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9 dich.

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„Jemand zugestiegen?“ Die Abteiltür rumpelte auf. „Ihren Fahrausweis, bitte.“

„Was?“ Anaïs schreckte auf. “Ach so … Moment.“ Der Schaffner hatte sie aus Traumtiefen gerissen. Sie wühlte ihr Ticket aus dem Rucksack und fuhr sich verstohlen mit dem Handrücken über den Mund. Hoffentlich hatte sie nicht geschnarcht. Na, egal. Sie reichte ihm das Ticket.

Er warf einen Blick darauf, stempelte es, nickte ihr zu und schloss die Abteiltür wieder hinter sich.

Und dafür hatte er sie aufgeweckt? Sie fühlte sich völlig gerädert. Erschöpft lehnte sie die Stirn gegen das kühle Glas der Fensterscheibe. Wie Scherenschnitte standen die laublosen, verzweigten Äste der Bäume vor dem Weiß des Himmels. Jedes Ästchen war zu sehen, hauchfein ins Morgenlicht gestrichelt. Die ersten Berge begannen sich ins Blickfeld zu schieben, sie würden wohl bald in Österreich sein. Wie spät war es eigentlich? Höchste Zeit, dass sie Leo anrief.

„Hier spricht der Anrufbeantworter von Leo und Bonzo Palme. Wir sind gerade nicht erreichbar …“

„Hallo, Leo! Schade, dass ich dich nicht selber erwische. Ich sitze gerade im Zug nach Genua und fahre ein paar Tage in den Süden. Raus aus dem Schneechaos. Maxine ist auch in die Richtung unterwegs. Ich melde mich wieder, aber jetzt mach ich erst mal das Handy aus, Akku sparen. Also mach dir keine Sorgen, wenn du uns nicht erreichst, und gib Bonzo einen Kuss auf die Nase von mir. Ich hab dich lieb. Tschüss, bis dann.“

Puh … Das war geschafft. Und ohne Lügen. Für einen Moment war ihr das wie der schwierigste Teil ihres Aufbruchs vorgekommen. Sie hielt nichts von Lügen, schon gar nicht gegenüber ihrem Großvater.

Nur, warum hatte sie unbedingt sagen müssen, er solle sich keine Sorgen machen? Alleine das Wort Sorgen zu erwähnen. Sobald er das hörte, würde er doch sofort anfangen, sich Gedanken zu machen. Shit. Aber es war jetzt auch nicht mehr zu ändern.

Sie schaltete das Handy aus und ließ es in ihre Tasche gleiten. Von Maxine würde sie so schnell nichts mehr hören. Wer immer bei ihr war, würde dafür sorgen, dass sie nicht noch mal anrufen konnte. Bei dem Gedanken wurde Anaïs schlagartig wieder flau im Magen. War es richtig gewesen, Leo nicht einzuweihen? Andererseits … was konnte er tun, außer sich aufzuregen? Er würde nur zu Hause auf und ab tigern und sich dabei immer mehr in die Sache hineinsteigern, das war schlecht für sein Herz. Seine Herzschwäche war etwas, worüber er nicht sprach. Leo betrachtete jedes körperliche Gebrechen – zumindest, wenn es um ihn selbst ging - als Charakterfehler.

Leo … Seit dem Tod von Anaïs’ und Maxines Eltern hatten die Mädchen bei ihm gelebt, in dem kleinen Haus nicht weit von München und doch absolut ländlich, nahe am Wald, wo der große Abrichteplatz für Hunde war, auf dem Bonzo, Leos großer, freundlicher Mischling, jeden Morgen trainiert wurde. Ein Funke von schlechtem Gewissen begann sich in Anaïs zu regen. Im Grunde hatte sie gehofft, ihr Großvater sei nicht zu Hause. Der Anrufbeantworter konnte keine unangenehmen, bohrenden Fragen stellen – im Gegensatz zu Leo. Nun, darüber würde sie später nachdenken, jetzt brauchte sie erst mal eine Toilette.

Im Gang war es kühl. Auf einem der ausklappbaren Notsitze vor dem Nachbarabteil kauerte ein junger Mann, eng in seine Jacke gewickelt, Rucksack und ein größeres Gepäckteil, das den Gang versperrte, neben sich. Einen Moment lang überlegte Anaïs, die andere Richtung einzuschlagen, dann verwarf sie den Gedanken. Die Klos dort waren deutlich weiter weg und sie trug zwar die kleine Umhängetasche mit Geld und Pass bei sich, aber alles andere war in ihrem Rucksack, und den wollte sie weder mitschleppen noch länger allein lassen.

„Entschuldigung“, murmelte sie und versuchte sich an dem Jungen vorbeizudrücken. Er fuhr hoch, er hatte wohl auch geschlafen. Anaïs blieb stehen, doch der Typ schaute desinteressiert zur Seite, als wollte er den Blickkontakt mit ihr meiden. Vielleicht Anfang zwanzig, schätzte Anaïs, das dunkle Haar im Nacken zusammengebunden und sehr attraktiv. Zu attraktiv für ihren Geschmack. Die hübschen Kerle waren immer so auf ihr eigenes Aussehen fixiert. Außerdem waren sie meistens Angeber.

Als sei ihm klar geworden, dass sein Wegschauen sie nicht automatisch auch zum Verschwinden brachte, sah er Anaïs plötzlich an. Ein unverwandter Blick, der ihr das Blut in die Wangen trieb. Sie fühlte sich ertappt, als hätte er ihre Gedanken gelesen. War es sexistisch, schöne Männer beschränkt zu finden? So ein Quatsch! Verwirrt und innerlich ihre helle Haut verfluchend, die jede Gefühlsregung sofort in flammende Farbe umsetzte, machte sie einen eiligen Schritt weiter. Der Zug legte sich überraschend in eine Kurve, Anaïs verlor die Balance und prallte gegen das Gepäckstück des Jungen, das einen hohlen Ton von sich gab. Du liebe Güte, das musste ein Musikinstrument sein. Anaïs klammerte sich am Fensterrahmen fest, um nicht noch einmal zu stolpern, aber da war der Typ schon aufgesprungen und hatte das Teil an sich gerissen. „Kannst du nicht aufpassen?“

„Tut mir leid! Das … das war keine Absicht“, stammelte Anaïs verblüfft. Was ging denn bei dem ab? Na ja, genau, wie sie sich’s gedacht hatte. Die attraktiven Kerle hatten alle irgendeinen Schaden. „Einer für die Statistik“, murmelte sie vor sich hin.

„Was?“ Er blickte sie misstrauisch an.

„Nichts.“ Sie würde ihm ganz sicher nicht auf die Nase binden, dass sie ihn attraktiv fand – und ihre Schlussfolgerung daraus auch nicht.

„Welche Statistik? Fällst du regelmäßig über anderer Leute Gepäck oder was?“

„Ich mache überhaupt nichts regelmäßig, ich bin einfach mal gestolpert. Warum sitzt du überhaupt hier im Gang und versperrst den Weg? Es ist jede Menge Platz in den Abteilen.“

Er zuckte die Achseln, zerrte den Reißverschluss der Tasche auf und zog eine Gitarre halb heraus. Helles Holz glänzte rötlich, die Saiten gaben einen sachten, hallenden Ton von sich, als er jetzt darüberstrich und behutsam am Steg rüttelte.

„O Mann, ich bin doch nur leicht dagegen gestoßen. Das wird sie wohl aushalten. Du tust so, als wäre ich voll reingetreten.“

„Nur checken“, murmelte er. „Na ja, sieht aus, als wäre sie in Ordnung.“

„Und wie wär’s mit einer stabileren Tasche?“

Seine Augen funkelten sie an. Sehr grün.

„Na dann.“ Anaïs ging weiter. Als sie ein paar Minuten später zurückkam, war der Typ mitsamt seiner Gitarre verschwunden, nur sein Rucksack lehnte noch neben dem hochgeklappten Sitz. Umso besser. Wahrscheinlich versuchte er gerade vergeblich, in der nächsten Toilettenkabine einen halbwegs hygienischen Platz für sein kostbares Instrument zu finden. Anaïs musste lächeln und verspürte gleichzeitig unverhofft einen winzigen Funken von Mitgefühl.

Sie packte ihr Baguette aus und der Geruch von Brot und Käse stieg ihr in die Nase. Erst jetzt merkte sie, wie hungrig sie war. Zu dumm, dass sie sich nicht noch eines gekauft hatte oder wenigstens einen Schokoriegel. Weiter vorne war zwar ein Speisewagen, aber da waren die Sachen vermutlich teuer und staubtrocken. Okay, sie würde einfach warten, bis der Zug einmal länger irgendwo Aufenthalt hatte. Wenn sie Pech hatte, erst in Verona.

Ach ja, sie musste ihrem Abendgymnasium noch eine Mail schicken, dass sie die nächsten Tage verhindert war. Sonst noch jemandem? Ja, Paul, um den nächsten Auftritt abzusagen. Aber das hatte Zeit, ihr nächster DJane-Abend war erst nächste Woche und Ersatz war im Zweifelsfall immer schnell da. Kids, die gerne auflegten, gab es wie Sand am Meer. Seine Nachwuchstalente, wie Paul sie nannte. Anaïs war selbst eines davon gewesen und wusste, wie froh jeder um so eine Chance war.

Und vielleicht sollte sie Clara anrufen, die mit ihr in die gleiche Klasse ging. Enge Freundinnen waren sie nicht, aber Clara war nett und sie hatten schon ein paarmal zusammen gelernt. Clara konnte vielleicht auch die Skripte für sie mitnehmen, die ausgeteilt wurden.

Sonst gab es eigentlich niemanden, der sie vermissen würde. Klar waren da Leute aus der ehemaligen Schule und der alten Nachbarschaft, aber seit sie das reguläre Gymnasium abgebrochen hatte und mit Maxine nach München gezogen war, waren auch ihre früheren Kontakte abgerissen. Irgendwie schon komisch, nachdem man mit manchen Leuten Jahre im gleichen Schulraum, Turnsaal und Pausenhof verbracht, zusammen über die Lehrer gelästert und die ersten heimlichen Zigaretten geteilt hatte. Aber vielleicht lag es daran, dass ihre beste Freundin immer Maxine gewesen war. Sie waren seit jeher eine Einheit gewesen, selbst in Zeiten, in denen sie oft gestritten hatten und man von der Geschwisterliebe gelegentlich wenig gemerkt hatte. Solche heftigen Gewitter gehörten wohl dazu. Die unverbrüchliche Bindung war so geblieben bis jetzt - bis Raul auf der Bildfläche erschienen war und Maxine begonnen hatte, sich von Anaïs zurückzuziehen. Dabei hatten sie da gerade das Dorf hinter sich gelassen und ihre erste eigene Wohnung bezogen. Alles hatte so toll angefangen. Freiheit und Großstadt! Anaïs sah Maxines Gesicht genau vor sich, die verdrehten Augen, wenn sie scherzhaft das Dorf gesagt hatte. In einem Ton, als wäre der unschuldige kleine Ort Schauplatz eines Gruselschockers.

Der Zug blieb in einem Provinzbahnhof stehen, der Anaïs nichts sagte und dessen Namen sie bei der Ausfahrt schon wieder vergessen hatte. Sie nahm einen Schluck Wasser, wischte sich die Krümel von der Hose und kuschelte sich erneut in die Ecke.

Dunkelheit. Sie klettert über einen Bretterzaun, ein altes Haus steht dahinter. Halbverfallen, die Tür ein schwarzes Loch in der Nacht. Zögernd tritt sie hindurch, tastet sich vorwärts. Der Boden gibt immer wieder nach, ist trügerisch, halb aufgerissen, sie muss aufpassen, dass sie nicht in Löcher tritt, die sie sofort verschlingen würden. Zugleich muss sie die ganze Zeit angestrengt in die Dunkelheit starren, aus der heraus sie Augen fixieren. Sie darf nicht wegschauen, sonst werden die Augen sofort über ihr sein. Und dann?

Sie hat Angst, der Schweiß bricht ihr aus. Sie will umkehren, aber etwas ruft sie. Plötzlich sieht sie ein Gesicht in der Dunkelheit schweben. Traurige Augen, der Mund formt jetzt ein lautloses Wort. Anaïs braucht es nicht zu hören, um es zu verstehen.

Ani, sagt der Mund. Ani. Pass auf, Ani!

Mama, will sie schreien, Mama, bleib da, aber sie bringt keinen Ton heraus. Mit aller Kraft versucht sie loszurennen, auf das Gesicht zu, doch ihre Füße stecken im Boden fest, einem Boden, der sie aufsaugt, in seine zähe Umklammerung ziehen will, umso erbarmungsloser, je heftiger sie dagegen ankämpft.

Und das Gesicht verblasst, die Augen werden blicklos, es bleibt nur die alles verschlingende Dunkelheit.

Anaïs fuhr auf, spürte den Schweiß feucht unter ihren Achseln, ihr Herz flatterte wie ein gefangener Vogel. Sie brauchte einen Moment, um sich zurechtzufinden. Nur ein Traum. Sie saß im Zug. Nur ein Traum. Und dann: Ani.

Warum war ihr das nicht gleich aufgefallen? Ani. Ihre Schwester hatte sie Ani genannt. Das war ihr Kindheitsname gewesen. Bis zum Tod der Eltern, danach war sie Anaïs geworden, da war kein Platz mehr für Kleinkindnamen gewesen. Leo hatte den Namen noch ein paarmal verwendet, dann aber auch damit aufgehört. Sie selbst hatte es nicht mehr gewollt.

Und jetzt das Telefonat. Plötzlich war der Name wieder da. Ani, hilf mir!

Und sie hatte es nicht einmal gemerkt. Vor lauter Aufregung - oder weil es an verschüttete Schrecken gerührt hatte, an jenen Moment, der so tief in ihr vergraben war, dass sie sogar die Erinnerung daran sofort verdrängt hatte. Ani. Mit dem Namen war ein Schmerz an die Oberfläche gekommen, so vertraut und abgetragen wie ein altes T-Shirt.

Chicas, das Böse und das Meer

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