Rucksack aus ihrem Kleiderschrank. Zwei T-Shirts, zwei Paar Jeans, einen Sweater, Wäsche. Was brauchte sie noch? Die Zahnbürste. Ihre Converse. Und sonst? Pass, Bankomatkarte. Hatte sie noch ein bisschen Bargeld? Zu blöd, dass der Akku von Maxines Notebook leer war, sonst hätte sie sich die Europawetterkarte ansehen können. Sie hatte keine Geduld, jetzt nach dem Ladekabel zu suchen. Genau, das Ladekabel für ihr Handy. Das war wichtig.
Duschen wäre auch nicht schlecht gewesen, aber dazu war sie zu unruhig. Diese Männer hatten den ganzen Abend damit verbracht, sie aufzuspüren und zu verfolgen. Vielleicht würden sie jeden Moment mit Verstärkung wieder vor der Tür stehen. Das wollte sie lieber nicht riskieren. Und unter der Dusche wollte sie sich schon gar nicht erwischen lassen - fast wie in Hitchcocks Psycho.
Nach den Zugverbindungen würde sie sich am Bahnhof erkundigen. Das kam davon, wenn man keinen eigenen Computer hatte und kein Handy mit Internetzugang, sondern eines, mit dem man telefonieren konnte und sonst nichts. Egal, dazu gab es Fahrkartenschalter. Leo, den Großvater, würde sie nachher anrufen, jetzt wollte sie nur fort von hier.
Sie schlüpfte in ihren Anorak und lugte noch einmal verstohlen auf die Straße. Inzwischen waren mehr Autos unterwegs und die Bordsteinkante war zugeparkt. Unmöglich zu sagen, ob in einem der Wagen jemand saß und ihre Haustür im Auge hatte. Vielleicht war es vernünftiger, wenn sie durch den Hintereingang verschwand. Sie ging zum Küchenfenster und warf einen Blick in den Hof. Ja, hier war alles ruhig. Anaïs schwang den Rucksack über die Schulter, zog die Wohnungstür hinter sich ins Schloss und lief die Treppe hinunter.
Der Nachthimmel hatte sich aufgehellt, bleigrau und schwer hing er über den Häusern. In einem plötzlichen Bedürfnis, sich den Stress und die Aufregungen der Nacht aus den Gliedern zu laufen, joggte Anaïs los und verlangsamte ihr Tempo erst, als sie zur U-Bahn abtauchte.
Sie behielt ihre Umgebung scharf im Auge, während sie zweimal wahllos die Züge wechselte, konnte aber nichts Verdächtiges entdecken. Selbst wenn ihr jemand gefolgt wäre, hätte er in dem frühmorgendlichen Menschenfluss, der über Rolltreppen und Gänge strömte, Schwierigkeiten gehabt, ihr auf den Fersen zu bleiben.
Am Hauptbahnhof angekommen, folgte sie der Menge, die zu den Bahnsteigen hinaufdrängte, und bog dann zur Schalterhalle ab. Sie zog eine Nummer und wartete ungeduldig. Endlich blinkte die 66 auf.
„Bitte schön?“ Das Mädchen hinter dem durchgehenden Schalter lächelte beherzt. Wahrscheinlich arbeitete sie noch nicht lange hier.
Anaïs lächelte zurück. „Welche Verbindungen gibt es nach Tarifa?“
„Nach …“ Das Mädchen tippte etwas in ihren Computer und starrte einen Moment ratlos auf den Monitor. „Karl?“, rief sie dann über die Schulter zurück. „Tarifa? Das ist doch im Osten, oder?“
„Na, gewiss nicht!“ Ein Bahnbeamter kam gemächlich zu ihr herüber. „Wie kommst denn da drauf? Das ist ganz im Süden von Spanien, aber da fährt die Bahn nicht mehr hin. Zielbahnhof ist Malaga, den Rest müssen’S mit dem Bus schaffen, Fräulein. Außer Sie mieten sich ein Auto, natürlich. Mein Sohn war nämlich schon dort, in Tarifa.“ Er nickte Anaïs zu. „Auch Surferin, was?“
Scheiße, mussten die ihren Zielort so herausposaunen? Anaïs presste ihre Fingerspitzen auf den glatten Tresen. Am liebsten hätte sie diesem Karl den Mund zugehalten. Und dem Mädchen gleich dazu. Sie bemühte sich, ein halbwegs freundliches Gesicht zu machen.
„Nein“, antwortete sie kurz angebunden. „Und wie komme ich also nach Malaga?“
„Also, die schnellste Verbindung ist …“ Herr Karl beugte sich über das Mädchen und deutete mit dem Zeigefinger. „Da. Gib mal ein … Genau, hier haben wir’s schon! Nachtzug nach Paris. Dann in Paris umsteigen nach Barcelona und von dort geht’s direkt weiter. Moment, ich druck’s gleich aus …“
„Das heißt, wenn jemand nach Malaga fährt, dann normalerweise auf dieser Route, oder?“ Anaïs starrte den Beamten aus zusammengekniffenen Augen an.
„Richtig, Fräulein! Sie können natürlich auch tagsüber fahren. Es geht sogar jetzt gleich ein Zug nach Paris, um sieben Uhr achtundzwanzig, einmal umsteigen in Köln. Das Problem ist dann nur der Anschluss. In Paris wären Sie dann um fünfzehn Uhr neunundfünfzig, wenn bei dem Schneechaos ringsum alles fahrplanmäßig klappt. Allerdings gibt es die nächste Verbindung Paris - Malaga erst am späten Abend gegen elf, also …“
„Schneechaos“, echote Anaïs, ohne zuzuhören. Wenn der gebräuchlichste Weg nach Tarifa mit dem Nachtzug über Paris führte, dann war es für sie am sichersten, wenn sie eine ganz andere Strecke wählte.
„… und der Flughafen in Frankfurt ist gesperrt und der in Paris auch. Was meinen Sie, wie viele dann auf die Bahn ausweichen! Und dann braucht nur irgendwas zu passieren, ein Baum fällt über die Gleise oder so, und dann war’s das erst mal. Aber bei uns ist ja Gott sei Dank momentan noch alles im normalen Bereich. Und übrigens …“ Karl setzte zu weiteren Erklärungen an, doch Anaïs fiel ihm ins Wort.
„Ich nehme die unwahrscheinlichste Route“, sagte sie und legte ihren Schülerausweis auf die Verkaufsfläche. „Einmal nach Genua, bitte, und dann seh’ ich weiter.“
„Wegen dem Schnee?“ Der Beamte trat kopfschüttelnd einen Schritt zurück. „Genua. Na ja, so geht’s natürlich auch. Sieben Uhr einunddreißig geht der nächste Zug. Den erwischen Sie noch, falls Sie gleich wegwollen. Sonst …“
„Nein, nein, das ist perfekt!“
„Okay. Also, der geht über Innsbruck, den Brenner und Verona, Porta Nuova. Dort müssen Sie umsteigen, und ab da ist dann Platzreservierungspflicht. Mit Bankomatkarte? Bitte schön. Ich druck’s Ihnen gleich aus, Bahnsteig 12.“
„Danke.“ Anaïs schob Ticket und Platzkarte in ihren Rucksack, nickte dem Mädchen zu, blickte sich noch einmal um und ging mit langen Schritten in Richtung Bahnhofsbuchhandlung davon.
Und in diesem Moment fiel etwas von ihr ab. Wieder klopfte ihr Herz, doch diesmal fühlte es sich anders an: Reisefieber. Auch wenn sie todmüde war - ein Ticket in der Tasche und den Geruch von Bahnhof in der Nase zu haben, das war unbeschreiblich und gab ihr unverhofft das Gefühl völliger Freiheit wieder.
Schnell entschlossen wählte sie ein Reisewörterbuch Spanisch aus dem Angebot des Buchladens, holte sich an einem der Shops bei den Bahnsteigen ein Mineralwasser und ein Käsebaguette und hetzte, nach einem Blick auf die Bahnhofsuhr, zum Bahnsteig zwölf. Der Zug schien wenig besetzt. Sie fand ein leeres Abteil, und kaum hatte sie sich auf einen Fensterplatz fallen lassen, den Rucksack neben sich, als der Zug auch schon mit einem Ruck anfuhr.
Tief in ihren Sitz geschmiegt, beobachtete Anaïs, wie sich, während der Zug Fahrt aufnahm, die Gleise draußen zu einem bizarren Muster ineinander verschlangen. Wohnblocks zogen am Fenster vorbei, Ausschnitte der Stadt, die in keinem Touristenführer zu sehen waren, und schließlich nur noch verschneite Landschaft, still im fahlen Licht der aufgehenden Sonne, die ein bleiches Rund hinter der Wolkenschicht war.
Kurz konnte Anaïs zwei Rehe ausmachen, die am Waldrand standen und reglos über eine Wiese blickten. Fast beneidete sie die beiden, ihr Horizont schien so überschaubar. Ein Stück Wald, eine Wiese - keine Reise ins Ungewisse, keine Endlosliste von Fragen ohne Antworten, keine Furcht vor Verfolgern. Sie zog den Anorak über sich. Und wenn sie sich mit Tarifa täuschte? Wenn Maxine so etwas Banales wie Talkirchen gemeint hatte oder zum Beispiel Taormina? Vielleicht hatte die Polizistin recht gehabt. Dann war diese Reise vollkommen sinnlos. Es gab keine Beweise für irgendetwas.
Nein. Das Gefühl sagte ihr etwas anderes und manchmal war es gut, seinem Gefühl zu vertrauen. Anaïs schloss die Augen. Warum aber sagte ihr Instinkt ihr auch, dass sie etwas Wesentliches übersehen hatte? Als wäre etwas in ihrem Blickfeld aufgetaucht, das sie versäumt hatte richtig zuzuordnen. Aber was? Was war das gewesen? Oder wer? Im Stillen ließ sie noch einmal Gesichter und Situationen auf dem Bahnhof vorbeiziehen. Irgendwo hatte es einen Fehler in der Harmlosigkeit des Bildes gegeben. Oder hatte ihr Verfolgungswahn sie eingeholt? Später … sie würde später darüber nachdenken.
Sekunden darauf war Anaïs eingeschlafen.