Читать книгу Chicas, das Böse und das Meer - Fe Mars - Страница 13
10 Aber …
ОглавлениеInnsbruck, wenige Minuten Aufenthalt. Die drängenden Stimmen der Schaffner trieben die ein- und aussteigenden Reisenden zur Eile an, der Zug hatte beträchtliche Verspätung. Also würde sie weiter hungern müssen. Zum Glück setzte sich niemand zu ihr ins Abteil, sie hatte weder Lust auf Gesellschaft noch auf Small Talk.
Anaïs stand auf, streckte sich und warf einen Blick in den Gang. Der Rucksack des Jungen war fort, vielleicht war er ja ausgestiegen.
Sie schloss die Tür, ließ sich wieder auf ihren Sitz fallen und blickte dösend aus dem Fenster. Die Berge waren noch näher gerückt, wurden übergangslos zu dichten Nebelbänken, massive Schneewälle türmten sich auf beiden Seiten des Zugs. Es begann zu schneien.
Anaïs fröstelte, Kälte kroch ihr unangenehm in die Glieder. Während das Abteil nach München noch gnadenlos überhitzt gewesen war, schien die Heizung ihren Geist nun aufgegeben zu haben. Anaïs drehte an dem Regler, ohne dass die Temperatur sich merklich änderte.
Der Zug verlangsamte und fuhr in eine Station ein. Anaïs erhaschte einen Blick auf ein Schild: Brennero. Sie waren am Brenner, auch wenn es ihrer Vorstellung nach wie die Bahnstation von Wladiwostok aussah.
Zugtüren knallten, Bahnbeamte liefen hektisch durch die Gänge, in Diskussionen verstrickt. Anaïs versuchte einen von ihnen aufzuhalten, wurde aber mit einer ungeduldigen Handbewegung, der eine schnelle Salve Italienisch folgte, abgewimmelt. Ein wiederholtes No! war das Einzige, was sie verstand. Achselzuckend kehrte sie zurück in ihr Abteil.
Wie Maxine wohl unterwegs war? Mit Bahn und Flugzeug kaum, da hätte sie zu leicht auf ihre Situation aufmerksam machen und Hilfe organisieren können. Blieb das Auto. Ob sie mit ihren Entführern auch im Schnee steckte? Vielleicht, vielleicht auch nicht, je nachdem, wo sie gerade waren.
Anaïs hörte, wie in den Nachbarabteilen Türen aufgerissen und Stimmen laut wurden: Kaputt! - Umsteigen! - Nicht mehr weiter! Dann war der Schaffner bei ihr. „Technischer Defekt. Leider kann diese Zuggarnitur nicht weiterfahren. Bitte steigen Sie aus. Wir bemühen uns schnellstmöglich um einen Ersatz.“
„Was? Aber …“ Ohne auf Anaïs’ Protest zu achten, ging er weiter.
Seufzend packte sie ihren Rucksack und wickelte sich den Schal fester um den Hals. Vielleicht bekamen sie jetzt wenigstens einen geheizten Zug.
Auf dem Bahnsteig hatte sich eine verfrorene Gruppe Deutschsprachiger zusammengefunden. Die Atemluft stand ihnen in Wolken vor den Mündern. Einer der Männer schwang sich umgehend zum Rädelsführer auf, geschlossen nahm die Gruppe Kurs auf den einzigen offenen Fahrkartenschalter. Anaïs zögerte, blickte ihrem Zug hinterher, der langsam in Richtung Abstellgleis rollte. Für einen Moment hatte sie die unbehagliche Vision, hier für länger gestrandet zu sein. Hastig lief sie hinter der Gruppe her.
Am Schalter war bereits eine fruchtlose Diskussion im Gang. Der Schalterbeamte gestikulierte unfreundlich, keiner aus der Gruppe sprach wirklich Italienisch. Anaïs überlegte gerade, ob ihre paar Brocken von Nutzen sein konnten, da drängte sich der Junge mit der Gitarre an ihr vorbei zu dem Beamten. Nach einem kurzen Wortwechsel drehte er sich zur Gruppe. „Unser Zug hatte einen Defekt in der Elektrik, darum auch keine Heizung, wem es aufgefallen ist. In circa zwanzig Minuten geht ein anderer Zug von hier nach Verona, auf den werden sie uns verteilen. Dort müssen wir dann alle umsteigen. Falls es Züge gibt, heißt das.“
„Aber was wird denn jetzt mit unseren Platzkarten? Sollen wir uns dann einfach irgendwohin setzen oder was? Ich habe die extra bezahlt!“ – „Das können die doch nicht machen! Einfach so!“ – „Sei froh, wenn wir hier überhaupt wieder wegkommen! Aufregen nützt da auch nichts!“ Die Stimmen schwirrten empört durcheinander.
Was für ein Theater! Als würde man sich mit so einer Fahrkarte das Recht auf ein reibungsloses Stück Leben erwerben: Von hier nach da ohne Probleme und ohne Verzögerungen, denn dafür habe ich bezahlt. Träumt weiter! Sie, Anaïs, würde lieber schauen, ob sie hier irgendwo einen Kaffee bekam. Schräg gegenüber sah sie Teile eines Gebäudekomplexes durch den Nebel schimmern, überdimensional und mit bunten Logos, wohl ein Shoppingzentrum. Die Vorstellung, in dieses schneeumtoste Niemandsland zu fahren, um zu shoppen, erschien ihr gespenstisch. Ob es wirklich Leute gab, die das machten?
Sie drückte sich durch die nächste Tür, über der das Wort Buffet stand, trat sich die Schuhe ab und schüttelte den Schnee von der Kapuze. Es roch leicht nach altem Fett, schalem Wein, feuchten Kleidern und Kaffee - zusammen mit Licht und Wärme direkt heimelig. Hinter einer Glasvitrine lagen dunkle Brote mit Speck und auf einem Glasteller frische Croissants. Der Junge mit der Gitarre stand bei der Kasse und fingerte in einem kleinen Lederbeutel nach Münzen. Anaïs stellte sich hinter ihm an.
Wie mühelos er vorher mit dem Schalterbeamten debattiert hatte. „Du bist wohl Italiener?“ Es rutschte ihr heraus, bevor sie noch überlegen konnte.
„Was?“ Der Junge fuhr herum, fragende grüne Augen, die sich bei ihrem Anblick verdunkelten, als wäre ein Vorhang gefallen. Mit einem Mal sprach Zurückhaltung aus seinem Blick. Und Wachsamkeit? Warum bloß? Er drehte den Kopf zur Seite, als wollte er nicht, dass Anaïs ihn anblickte. Eine Münze klimperte zu Boden, rollte unter die Theke und er bückte sich, sie aufzuheben.
„Warum denkst du das?“ Er schien sich gefangen zu haben, auch wenn sein Blick keine Spur freundlicher war.
„Sorry! Ich wollte dich nicht erschrecken! Ich dachte nur, so wie du mit dem am Schalter geredet hast …“
„Ach so. Nein.“
„Was, nein?“
„Ich bin kein Italiener.“ Er wandte sich ab und nahm seinen Kaffee entgegen.
„Und?“ Der Mann hinter der Theke hob fragend die Augenbrauen, wobei er Anaïs nicht wirklich anblickte, sondern auf ihre zwei Dreads starrte, die ihr seitlich über die Schulter nach vorne fielen.
„Einen Cappuccino, bitte und haben Sie auch irgendwas ohne Speck?“
Der Mann zuckte die Achseln und deutete wortlos auf die Croissants.
„Na ja, okay. Eines bitte.“ Schweigend zählte sie das Geld ab und nahm ihre Bestellung in Empfang. Die Tasse fühlte sich belebend warm an in ihren kalten Händen. Als sie sich umdrehte, war der junge Mann verschwunden.
Bis sie wieder zum Bahnsteig kam, war der Zug bereits eingefahren. Eine Frau in Bahndienstkleidung und dickem Anorak dirigierte sie in den nächsten Großraumwagen. Sie erkannte ein paar Leute aus ihrer vorherigen Gruppe, die es sich dort gemütlich machten. Der Zug war voll, die meisten Plätze, die noch frei waren, schienen reserviert. Anaïs bekam gerade noch einen Platz in der Ecke neben einer Tür. Nicht sehr komfortabel, aber zumindest ungestört. Sie verstaute ihren Rucksack, ließ sich auf ihren Platz fallen und streckte die Füße unter den leeren Sitz gegenüber.
Wärme, Licht, Menschen, verhaltene Gespräche, die Bewegung des Zuges, der schnell Fahrt aufnahm – Anaïs atmete tief durch und schloss die Augen. Sie war in Italien, so weit hatte sie es erst mal geschafft.
Die Hydraulik der Tür zischte und Anaïs hörte die Stimme der jungen Bahnbeamtin, die neben ihr zum Halt kam. Da war wohl noch jemand ohne Platz. Schade, sie hatte sich ganz wohl gefühlt, so alleine in der Ecke. Ein Gepäckstück kratzte auf die Ablage über ihr. Anaïs konnte nur mit Mühe ein Seufzen unterdrücken. Das war’s dann wohl mit ihrer Privacy. Widerstrebend öffnete sie die Augen. Der Junge mit der Gitarre sah nicht glücklicher aus als sie, im Gegenteil: Er wirkte, als hätte er am liebsten die Flucht ergriffen.
„Ist sonst nichts mehr frei?“ Anaïs zog die Beine ein und rückte weiter in die Ecke.
Der Junge zuckte nur die Achseln, ohne zu antworten. Er stellte die Gitarre zwischen sich und Anaïs und warf sich auf den Platz gegenüber. Anaïs verschränkte die Arme und blickte aus dem Fenster, spürte aber, dass die Blicke des jungen Mannes sie immer wieder streiften.
„Was?“, fragte sie ungehalten und sah ihn direkt an.
Er zuckte zusammen. „Was meinst du mit was?“
„Du hast die Stirn gerunzelt und mich angestarrt, als wolltest du etwas sagen.“
„Ich? Quatsch! Ich hab dich weder angestarrt noch wollte ich etwas zu dir sagen.“
„Dann eben nicht.“ Anaïs schloss die Augen.