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4 Meine

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Könnten Sie bitte noch einen Moment warten, wollte Anaïs sagen, bis ich bei der Haustür bin? Leider kam ihr eine Auftragsmeldung aus dem Taxifunk nach dem ersten Wort dazwischen. Eine krächzende Stimme, die eine Adresse ansagte. Der Fahrer drückte einen Knopf. „Bin schon unterwegs!“ Dann hielt er an. „Alles schon bezahlt, junge Frau“, meldete er über die Schulter zurück.

Anaïs spürte seine Ungeduld, weiterzukommen. Sie murmelte einen Gruß, stieg aus und schlug die Tür zu. Das Auto fuhr sofort los und entfernte sich mit gedämpftem Motorbrummen.

Die Straße lag still vor ihr. Es musste ungefähr Viertel nach drei sein, vielleicht schon halb vier. Sie war eine Stunde früher gegangen heute, Bugo hatte die Turntables übernommen. Im Club war nicht viel los gewesen und Bugo machte das manchmal mehr Spaß als das Kellnern, das wusste sie. Paul hatte auch nichts dagegen gehabt, und so war sie klammheimlich durch den Hinterausgang verschwunden, wo das Taxi schon auf sie gewartet hatte. Keiner hatte es ausgesprochen, aber es hatte wie eine Gedankenblase in der Luft gehangen: Falls die Kerle immer noch in der Nähe sind.

Zuerst hatte sie aufgeatmet, als sie sicher im Taxi saß, doch dann war ihr etwas eingefallen. Siedend heiß. Warum hatte sie nicht vorher daran gedacht? Wenn die ihren Namen kannten, dann wussten sie bestimmt auch ihre Adresse, oder? Hätte sie doch nur Bugo gebeten, sie zu begleiten, war es ihr durch den Kopf geschossen. Dann hatte sie versucht, Maxine anzurufen, war aber nur auf der Mailbox gelandet.

Sie biss sich auf die Lippen und atmete tief durch. Nach der Mischung aus verbrauchter Luft und Schweiß im Club brannte ihr die Nachtluft kalt und klar in der Lunge. Mit schmalen Augen blickte sie zum Haus hinüber - alles schien ruhig. Ein paar Autos waren am Straßenrand geparkt, ein einsames Fenster im nächsten Gebäude erleuchtet, nichts Beunruhigendes.

Zögernd spähte sie noch einmal in alle Richtungen. Was sollte das alles? Warum sollte jemand sich die Mühe machen, sie zu bespitzeln, ihren Namen herauszufinden und sie zu verschleppen? So ein Quatsch! Purer Zufall, sonst nichts. Das Leben war kein Fernsehkrimi.

Trotzdem. Anaïs rannte los, über die Straße und zur Haustür; schnell die Tür auf, ihre Schritte hallten in dem leeren Gang. Jetzt klirrten die Schlüssel im Schloss der Wohnungstür. Himmel, sie zitterte ja wie verrückt. Nichts wie rein! Sie drückte die Wohnungstür hinter sich zu, legte die Sicherheitskette vor und ließ sich aufatmend gegen die Wand der Garderobe sinken. In der Wohnung war alles ruhig. Klar, ihre Schwester schlief. Was sollte sie sonst um diese Uhrzeit tun?

Anaïs begann plötzlich leise zu kichern. Sie war wirklich schon paranoid! Konstruierte sich irgendwelche Geschichten zusammen. Dabei war die ganze Sache letztlich harmlos. Warum die ihren Namen kannten? Wie gesagt: ein dummer Zufall. So was gab es. Sie musste dafür sorgen, dass sie mehr Schlaf bekam. Und damit konnte sie gleich anfangen: geschwind in die Küche, einen Träum-süß-Tee überbrüht und ab ins Bett.

Anaïs schaltete das Küchenlicht ein - und erstarrte.

Der Tisch lag umgestürzt auf der Seite, ein Stuhl daneben, in einer Glasscheibe der Hängeschränke prangte ein gezacktes Loch. Ein Kissen war aufgeplatzt und weiße Federchen zitterten in einem kaum merklichen Lufthauch am Boden.

„Maxine!“ Jetzt schrie sie es mit sich überschlagender Stimme, während sie bereits die Tür zum Schlafzimmer der Schwester aufriss.

Stille antwortete ihr. Maxines Bett war unberührt, das Zimmer dunkel, nur das Licht am Notebook glühte, als hätte Maxine eben noch am Computer gesessen. Ein kleiner Lichtpunkt, sonst nichts.

„Maxine“, flüsterte Anaïs.

Fort. Maxine war fort. Anaïs spürte es so deutlich, als hätte sie bereits in jedes Zimmer geschaut. – Trotzdem stürzte sie los, durchstöberte jeden Winkel der Wohnung. Im Badezimmer roch es nach Maxines Parfüm, zu stark, um angenehm zu sein. Der Flakon war zu Bruch gegangen, kleine Scherben lagen überall am Boden verstreut, ein paar Tiegel und Cremetuben dazwischen, der Wäschekorb war umgestürzt. Anaïs holte die Kehrschaufel aus der Küche, begann die Scherben flüchtig zusammenzufegen. Vielleicht würde es ihr ja beim Denken helfen, wenn sie ein wenig Ordnung machte. Vielleicht half es gegen die Panik, die in ihr brodelte wie Lava, bereit, jeden Moment auszubrechen.

„Denk, Anaïs, denk nach“, flüsterte sie beschwörend. Was war geschehen? Ein Kampf ohne Frage, Spuren davon in der Küche und im Bad. Der Rest der Wohnung lag unberührt. Einbrecher, Diebe? Unwahrscheinlich. Die hätten eher die Schlafzimmer durchsucht. Kein Mensch hortete Wertgegenstände in der Küche. Und Maxine? War sie ihnen in die Quere gekommen? Oder waren sie ihretwegen gekommen? Womöglich war jemand hinter ihr her, so wie diese beiden, die heute sie, Anaïs, abgepasst hatten. Aber warum?

Oder war Maxine gar nicht in der Wohnung gewesen? Aber ihre Stiefel standen ja in der Garderobe! War sie vielleicht doch hier irgendwo? Vielleicht hatte sie sich ja vor den Eindringlingen versteckt, im Keller, auf dem Dachboden. Dort hatte Anaïs noch nicht nachgesehen, das würde sie jetzt sofort nachholen.

Sie stellte hastig den Wäschekorb ab, stopfte mechanisch ein herausgerutschtes Handtuch zurück, wandte sich schon ab, stutzte dann. Was war das? So rot unter dem Handtuch? Doch kein … Blut?

Anaïs hob das Handtuch ganz vom Boden, schob den Korb zurück. Ihr Hirn erkannte das Zeichen sofort, zog es aus der verborgenen Kammer ihrer Kindheit und ordnete es ein, während sie noch stand und sich zu glauben weigerte, was sie sah.

Maxine musste einen Lippenstift verwendet haben, leuchtend rot, schmierig, auf der Kreislinie ein Klecks, dann schien der Stift abgebrochen zu sein. Die zwei Zickzacklinien, die den Kreis durchschnitten, waren klar, mit scharfen Ecken. Krokodilsrachen hatten sie die Linien genannt, damals, nach dem Tod der Eltern, als ihre Welt auf einmal so brüchig geworden war. Eng zusammengerückt waren sie zu jener Zeit, Anaïs und ihre Schwester, um sich nicht ganz so schutzlos zu fühlen, und mit einem Mal spürte Anaïs, als geschähe es in diesem Moment, die weiche Wange Maxines an ihrer eigenen, den warmen Atem, der an ihrem Ohr flüsterte: „Wir machen uns ein Zeichen aus. Eines, das sonst keiner kennt. Wenn wir jemals in Gefahr kommen. Und wir schwören uns, dass wir uns dann gegenseitig helfen.“

Sie hatten sich den Krokodilsrachen ausgedacht, denn wo sollte man in größerer Gefahr sein als in so einem Maul, gefangen von spitzen Zähnen? Sorgfältig hatten sie das Zeichen damals auf ein Blatt gemalt und Maxine hatte daruntergeschrieben: Gefahr! Ich brauche absolut deine Hilfe!

Dann hatten sie feierlich geschworen.

Hinter Anaïs’ Augen brannten plötzlich Tränen. Das Zeichen war nie zur Anwendung gekommen, aber es war immer gut und tröstlich gewesen, zu wissen, dass es existierte. Damals.

Anaïs ließ sich auf die Knie fallen und fuhr die verschmierte rote Kontur mit dem Finger nach. Der Kreis, die gezackten Linien, die kindlich formulierten Worte.

Gefahr! Ich brauche absolut deine Hilfe!

Was war mit Maxine geschehen, dass sie das hier auf den Boden geschmiert hatte? Was für eine Angst musste sie angetrieben haben, dass ihr das Zeichen wieder eingefallen war … Und wo war sie jetzt?

Chicas, das Böse und das Meer

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