Читать книгу Chicas, das Böse und das Meer - Fe Mars - Страница 4
1 Wo
ОглавлениеWenn sie früh genug lief, war nichts zu hören als das Geräusch ihrer Turnschuhe auf dem Asphalt. Anaïs mochte das: die kurzen, trockenen Schallwellen, ihr abruptes Verstummen. Der Rhythmus ihrer Schritte zwischen den Häuserschluchten. Sie mochte die Einsamkeit dieses Geräuschs.
Während sich das bleiche Morgenlicht über die Dächer schob, hatte sie das Gefühl, ganz für sich allein zu sein. Das Gefühl, dass keiner sie sah, keiner etwas von ihr wollte. Freiheit.
So war es zumindest normalerweise. Nicht heute. Sie ertappte sich dabei, dass sie konzentriert lauschte.
Eine Taube segelte fast im Sturzflug vor ihr zu Boden, landete und machte ein paar tollpatschige Hopser. Das Muster ihrer Federn glich dem des Himmels, über dessen immer heller werdendes Grau sich nun rosige Streifen schoben. Mit einem kurzen Schwenk wich Anaïs dem Vogel aus.
Wieder dieses Gefühl. Anaïs blieb abrupt stehen und drehte sich um, ihr Herz klopfte plötzlich wild.
Jemand war hinter ihr, sie spürte es. Das war in den letzten Tagen schon ein paarmal so gewesen.
Auf dem kümmerlichen Grünstreifen weiter unten an der Straße konnte sie einen Mann mit seinem Hund erkennen. Er kehrte ihr den Rücken zu mit hängenden Schultern, die Hände in den Taschen vergraben. Von irgendwoher drang das Rumpeln einer Kehrmaschine. Sonst war da nichts. Und niemand. Vielleicht machte der Schlafentzug sie paranoid? Sie hatte letzte Nacht höchstens drei Stunden geschlafen. Im Hinterraum vom Blitz, dem Club, in dem sie öfters als DJane arbeitete. Sie fühlte sich aufgekratzt, leicht betäubt, schwerelos im Kopf. Wolkenhirn.
Anaïs schüttelte den Kopf, versuchte ihn freizuschütteln. Da war nichts! Seit wann war sie so ängstlich? Sie zuckte die Achseln und lief weiter.
Sie nahm die Abkürzung durch die Gärten in den Hof ihres Wohnhauses. Vorbei an den Müllcontainern und durch den Hintereingang. Sie mochte das alte Gebäude mit den hohen Räumen und dem Stuck an den Decken. Es schien so stabil.
Seit acht Monaten wohnten sie jetzt hier in München, sie und Maxine, die große Schwester, und immer noch war es fast ein Gefühl wie Weihnachten, wenn sie nach Hause kam. Anaïs’ Schritte hallten in dem leeren Stiegenhaus. Leise sperrte sie die Wohnungstür auf, hielt dabei die Schlüssel in der Faust, damit sie nicht klimperten. Um Maxine nicht zu wecken. Falls sie da war. In letzter Zeit war das nicht mehr so sicher. Seit sie den neuen Freund hatte.
Aber ja! Maxines Stiefel standen in der Garderobe, ihr Anorak hing darüber. Anaïs schlüpfte aus ihren Schuhen, warf die Jacke über den Haken und ging auf Strümpfen in die Küche. Das Geschirr vom Vortag war gespült. Gute Maxine. Wenn sie nicht immer für Ordnung sorgen würde!
Einen Moment lang betrachtete Anaïs versonnen die Kaffeemaschine, dann holte sie die Dose mit den Greens aus dem Kühlschrank. Sie maß einen Löffel voll in ein Glas und ließ Wasser darauf laufen. Sie liebte das unglaublich saftige Grün des Getränks. Wie Frühling. Während es draußen gerade Winter wurde.
Wenigstens war heute ein Abglanz von Licht zu sehen, aber im Spätherbst und Winter, wenn die Sonne manchmal wochenlang nicht schien, war die ganze Stadt grau. Die fahle Farbe verschlang irgendwann alles. Sogar Anaïs selbst.
Anaïs betrachtete ihr diffus gespiegeltes Abbild in der Fensterscheibe. Ihre Augen? Hellgrau. Das Haar? Aschblond. Die Spitzen waren noch heller und die beiden Dreads sowieso ausgebleicht. Vielleicht sollte sie ihr Haar einfach weizengrasgrün färben. Mit einem Seufzer drehte Anaïs sich zum Küchentisch, ließ sich auf einen der Stühle fallen und legte die Füße auf die Bank.
Sollte sie sich doch einen Kaffee machen und sich erst gar nicht mehr hinlegen? Geistesabwesend hob sie ein vergilbtes Stück Zeitungspapier auf, das auf dem Tisch lag. Wie die Zeitung von heute sah das nicht aus. Sie warf einen genaueren Blick auf das Datum. Das Blatt war vierzehn Jahre alt, vom neunten Oktober. Im ersten Moment kam ihr das Datum nur vage bekannt vor, dann streifte es sie wie ein kleiner Schock. Natürlich. Das Todesdatum ihrer Eltern: der siebte Oktober. Das war die Zeitung von damals mit der Todesanzeige. Maxine musste an dem verstaubten Karton mit den alten Fotos gewesen sein.
Anaïs verzichtete darauf, das Doppelblatt aufzuschlagen, faltete es stattdessen noch einmal sorgfältig in der Mitte zusammen. Es war zu früh am Morgen, um sich den Erinnerungen zu stellen.
Warum Maxine wohl an der Familienkiste gewesen war? Früher hatte sie das manchmal getan, wenn sie sich mit der Beschützerrolle, in die sie nach dem Tod der Eltern geschlüpft war, und mit der Verantwortung für die kleine Schwester überfordert gefühlt hatte. Ratsuchend hatte sie dann in die lächelnden, papierenen, nicht mehr alternden Gesichter der Eltern gestarrt. Maxine war damals ja selbst noch ein Kind gewesen, nur drei Jahre älter als Anaïs. Natürlich hatte es auch Leo gegeben, ihren Großvater, bei dem sie danach gelebt hatten. Trotzdem, Maxine hatte sich verantwortlich gefühlt. Immer. Vermutlich würde sich das nie ändern.
Konnten einem alte Fotos und Briefe denn helfen? Sie, Anaïs, wurde nur traurig davon. Aber für Maxine war das anscheinend anders. Nun, jeder musste selbst wissen, was ihn stark machte.
Sachte legte Anaïs das Zeitungsblatt zurück auf den Tisch. Was Maxine wohl gerade für ein Problem hatte? Zum Vergnügen hatte sie bestimmt nicht in dem Karton gekramt, das war sicher.