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Panisch klopfendes Herz. Angst. Und wieder das Gefühl, etwas übersehen zu haben. Anaïs riss die Augen auf. Der Sitz ihr gegenüber war leer. Wie spät war es wohl? Die Landschaft vor dem Fenster war weiter geworden, was die tief hängende Wolkendecke noch drückender wirken ließ. Lange konnte sie nicht geschlafen haben. So langsam bekam sie das Gefühl, für den Rest ihres Daseins zu kurzen, wachsamen Schlummern verdammt zu sein. Wie ein Tier der Wildnis, immer alarmbereit, immer ein offenes Ohr für mögliche Angreifer. Kein Wunder, dass man die Löwen in den verschiedenen Naturfilmen meistens dösend sah. Das war verdammt anstrengend!

Ein paar Kinder quengelten, fielen über ihren Handys aber bald wieder in stumpfes Schweigen, erschöpfte Ruhe lag über dem Wagen.

Wie lang hatte sie eigentlich mit niemandem mehr geredet? Richtig geredet, nicht nur Belanglosigkeiten über Fahrkarten ausgetauscht? Sehr lange, so kam es ihr vor, und das bei allem, was geschehen war. Keine Sekunde länger hielt sie das aus, dieses Alleinsein. Sie zog ihr Handy heraus und schaltete es an. Zwei versäumte Anrufe von Leo und einer aus dem Blitz. Sie ignorierte sie und drückte stattdessen die Nummer von Clara ein.

„He, Anaïs! Kapierst du eigentlich Chemie? Ich blick da bei gar nichts durch“, meldete sich ihre Freundin.

Anaïs lachte. Da draußen existierten wirklich noch Dinge wie Chemiebücher, Prüfungen, Schulkollegen, Normalität. Eine Welle von Erleichterung durchflutete sie.

„Lernen wir vor der Schule heute zusammen? Sonst schaff ich das nie.“ Clara klang wirklich frustriert.

„Würde ich gerne, aber ich sitze gerade im Zug irgendwo hinter dem Brenner.“

„Du meinst wohl im Brenner? Das Lokal, oder? Wieso Zug?“

„Nein, nicht das Lokal. Deshalb der Zug.“

„Du bist wirklich in Italien? Nicht zu fassen! Was machst du denn da?“

„Ich suche Maxine.“ Anaïs senkte die Stimme. „Clara, sie ist entführt worden.“

„Was? Ich versteh dich nicht. Was ist mit Maxine? Bei dir rumpelt es so!“ Clara sprach zum Ausgleich so laut, dass Anaïs das Handy ein wenig von ihrem Ohr weghalten musste. Unruhig ließ sie die Augen über ihre Mitreisenden gleiten. Hörte hier jemand mit? Wurde aufmerksam?

„Ich kann dir das jetzt nicht erzählen.“

„Mist! Und ich hatte fest mit dir gerechnet. Na ja, nett, dass du angerufen hast. Melde dich, wenn du wieder da bist und grüß Maxine.“ Damit war Clara aus der Leitung verschwunden.

Anaïs ließ sich zurücksinken. Konnte es sein, dass sie sich jetzt noch einsamer fühlte als vorher? Sah ganz so aus. Sie hätte gern mit Leo gesprochen oder im Blitz angerufen, bei Bugo und Paul. Aber sie hatte ja gerade gesehen, was für einen Sinn das machte, vom Zug aus zu telefonieren. Das würde einfach warten müssen. Sie schaltete das Handy wieder aus.

Warum hatte sie Clara eigentlich nicht die ganze Geschichte erzählt? Falls einer von den anderen Reisenden sie verstand, ihr Gespräch mithörte und sich wunderte - was kümmerte sie das?

Wenn da nicht dieses Gefühl gewesen wäre, dieses Gefühl, beobachtet zu werden, dieses Gefühl, dass unsichtbare Augen auf ihr ruhten, wie kühle Fingerspitzen, die ihr fast unmerklich über den Nacken fuhren. Wahrscheinlich der reine Verfolgungswahn, aber trotzdem unmöglich abzuschütteln. Anaïs sprang auf. Sie brauchte dringend etwas Bewegung. Weiter vorne schienen der Restaurantwagen und die erste Klasse zu sein. Also in die andere Richtung.

Es war gar nicht einfach, bei all dem Gerumpel die Balance zu halten. Anaïs hätte alles für eine ruhige Straße gegeben, auf der sie jetzt einfach hätte rennen können. Vollgas. Aber zumindest war sie in Bewegung. Das war besser als das Stillsitzen. Weiter hinten wurde es ruhiger, dann kam ein Waggon, in dem Reisende ihre Fahrräder deponieren konnten. Ein einzelner Drahtesel lehnte in der Ecke, im Sommer würde es hier wohl voller sein. Der nächste Waggon war zum Gepäckwagen umfunktioniert, die Abteile voller Päckchen und dicker gelber Umschläge. So also reisten Bahnpakete. Sah nicht sehr vertrauenerweckend aus. Anaïs spürte, wie ihre Anspannung nachließ. Seltsam eigentlich, dass sie sich allein oft weniger einsamer fühlte als unter Menschen. Aber immer noch einsam.

Sie blieb stehen, lehnte einen Moment die Stirn an die Scheibe und ließ die Kälte, die von dem Glas ausging, in ihren Kopf wandern. Beruhigend. Ob sie wirklich auf der richtigen Spur war? Jetzt, mit etwas Abstand zu dem Geschehen, kam ihr das ganze Szenario plötzlich immer unwahrscheinlicher vor. Es kostete sie fast Mühe, sich die letzte Nacht ins Gedächtnis zu rufen. War es wirklich erst ein paar Stunden her: die zwei Männer, Messergesicht, die durchwühlte Küche, Maxines Verschwinden, ihr Anruf?

Irgendwoher klang Musik. Unbewusst klopften Anaïs Finger auf dem Fensterrahmen den Takt mit. Das klang nicht wie Radio oder so, das war live. Da spielte einer. Gitarre. Anaïs ging langsam weiter. Am Ende der Gepäckreihe kam ein kleineres Abteil, vermutlich für die Reisebegleiter, die Tür war zugeschoben.

Anaïs sah einen Rücken, einen Fuß in schwarzer Stiefelette auf einem Knie abgestützt, einen dunklen Kopf mit Pferdeschwanz konzentriert über eine Gitarre gebeugt. Unverkennbar. Jetzt wurde die Melodie temperamentvoll, mitreißend schnell.

Anaïs zögerte einen Moment, dann zog sie sacht die Tür auf. Das Spiel brach abrupt ab. Der Junge starrte sie an. „Mach doch weiter“, bat Anaïs leise.

Der Junge zögerte einen Moment, dann nahm er die Melodie wieder auf. Anaïs ließ sich in den Sitz ihm gegenüber gleiten, lehnte sich zurück und atmete tief durch. Das fühlte sich schon besser an. Auch wenn der Junge seltsam war und abweisend, war er zumindest inzwischen kein Fremder mehr, und im Augenblick war ihr ein wenig seltsame Gesellschaft lieber als gar keine. Um wenigstens ansatzweise den Schlamassel zu vergessen, in den sie da geraten war.

Die Finger des Jungen flogen in prasselnden Takten über die Saiten, sein Fuß klopfte rhythmisch auf den Boden. Flamenco. Anaïs spürte es in ihren Gliedern zucken: aufspringen, tanzen, stampfen in der wütenden Art, in der die Flamencotänzerinnen ihre Sohlen auf den Boden knallten, dazu den typischen wehmütigen, wilden Schrei ausstoßen.

Der Junge blickte zu ihr und grinste plötzlich, als hätte er ihre Gedanken erraten, und Anaïs lächelte zurück. Sie begann auf dem kleinen Ablagetisch mitzutrommeln. Das Spiel des Jungen wurde immer schneller. Er begann mit rauer Stimme zu singen. Anaïs verstand nicht, worum es in seinem Lied ging, aber es schien sie in eine weite Ebene zu entführen, zu Sand und Hitze und Staub und dann in den bläulichen kühlen Schein einer Bergsilhouette am Horizont. Bevor sie es merkte, war sie in ihrem Sitz zurückgesunken, die Augen geschlossen. Sie klatschte nur noch verhalten mit, hörte ganz auf, als das Lied jetzt ruhiger wurde, sich in eine einfache kleine Melodie verwandelte, so schlicht wie ein Kinderlied, immer leiser …

Mit einem tiefen Seufzer war Anaïs eingeschlafen.

Sie wachte auf und blickte direkt in zwei dunkle Pupillen hinein. Die Notbeleuchtung des Abteils erhellte die eingebrochene Dämmerung nur matt. Bremsen kreischten, während der Zug langsamer wurde.

„Was ist los?“, murmelte sie verschlafen.

„Verona.“

„Verona? Schon! Habe ich die ganze Zeit geschlafen?“

„Sieht so aus.“

„Warum hast du mich nicht geweckt?“

„Warum sollte ich?“

„Ich weiß auch nicht. Hast du etwa bis jetzt dagesessen und mir zugeschaut?“

„So ungefähr. Zumindest dagesessen, nicht zugeschaut.“ Der Junge deutete auf ein schmales Taschenbuch neben ihm auf dem Sitz.

„Warum?“

„Du hast so tief gepennt. Ich wollte dich nicht einfach so sitzen lassen, so … so …“

„So was?“

„So schutzlos.“

„Oh.“

“Na ja.“ Er deutete zum Gepäcknetz hinauf. „Ich hab dein Zeug hergebracht.“

„Danke, äh … wie heißt du eigentlich?“

„Manolo.“

„Also, danke, Manolo. Das war … nett.“

„Nett? Ganz sicher nicht. Ich bin nie nett.“ Er stand auf, stopfte das Buch in eine Seitentasche seines Rucksacks und packte die Gitarre. „Es ist übrigens Zeit auszusteigen.“

Anaïs blickte ihm versonnen hinterher.

Chicas, das Böse und das Meer

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