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Die Ilias der Barone
ОглавлениеUnter den Adligen stieß der päpstliche Appell auf breiteste Zustimmung. Urbans Hauptsorge galt der Neuordnung der Kirche, die geschwächt und zerrissen aus dem Kampf mit dem Kaiserreich hervorgegangen war. Mit seinen Vorschriften gegen einen wahllosen massenhaften Aufbruch – so mussten etwa Geistliche die Zustimmung ihrer Oberen einholen, Eheleute die ihrer Angetrauten – war der Papst darauf bedacht, die soziale Ordnung zu wahren und das Neue in die Tradition einzubetten. Deshalb hatte er mit solcher Dringlichkeit auf die Mächtigen eingewirkt, damit sie seine Sache zur ihren machen und den Gehorsam gegenüber dem Kaiser aufgeben würden. Sie also sollten die Unternehmung anführen. Die ersten Kontingente von Edelleuten setzten sich im Sommer 1096 in Bewegung, angeführt von einigen der bekanntesten Namen der damaligen Christenheit. Der einflussreichste unter ihnen war zweifellos Hugo von Vermandois – Bruder des seinerzeit wegen Bigamie exkommunizierten Königs Philipp I. von Frankreich –, der an der Spitze eigener Truppen, die aus der Region um Paris kamen, die italienische Halbinsel durchquerte, mit einigen Schwierigkeiten den Kanal von Otranto passierte und im Oktober Konstantinopel erreichte. Gottfried von Bouillon, Herzog von Niederlothringen, verließ seine Lande im August zusammen mit seinem älteren Bruder Eustach und seinem jüngeren Bruder Balduin und erreichte, indem er dem Lauf der Donau folgte, kurz vor Weihnachten den Bosporus. Ihnen folgte Bohemund von Hauteville, Sohn von Robert Guiscard, der mit seinem Vetter Tankred aus dem eben noch belagerten Amalfi aufbrach. Über Norditalien und die Balkanküste der Adria stießen Raimund von Saint-Gilles, Graf von Toulouse, und mit ihm Adhémar, Bischof von Le Puy und päpstlicher Legat, als Befehlshaber der Truppen aus der Provence und der Auvergne dazu.
Die Letzten, die am Hof von Alexios I. eintrafen, waren Graf Robert II. von Flandern und der Herzog der Normandie, der ebenfalls Robert hieß, den Beinamen »Curtehose« (Kurzhose) trug und der Sohn von Wilhelm dem Eroberer war. Begleitet wurden sie von einem weiteren Legaten, Arnulf von Chocques, dem Kaplan des Herzogs, sowie dem betagten und vermögenden Grafen Stephan von Chartres, der sich ebenfalls in Begleitung eines Legaten, seines Kaplans Alexander, befand. Man kann sich die Besorgnis am kaiserlichen Hof vorstellen, als die Nachricht von der Ankunft einer so großen Schar von »Barbaren« eintraf – wie Alexios’ Tochter Anna Komnena sie in ihrer Alexiade bezeichnete –, vor allem nach den Unruhen, die die pauperes unter der Führung von Petrus von Amiens gestiftet hatten. Zudem ließ es ihr Auftreten sehr an Disziplin fehlen, noch waren ihre Absichten eindeutig. Alexios überhäufte sie mit Ehren und Geschenken, gab ihnen aber zu verstehen, dass er sie als in seinen Diensten stehend betrachtete, und zwang sie zu einem Treueeid. Damit mussten sie sich verpflichten, sämtliche eroberten Städte, die einmal Byzanz gehört hatten, an das Kaiserreich abzutreten, wobei der Kaiser selbstredend im Gegenzug Vorräte und Hilfstruppen zusicherte. Anschließend expedierte er sie eilig über den »Arm des heiligen Georg« an die Küste Kleinasiens. Nicht alle schworen den Eid bereitwillig: Sowohl Gottfried von Bouillon als auch Raimund von Saint-Gilles sträubten sich anfangs ziemlich, wobei Letzterer sich am Ende darauf beschränkte zu schwören, dass er Alexios keinen Schaden zufügen werde. Tankred, der die byzantinischen Waffen zu spüren bekommen hatte, als er im Februar von einer Gruppe von Turkopolen – der leichten Kavallerie im Sold der byzantinischen Armee – angegriffen worden war, während er gerade mit der Nachhut durch einen Fluss watete, zog es vor, als Fußsoldat verkleidet den Bosporus zu überqueren, ohne den Eid zu leisten. Bohemund hingegen, den wahrscheinlich die Absicht leitete, die seit über einem Jahrzehnt abgerissenen Beziehungen zu kitten – zwischen 1082 und 1084 waren der Fürst und der Kaiser wiederholt aneinandergeraten –, zeigte sich ausgesprochen gefügig.
Kupferstich nach Merry-Joseph Blondel, Bohemund I. von Antiochia, 1843, Schloss Versailles, Salles des Croisades.
Die Figuren auf diesem Kapitell aus Clermont (12. Jh.) stellen den Kampf zwischen Tugenden und Lastern (zwischen christlichem Glauben und heidnischem Götzendienst) nach der Psychomachia des Prudentius (5. Jh.) dar.
Welche Beweggründe trieben diese illustre Adelsgesellschaft an? Das Rückgrat der Expedition bildeten nicht nur kleine Ritter, die aufgrund der Unteilbarkeit des Lehens nach fränkischem Recht keinen Zugang zum angestammten Erbe hatten und daher gezwungen waren, ihr Glück zu suchen, indem sie ihr Schwert in den Dienst eines Fürsten stellten. Auch wenn solche Leute gewiss darunter waren – Tatsache ist auch, dass am iter hierosolymitanum die Crème de la Crème der europäischen Feudalgesellschaft teilnahm. Sie kamen aus ebenjenen Ländern, in denen die demographische, soziale und wirtschaftliche Entwicklung am dynamischsten war: Flandern, Lothringen, Provence. Wie erklärt es sich, dass sie ihre jeweiligen Herrschaftsgebiete verließen? Es war wohl so, dass die Initiative des Papstes die Hauptprobleme der damaligen Feudalherrschaft schonungslos aufdeckte. Mit immer schwierigeren Beziehungen zu ihren Städten konfrontiert, unfähig, den sich vollziehenden Wandel zu verstehen, hatten jene mächtigen Barone jeweils ihre eigenen unmittelbaren und konkreten Gründe, andernorts neue Herausforderungen zu suchen. Auf Gottfried von Bouillon lastete die schwere Hypothek seiner politischen Vergangenheit, da er einer der glühendsten Unterstützer Heinrichs IV. gewesen war. Bei ihm handelte es sich also mehr oder weniger unverhüllt um eine peregrinatio poenitentialis, eine Wiedergutmachung für das an der Kirche Urbans verübte Unrecht. Robert, Herzog der Normandie, hingegen stand im Zwist mit seinem jüngeren Bruder Wilhelm, dem König von England, der dennoch bereit war, ihn mit 10 000 Mark zu unterstützen, im Austausch gegen die vorübergehende Abtretung seines Herzogtums. Raimund von Saint-Gilles dagegen wurde dermaßen bedrängt von Herzog Wilhelm IX. von Aquitanien, der im Namen seiner Ehefrau Philippa Ansprüche auf die von Raimund kontrollierten toulousanischen Gebiete geltend machte, dass er gelobte, nicht mehr in die Heimat zurückzukehren. Bohemund von Hauteville schließlich war von seinem Halbbruder Roger Borsa, Herzog von Apulien und Kalabrien, und seinem Onkel Roger I. von Sizilien marginalisiert worden und hegte keinerlei Hoffnung auf Wiedergutmachung. In ihrem Gefolge marschierten Männer, die ihnen durch Treuebündnisse oder auch Verwandtschaft verbunden waren und in ihrer Loyalität auf eine harte Probe gestellt wurden. Rein wirtschaftliche Beweggründe trieben nur eine überschaubare Zahl unter den Streitern an, für die eine solche Reise vielmehr ausgesprochen kostspielig war. Viele Kreuzfahrer ließen sich vom Sühnecharakter der Reise leiten, was nahelag angesichts ihrer Ausübung einer militärischen Profession, deren Sündhaftigkeit evident war. Andere hegten ritterliche Aspirationen und träumten davon, ihren Familien Ehre zu machen, indem sie eine verdienstvolle Tat verrichteten, wie sie die Verteidigung jener Stätten darstellte, an denen Christus gewirkt hatte. Dies sollte in der Folgezeit regelrechte Kreuzfahrerdynastien begründen, in denen der Beitrag der Vorfahren durch die eigene Teilnahme am Kreuzzug geehrt wurde. Insgesamt kann man wohl festhalten, dass zwar einige am Ende von der Eroberung der syrisch-palästinensischen Küste materiell profitierten, die meisten von ihnen jedoch mit nichts als hohen Schulden, ein paar Verletzungen und einer guten Geschichte heimkehrten.
Die Truppen der Barone bestanden nicht nur aus Kämpfern. Unter das Gefolge hatten sich Akolythen unterschiedlicher Art gemischt: Kaufleute, Handwerker, Geistliche, von denen viele sich erst im Verlauf der Reise dem Zug anschlossen. Wie viele Pilger es waren, ist schwer zu sagen. Zwischen 1099 und 1131 wurden nur 791 namentlich verzeichnet, und die Schätzungen sind unsicher und willkürlich. Die einzigen Quellen, die Zahlenangaben liefern, sind die Chroniken. Deren Zahlen sind jedoch generisch, in der Regel übertrieben und folgen symbolischen Mustern. Machten sich, wie heute angenommen wird, an die 100 000 Personen auf den Weg? Unwahrscheinlich. Einige zehntausend Menschen ist wohl eine zuverlässigere Schätzung. Das Problem liegt nicht zuletzt darin, dass die Quellen sich hauptsächlich mit den Anführern und den Kriegern beschäftigen und darauf verzichten, das Verhältnis zwischen Kämpfern zu Pferd und pedites anzugeben. Darüber hinaus wird jede Zahl durch den Umstand verfälscht, dass viele sich dem Unternehmen erst entlang des Weges anschlossen und viele andere es wieder verließen, die Gefallenen natürlich nicht mitgerechnet. Im Großen und Ganzen gab es jedenfalls nicht den einen Grund, sich das Kreuz an die rechte Schulter zu heften, was nicht selten mit dramatischer Geste geschah: Bohemund zum Beispiel zerriss dabei seinen kostbaren Mantel aus Seide. Möglicherweise kamen bei den einzelnen Pilgern oder Kämpfern verschiedene Beweggründe zusammen, die alle in irgendeiner Weise mit der Anziehungskraft zusammenhingen, die von der Praxis der Buße in der damaligen Gesellschaft ausging. Wir müssen diese erste Jerusalemexpedition folglich als eine Art bewaffnete Pilgerfahrt betrachten – eine Neuheit in der Religiosität dieser Zeit. Durch sie fand der Laienstand einen angemessenen Platz in der Heilsgeschichte, wenn auch unter der Ägide der Kirche – insbesondere des Papsttums, das seinen Primat gegenüber den übrigen Bischöfen der Christenheit erfolgreich durchsetzen konnte.