Читать книгу Chicas, das Böse und das Meer - Fe Mars - Страница 8
5 Welt
ОглавлениеDer Keller. Sie musste auch dort noch nachsehen. Ihr Abteil, mit einer hölzernen Gittertür abgetrennt, hinter der ihre Snowboards lehnten, ein paar noch unausgepackte Umzugskartons, ein Ikea-Regal mit irgendwelchen Pokalen, die Maxine gewonnen hatte, anderweitiges Zeugs, sonst nichts.
Der Innenhof? Stand Maxine dort, blickte in den Himmel, bestaunte die Winternacht? Was für ein ausgemachter Schwachsinn! Anaïs lief trotzdem hinaus, schaute hinter die Müllcontainer, zur Teppichstange, in die Ecke, in der alte Gartengeräte lagen. Wieder nichts.
Sie kehrte zurück in die Wohnung, tippte noch einmal Maxines Nummer in ihr Handy. Nach einem Moment des Wartens hörte sie entfernt ein melodisches Klingeln. Es kam aus dem Gang. Langsam ließ Anaïs das Telefon sinken. Maxine hatte ihr Handy gar nicht dabei.
Sie ging zurück in die Küche, hob den umgekippten Stuhl auf und ließ sich darauf fallen. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht, rieb sich die Augen, die Wangen. Was um alles in der Welt sollte sie tun? Wenn sie nur nicht so übernächtigt gewesen wäre, so müde, dass sie gar nicht mehr richtig denken konnte. Wie gelähmt starrte sie auf das Loch in der Scheibe des Küchenschranks. Die Minuten dehnten sich ins Unerträgliche, vom Ticken der Küchenuhr in gleichmäßige Scheiben geschnitten.
Das Schrillen ihres Mobiltelefons ließ sie hochfahren. Du liebe Güte, hatte sie den Klingelton so laut gestellt? Fahrig nestelte sie das Gerät aus ihrer Jeanstasche, fast rutschte es ihr aus den Fingern, sie konnte es gerade noch festhalten, während sie einen Blick auf das Display warf. Eine unterdrückte Nummer.
Sie hörte die Stimme, bevor sie etwas sagen konnte, ein dringliches Flüstern: „Anaïs? Anaïs? Bitte, antworte!“
„Maxine!“
„Ani, du musst mir helfen. Bitte, Ani! Die bringen mich nach Ta…“ Die Verbindung brach ab.
„Maxine“, keuchte Anaïs. Ihr Daumen scrollte automatisch auf Rückruf, blieb dann aber unschlüssig in der Luft hängen. Halt. Maxine hatte sie angerufen, von einem fremden Handy aus, dessen Nummer jemand nicht preisgeben wollte, hatte geflüstert, offenbar heimlich telefoniert, hatte den Anruf spontan weggedrückt. War ihr Telefonat entdeckt worden? Oder hatte sie es geschafft, das Handy blitzschnell verschwinden zu lassen? Wenn Anaïs jetzt anrief, würde es sehr wahrscheinlich im falschen Moment klingeln, vielleicht auch noch in Maxines Hosentasche, in die es nicht gehörte. Und wenn genau das erst zur Entdeckung von Maxines Anruf führte? Verdammt! Die bringen mich nach Ta… Was war Ta…? Und wer waren die?
Du musst mir helfen.
Verzweifelt knallte sie das Telefon auf den Küchentisch. Nur einen Moment später läutete es erneut, vibrierte dazu mit einem trockenen Brummen auf dem Holz. Anaïs riss es geradezu ans Ohr.
„Maxine! Wo bist du? Was ist passiert?“
In der Leitung blieb es still. „Maxine? Maxine! Bist du da?“ Anaïs war sich sicher, ein Atmen zu hören, ein Atmen in einem ruhigen, dunklen Rhythmus, der dennoch nichts Friedliches hatte. Das Gefühl der Bedrohung wurde mit einem Mal so übermächtig, dass Anaïs die Verbindung panisch wegdrückte und das Handy klappernd auf den Tisch fallen ließ. Das Herz klopfte ihr bis in den Hals.
Nein, dieses zweite Mal, das war nicht Maxine gewesen. Es hatte sich … böse angefühlt. Oder wurde sie jetzt komplett verrückt? Nein, auf ihr Bauchgefühl konnte sie sich verlassen. Und das sagte ihr, dass ihrer Schwester etwas Schlimmes zugestoßen war.
Was. Sollte. Sie. Tun?
Etwas zuckte Anaïs durch den Kopf, war genauso schnell wieder verschwunden. Frustriert schlug sie sich gegen die Stirn. Ein Gedanke, eine Idee war kurz aufgeblitzt und gleich wieder ins Dunkel ihrer Müdigkeit getrudelt. Aufgeblitzt. Ein Licht … Natürlich! Maxines Computer. Der hatte noch geleuchtet. Vielleicht würde sie dort irgendetwas finden, was ihr weiterhelfen konnte.
Anaïs lief ins Zimmer der Schwester. Ja, da stand das Notebook noch. Sie packte es, warf sich damit aufs Bett. Und da war es schon! Der letzte gegoogelte Aufruf: Tarifa. Das konnte kein Zufall sein. Was sagte Wikipedia?
Tarifa in der andalusischen Provinz Cádiz (Spanien) ist die südlichst gelegene Stadt Festlandeuropas. Sie markiert das östliche Ende der Costa de …
Von Tarifa aus konnte man schon Afrika sehen. Ein Surferparadies. Bilder von weißen Stränden, blauem Meer, das auf blauen Himmel traf. Windumtost. Bunte Kites. Volltreffer.
Was war der vorherige Eintrag im Verlauf? Ein Name: Raul Rosas. Anaïs klickte ihn an.
Raul - Maxines neuer Freund hieß Raul. Viel mehr wusste Anaïs nicht von ihm. Er schien aus irgendwelchen Gründen nicht zu wollen, dass Maxine über ihn sprach. Kennengelernt hatte Anaïs ihn auch noch nicht. Seltsamer Typ. Na ja, irgendwas musste er haben, sonst hätte Maxine sich nicht in ihn verliebt. Vielleicht war er auch einfach nur ein bisschen menschenscheu. Hatte Maxine ihn tatsächlich gegoogelt?
Da war er schon: Raul Rosas. Vielmehr: waren sie. Wie konnten so viele Männer den gleichen Namen haben und noch dazu relativ ähnlich aussehen? Alle spanisch oder südamerikanisch und schwarzhaarig. Etliche Einträge auf Facebook, ebenso viele auf Twitter, außerdem ein Video, wo ein Raul Rosas seinen Gegner in einer Art Kampfkäfig niederrang, beide Männer kahlrasiert und mit glänzenden Muskeln. Zumindest von denen war garantiert keiner Maxines Freund.
Mist, so kam sie nicht weiter.
Anaïs klickte auf Maxines Postfach. Auch hier kaum Nennenswertes, lediglich ein paar Mails von der Uni. Und was war mit Maxines Facebook-Konto? Hätten hier nicht ein paar persönliche Nachrichten sein müssen? Freunde, Studienkollegen? Seltsam. Bei Maxine war da in letzter Zeit nichts Neues mehr gepostet worden. Hatte ihre Schwester denn ihre sämtlichen Kontakte so reduziert?
Anaïs klappte das Notebook zu und starrte in die Dunkelheit. Maxine, wo steckst du? Was um alles in der Welt ist passiert? Sie schüttelte den Kopf. Wenn nur eines der Dinge, die hier standen, sprechen könnte. Eines der Bücher oder Bilder, das Bett, irgendetwas. Stumme Zeugen und hilflose Wächter.
Ein Geräusch schreckte sie auf. Ein Auto, vorne auf der Straße, aber … Wie lange war es eigentlich her, dass sie nach Hause gekommen war, eine Stunde früher als sonst?
Anaïs huschte in die Küche und knipste das Licht aus. Gut, dass der Raum nach hinten hinausging. Sie lief zurück in Maxines Zimmer und spähte am Vorhang vorbei hinaus. Verdammt! Ihr Bauchgefühl hatte recht gehabt. Ein Auto parkte vor dem Haus, eine der hinteren Türen stand offen, zwei Männer daneben, ein dicker und ein anderer, größerer. War das der mit dem Messergesicht? Schwer zu sagen; auch ob noch jemand im Wagen saß, konnte sie nicht genau erkennen. Der größere blickte plötzlich zu ihrem Fenster hinauf, als hätte er ihren Blick gespürt, und Anaïs fuhr zurück. Das Messergesicht, keine Frage. Selbst im diffusen Licht der Straßenlaterne hatte der Bruchteil einer Sekunde genügt, dieses markante Profil wiederzuerkennen. Ob er sie auch gesehen hatte hinter dem Vorhang? Und der andere musste der sein, der sich ihr in den Weg gestellt hatte, das Gesicht hatte sie nicht wahrgenommen, aber die Statur stimmte. Ihre Verfolger von vorhin … Die sie zu einem kleinen Ausflug hatten mitnehmen wollen. Was hatte der eine gesagt? Bevor du weitere Dummheiten machst, können wir dir auch gleich sagen, dass wir deine …
Die Erkenntnis war klar und sie kam blitzartig. Deine Schwester. Das hatte das Messergesicht sagen wollen, als Bugo dazwischengekommen war: … dass wir deine Schwester haben.
Nackte Angst pulsierte durch Anaïs’ Magengrube. Sie schlüpfte in ihre Converse, schnappte sich die Schlüssel und rannte los. In was für einen wahnwitzigen Alptraum war sie geraten? Was hatte das alles mit ihr zu tun? Oder mit Maxine?
Die beiden, die gerade vorgefahren waren, würde sie lieber nicht danach fragen.